wodurch die Gestalt dem Einflusse des störenden Zufalls verfällt, durch jene Zusam- menziehung (§. 53) unschädlich gemacht ist. Diese beiden Bedeutungen fassen sich in dem Begriff zusammen, daß das Schöne reines Formwesen ist. Nicht die be-2 stimmte Idee, welche in der Gestalt zum Ausdruck kommt, wird unter dem Stoffe verstanden: diese heißt nicht Stoff, sondern Inhalt; gerade sie ist es, welche aus der zu solcher Durchsichtigkeit geläuterten Gestalt hervorleuchtet und ihr, indem sie selbst nur eine Stufe der absoluten Idee ist, die Bedeutung eines Weltalls gibt. Anderes als dies nun ist über die Vereinigung der durch die Gattung gegebenen3 Regel und der Individualität im Schönen (vgl. §. 35--38) nicht festzustellen: jene ist das Gesetz, durch welches die störende Form des Zufalls (§. 52) ausgereinigt wird, diese umfließt die Regel mit der spielenden Linie der berechtigten Formen des Zufalls (§. 47--51), und beide befreiten sich zur reinen Form, d. h. der ganz zur Gestalt gewordenen Idee und der von allem blosen Stoffe zum vollen Ausdruck der individualisirten Idee befreiten Gestalt. Diese Einheit ist als eine dem Schönen spezifisch eigene wohl zu unterscheiden von dem all- gemeinen Begriffe der Einheit im Mannigfaltigen (§. 36, 1); sie kann aber niemals in eine äußere Bestimmtheit eingezwängt werden (§. 36, 2).
1. Wie die Ablösung der Oberfläche von den in ihr zusammenwirkenden stoffartigen Mischungs-Elementen zugleich eine Reinigung von Allem ist, was nicht die Idee ausdrückt, dies erhellt z. B., wenn ich erwäge, daß der schönste Baum, wenn ich ihn mikroskopisch betrachtete, voll von In- sekten gefunden würde. Diese Insekten nähren sich von seinen Säften, sie nöthigen mich also, an die einzelnen Stoffe seiner Structur zu denken, und so erscheint das Störende, die Schönheit Aufhebende in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Stoffartigen im Gegenstande. Die Ausscheidung jedes Stoffartigen, was nicht reiner Ausdruck der Idee ist, bezeichnet Hegel treffend, indem er sagt: die Kunst (die wir nur hier noch nicht als die Urheberin dieser Reinigung kennen) habe das Erscheinende an allen Punkten seiner Oberfläche zum Auge umzuwandeln, welches der Sitz der Seele ist und den Geist zur Erscheinung bringt (Aesth. 1, 197). Im Sinne dieser Ablösung der Oberfläche von der stoffartigen inneren Mischung und Structur, welche zugleich Reinigung von Allem ist, was an die Be- dürftigkeit und Abhängigkeit vom störenden Zufall erinnert, heißt das Schöne reine Form. Dieser Begriff ist zuerst von Göthe und Schiller in seiner ganzen Bedeutung gefaßt und in unzähligen Wendungen aus- gesprochen worden, von denen hier nur die eine angeführt werden mag:
wodurch die Geſtalt dem Einfluſſe des ſtörenden Zufalls verfällt, durch jene Zuſam- menziehung (§. 53) unſchädlich gemacht iſt. Dieſe beiden Bedeutungen faſſen ſich in dem Begriff zuſammen, daß das Schöne reines Formweſen iſt. Nicht die be-2 ſtimmte Idee, welche in der Geſtalt zum Ausdruck kommt, wird unter dem Stoffe verſtanden: dieſe heißt nicht Stoff, ſondern Inhalt; gerade ſie iſt es, welche aus der zu ſolcher Durchſichtigkeit geläuterten Geſtalt hervorleuchtet und ihr, indem ſie ſelbſt nur eine Stufe der abſoluten Idee iſt, die Bedeutung eines Weltalls gibt. Anderes als dies nun iſt über die Vereinigung der durch die Gattung gegebenen3 Regel und der Individualität im Schönen (vgl. §. 35—38) nicht feſtzuſtellen: jene iſt das Geſetz, durch welches die ſtörende Form des Zufalls (§. 52) ausgereinigt wird, dieſe umfließt die Regel mit der ſpielenden Linie der berechtigten Formen des Zufalls (§. 47—51), und beide befreiten ſich zur reinen Form, d. h. der ganz zur Geſtalt gewordenen Idee und der von allem bloſen Stoffe zum vollen Ausdruck der individualiſirten Idee befreiten Geſtalt. Dieſe Einheit iſt als eine dem Schönen ſpezifiſch eigene wohl zu unterſcheiden von dem all- gemeinen Begriffe der Einheit im Mannigfaltigen (§. 36, 1); ſie kann aber niemals in eine äußere Beſtimmtheit eingezwängt werden (§. 36, 2).
