Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

seyn darf, da die Untersuchung sich noch mit der einfachen, kampflosen
Schönheit beschäftigt. Allein es sind zwei ganz verschiedene Fragen: ob
die aus der Wirklichkeit des ethischen Lebens aufgenommene Nothwendigkeit
dieses Kampfes das Schöne nicht unmöglich mache? und: ob das Schöne
nicht gemäß seinem eigenen Gesetze und Interesse das Schauspiel desselben
hervorrufe? Die erstere Frage liegt hier vor, die zweite ist erst später
aufzuwerfen und dann erst heißt dieser Kampf tragisch und komisch. Hier
handelt es sich nur um die Wahrheit, daß die Individualität sich ver-
nichtet, wenn sie sich gegen die Allgemeinheit sträubt, und daß die All-
gemeinheit, wenn sie als äußere geistlose Macht beharren will, der
Individualität zum Spiele wird, daß also in beiden Fällen der Widerstand
sich rächt zum Beweise der absoluten Einheit beider Momente, daß daher
das Schöne, das eben in dieser Einheit beruht, durch diesen Kampf
kein Hinderniß seiner Existenz findet.

§. 51.

Wie vollkommen aber die Allgemeinheit der Gattung das Individuum
durchdringt, das Band ist dennoch kein bleibendes. Das Individuum geht
unter, die Gattung dauert. Das Schöne ist aber, wie aus §. 13 folgt, eine
Verewigung des Individuums. Allein da die Gattung das Individuum zwar
überdauert, aber doch nur im Individuum wirklich ist, so verewigt der Tod
selbst, wenn er nur aus seinem Verhältniß zur Gattung rein hervorgeht, das
Individuum, denn es kommt in ihm die Wahrheit zum Ausdruck, daß die
reine Bedeutung des Individuums aufbewahrt im Leben der Gattung seine
zeitliche Existenz überlebt.

"Wenn der Tod aus dem Verhältniß des Individuums zur Gattung
rein hervorgeht," d. h. wenn nicht Zufälligkeit in dem Sinne sich
einmischt, in welchem sie sofort wieder aufzuführen ist, wenn vielmehr
das Individuum entweder als Naturwesen stirbt, weil nach natürlicher
Ordnung seine Lebenskraft sich erschöpft hat, oder wenn es als geistiges
Wesen im Dienste einer Gattung im höheren Sinne, nämlich einer
geistigen Macht, sein Leben opfert. In beiden Fällen vollführt es den
Kreis der in ihm liegenden Wirkungen so, daß es sich in ihnen überlebt.
Rückerts sinnvolles Gedicht "Die sterbende Blume" spricht diese Wahrheit
aus. Die Gattung als sinnlicher Typus wie als sittliche Sphäre
überdauert das Individuum, aber nur in neuen Individuen. Sie ist

ſeyn darf, da die Unterſuchung ſich noch mit der einfachen, kampfloſen
Schönheit beſchäftigt. Allein es ſind zwei ganz verſchiedene Fragen: ob
die aus der Wirklichkeit des ethiſchen Lebens aufgenommene Nothwendigkeit
dieſes Kampfes das Schöne nicht unmöglich mache? und: ob das Schöne
nicht gemäß ſeinem eigenen Geſetze und Intereſſe das Schauſpiel desſelben
hervorrufe? Die erſtere Frage liegt hier vor, die zweite iſt erſt ſpäter
aufzuwerfen und dann erſt heißt dieſer Kampf tragiſch und komiſch. Hier
handelt es ſich nur um die Wahrheit, daß die Individualität ſich ver-
nichtet, wenn ſie ſich gegen die Allgemeinheit ſträubt, und daß die All-
gemeinheit, wenn ſie als äußere geiſtloſe Macht beharren will, der
Individualität zum Spiele wird, daß alſo in beiden Fällen der Widerſtand
ſich rächt zum Beweiſe der abſoluten Einheit beider Momente, daß daher
das Schöne, das eben in dieſer Einheit beruht, durch dieſen Kampf
kein Hinderniß ſeiner Exiſtenz findet.

§. 51.

Wie vollkommen aber die Allgemeinheit der Gattung das Individuum
durchdringt, das Band iſt dennoch kein bleibendes. Das Individuum geht
unter, die Gattung dauert. Das Schöne iſt aber, wie aus §. 13 folgt, eine
Verewigung des Individuums. Allein da die Gattung das Individuum zwar
überdauert, aber doch nur im Individuum wirklich iſt, ſo verewigt der Tod
ſelbſt, wenn er nur aus ſeinem Verhältniß zur Gattung rein hervorgeht, das
Individuum, denn es kommt in ihm die Wahrheit zum Ausdruck, daß die
reine Bedeutung des Individuums aufbewahrt im Leben der Gattung ſeine
zeitliche Exiſtenz überlebt.

„Wenn der Tod aus dem Verhältniß des Individuums zur Gattung
rein hervorgeht,“ d. h. wenn nicht Zufälligkeit in dem Sinne ſich
einmiſcht, in welchem ſie ſofort wieder aufzuführen iſt, wenn vielmehr
das Individuum entweder als Naturweſen ſtirbt, weil nach natürlicher
Ordnung ſeine Lebenskraft ſich erſchöpft hat, oder wenn es als geiſtiges
Weſen im Dienſte einer Gattung im höheren Sinne, nämlich einer
geiſtigen Macht, ſein Leben opfert. In beiden Fällen vollführt es den
Kreis der in ihm liegenden Wirkungen ſo, daß es ſich in ihnen überlebt.
Rückerts ſinnvolles Gedicht „Die ſterbende Blume“ ſpricht dieſe Wahrheit
aus. Die Gattung als ſinnlicher Typus wie als ſittliche Sphäre
überdauert das Individuum, aber nur in neuen Individuen. Sie iſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0155" n="141"/>
&#x017F;eyn darf, da die Unter&#x017F;uchung &#x017F;ich noch mit der einfachen, kampflo&#x017F;en<lb/>
Schönheit be&#x017F;chäftigt. Allein es &#x017F;ind zwei ganz ver&#x017F;chiedene Fragen: ob<lb/>
die aus der Wirklichkeit des ethi&#x017F;chen Lebens aufgenommene Nothwendigkeit<lb/>
die&#x017F;es Kampfes das Schöne nicht unmöglich mache? und: ob das Schöne<lb/>
nicht gemäß &#x017F;einem eigenen Ge&#x017F;etze und Intere&#x017F;&#x017F;e das Schau&#x017F;piel des&#x017F;elben<lb/>
hervorrufe? Die er&#x017F;tere Frage liegt hier vor, die zweite i&#x017F;t er&#x017F;t &#x017F;päter<lb/>
aufzuwerfen und dann er&#x017F;t heißt die&#x017F;er Kampf tragi&#x017F;ch und komi&#x017F;ch. Hier<lb/>
handelt es &#x017F;ich nur um die Wahrheit, daß die Individualität &#x017F;ich ver-<lb/>
nichtet, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich gegen die Allgemeinheit &#x017F;träubt, und daß die All-<lb/>
gemeinheit, wenn &#x017F;ie als äußere gei&#x017F;tlo&#x017F;e Macht beharren will, der<lb/>
Individualität zum Spiele wird, daß al&#x017F;o in beiden Fällen der Wider&#x017F;tand<lb/>
&#x017F;ich rächt zum Bewei&#x017F;e der ab&#x017F;oluten Einheit beider Momente, daß daher<lb/>
das Schöne, das eben in die&#x017F;er Einheit beruht, durch die&#x017F;en Kampf<lb/>
kein Hinderniß &#x017F;einer Exi&#x017F;tenz findet.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 51.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Wie vollkommen aber die Allgemeinheit der Gattung das Individuum<lb/>
durchdringt, das Band i&#x017F;t dennoch kein bleibendes. Das Individuum geht<lb/>
unter, die Gattung dauert. Das Schöne i&#x017F;t aber, wie aus §. 13 folgt, eine<lb/>
Verewigung des Individuums. Allein da die Gattung das Individuum zwar<lb/>
überdauert, aber doch nur im Individuum wirklich i&#x017F;t, &#x017F;o verewigt der Tod<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, wenn er nur aus &#x017F;einem Verhältniß zur Gattung rein hervorgeht, das<lb/>
Individuum, denn es kommt in ihm die Wahrheit zum Ausdruck, daß die<lb/>
reine Bedeutung des Individuums aufbewahrt im Leben der Gattung &#x017F;eine<lb/>