1. Wie die Ablöſung der Oberfläche von den in ihr zuſammenwirkenden ſtoffartigen Miſchungs-Elementen zugleich eine Reinigung von Allem iſt, was nicht die Idee ausdrückt, dies erhellt z. B., wenn ich erwäge, daß der ſchönſte Baum, wenn ich ihn mikroſkopiſch betrachtete, voll von In- ſekten gefunden würde. Dieſe Inſekten nähren ſich von ſeinen Säften, ſie nöthigen mich alſo, an die einzelnen Stoffe ſeiner Structur zu denken, und ſo erſcheint das Störende, die Schönheit Aufhebende in unmittelbarem Zuſammenhang mit dem Stoffartigen im Gegenſtande. Die Ausſcheidung jedes Stoffartigen, was nicht reiner Ausdruck der Idee iſt, bezeichnet Hegel treffend, indem er ſagt: die Kunſt (die wir nur hier noch nicht als die Urheberin dieſer Reinigung kennen) habe das Erſcheinende an allen Punkten ſeiner Oberfläche zum Auge umzuwandeln, welches der Sitz der Seele iſt und den Geiſt zur Erſcheinung bringt (Aeſth. 1, 197). Im Sinne dieſer Ablöſung der Oberfläche von der ſtoffartigen inneren Miſchung und Structur, welche zugleich Reinigung von Allem iſt, was an die Be- dürftigkeit und Abhängigkeit vom ſtörenden Zufall erinnert, heißt das Schöne reine Form. Dieſer Begriff iſt zuerſt von Göthe und Schiller in ſeiner ganzen Bedeutung gefaßt und in unzähligen Wendungen aus- geſprochen worden, von denen hier nur die eine angeführt werden mag:
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wodurch die Geſtalt dem Einfluſſe des ſtörenden Zufalls verfällt, durch jene Zuſam-
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dem Begriff zuſammen, daß das Schöne reines Formweſen iſt. Nicht die be-
ſtimmte Idee, welche in der Geſtalt zum Ausdruck kommt, wird unter dem Stoffe
verſtanden: dieſe heißt nicht Stoff, ſondern Inhalt; gerade ſie iſt es, welche aus
der zu ſolcher Durchſichtigkeit geläuterten Geſtalt hervorleuchtet und ihr, indem ſie
ſelbſt nur eine Stufe der abſoluten Idee iſt, die Bedeutung eines Weltalls gibt.
Anderes als dies nun iſt über die Vereinigung der durch die Gattung gegebenen
Regel und der Individualität im Schönen (vgl. §. 35—38) nicht feſtzuſtellen: jene
iſt das Geſetz, durch welches die ſtörende Form des Zufalls (§. 52) ausgereinigt
wird, dieſe umfließt die Regel mit der ſpielenden Linie der berechtigten Formen
des Zufalls (§. 47—51), und beide befreiten ſich zur reinen Form, d. h.
der ganz zur Geſtalt gewordenen Idee und der von allem bloſen Stoffe zum
vollen Ausdruck der individualiſirten Idee befreiten Geſtalt. Dieſe Einheit
iſt als eine dem Schönen ſpezifiſch eigene wohl zu unterſcheiden von dem all-
gemeinen Begriffe der Einheit im Mannigfaltigen (§. 36, 1); ſie kann aber
niemals in eine äußere Beſtimmtheit eingezwängt werden (§. 36, 2).
1. Wie die Ablöſung der Oberfläche von den in ihr zuſammenwirkenden
ſtoffartigen Miſchungs-Elementen zugleich eine Reinigung von Allem iſt,
was nicht die Idee ausdrückt, dies erhellt z. B., wenn ich erwäge, daß
der ſchönſte Baum, wenn ich ihn mikroſkopiſch betrachtete, voll von In-
ſekten gefunden würde. Dieſe Inſekten nähren ſich von ſeinen Säften,
ſie nöthigen mich alſo, an die einzelnen Stoffe ſeiner Structur zu denken,
und ſo erſcheint das Störende, die Schönheit Aufhebende in unmittelbarem
Zuſammenhang mit dem Stoffartigen im Gegenſtande. Die Ausſcheidung
jedes Stoffartigen, was nicht reiner Ausdruck der Idee iſt, bezeichnet
Hegel treffend, indem er ſagt: die Kunſt (die wir nur hier noch nicht
als die Urheberin dieſer Reinigung kennen) habe das Erſcheinende an allen
Punkten ſeiner Oberfläche zum Auge umzuwandeln, welches der Sitz der
Seele iſt und den Geiſt zur Erſcheinung bringt (Aeſth. 1, 197). Im
Sinne dieſer Ablöſung der Oberfläche von der ſtoffartigen inneren Miſchung
und Structur, welche zugleich Reinigung von Allem iſt, was an die Be-
dürftigkeit und Abhängigkeit vom ſtörenden Zufall erinnert, heißt das
Schöne reine Form. Dieſer Begriff iſt zuerſt von Göthe und Schiller
in ſeiner ganzen Bedeutung gefaßt und in unzähligen Wendungen aus-
geſprochen worden, von denen hier nur die eine angeführt werden mag:
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/163>, abgerufen am 23.11.2024.
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