zeitliche Exi&#x017F;tenz überlebt.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Wenn der Tod aus dem Verhältniß des Individuums zur Gattung<lb/>
rein hervorgeht,&#x201C; d. h. wenn nicht Zufälligkeit in dem Sinne &#x017F;ich<lb/>
einmi&#x017F;cht, in welchem &#x017F;ie &#x017F;ofort wieder aufzuführen i&#x017F;t, wenn vielmehr<lb/>
das Individuum entweder als Naturwe&#x017F;en &#x017F;tirbt, weil nach natürlicher<lb/>
Ordnung &#x017F;eine Lebenskraft &#x017F;ich er&#x017F;chöpft hat, oder wenn es als gei&#x017F;tiges<lb/>
We&#x017F;en im Dien&#x017F;te einer Gattung im höheren Sinne, nämlich einer<lb/>
gei&#x017F;tigen Macht, &#x017F;ein Leben opfert. In beiden Fällen vollführt es den<lb/>
Kreis der in ihm liegenden Wirkungen &#x017F;o, daß es &#x017F;ich in ihnen überlebt.<lb/><hi rendition="#g">Rückerts</hi> &#x017F;innvolles Gedicht &#x201E;Die &#x017F;terbende Blume&#x201C; &#x017F;pricht die&#x017F;e Wahrheit<lb/>
aus. Die Gattung als &#x017F;innlicher Typus wie als &#x017F;ittliche Sphäre<lb/>
überdauert das Individuum, aber nur in neuen Individuen. Sie i&#x017F;t<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0155] ſeyn darf, da die Unterſuchung ſich noch mit der einfachen, kampfloſen Schönheit beſchäftigt. Allein es ſind zwei ganz verſchiedene Fragen: ob die aus der Wirklichkeit des ethiſchen Lebens aufgenommene Nothwendigkeit dieſes Kampfes das Schöne nicht unmöglich mache? und: ob das Schöne nicht gemäß ſeinem eigenen Geſetze und Intereſſe das Schauſpiel desſelben hervorrufe? Die erſtere Frage liegt hier vor, die zweite iſt erſt ſpäter aufzuwerfen und dann erſt heißt dieſer Kampf tragiſch und komiſch. Hier handelt es ſich nur um die Wahrheit, daß die Individualität ſich ver- nichtet, wenn ſie ſich gegen die Allgemeinheit ſträubt, und daß die All- gemeinheit, wenn ſie als äußere geiſtloſe Macht beharren will, der Individualität zum Spiele wird, daß alſo in beiden Fällen der Widerſtand ſich rächt zum Beweiſe der abſoluten Einheit beider Momente, daß daher das Schöne, das eben in dieſer Einheit beruht, durch dieſen Kampf kein Hinderniß ſeiner Exiſtenz findet. §. 51. Wie vollkommen aber die Allgemeinheit der Gattung das Individuum durchdringt, das Band iſt dennoch kein bleibendes. Das Individuum geht unter, die Gattung dauert. Das Schöne iſt aber, wie aus §. 13 folgt, eine Verewigung des Individuums. Allein da die Gattung das Individuum zwar überdauert, aber doch nur im Individuum wirklich iſt, ſo verewigt der Tod ſelbſt, wenn er nur aus ſeinem Verhältniß zur Gattung rein hervorgeht, das Individuum, denn es kommt in ihm die Wahrheit zum Ausdruck, daß die reine Bedeutung des Individuums aufbewahrt im Leben der Gattung ſeine zeitliche Exiſtenz überlebt. „Wenn der Tod aus dem Verhältniß des Individuums zur Gattung rein hervorgeht,“ d. h. wenn nicht Zufälligkeit in dem Sinne ſich einmiſcht, in welchem ſie ſofort wieder aufzuführen iſt, wenn vielmehr das Individuum entweder als Naturweſen ſtirbt, weil nach natürlicher Ordnung ſeine Lebenskraft ſich erſchöpft hat, oder wenn es als geiſtiges Weſen im Dienſte einer Gattung im höheren Sinne, nämlich einer geiſtigen Macht, ſein Leben opfert. In beiden Fällen vollführt es den Kreis der in ihm liegenden Wirkungen ſo, daß es ſich in ihnen überlebt. Rückerts ſinnvolles Gedicht „Die ſterbende Blume“ ſpricht dieſe Wahrheit aus. Die Gattung als ſinnlicher Typus wie als ſittliche Sphäre überdauert das Individuum, aber nur in neuen Individuen. Sie iſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/155
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/155>, abgerufen am 23.11.2024.