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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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färbung, und die größere oder geringere Wärme dieses lebendigen Blut-
schimmers ist wichtig, denn derselbe ist wesentlich zum Ausdruck des Tem-
peraments, aber zugleich wird in der malerischen Auffassung vom Blut
als einem besonderen Stoffe ebensosehr rein abstrahirt, denn durch diesen
besondern Stoff verfällt der einzelne Körper theils der Verkümmerung
und Aufreibung durch den Zufall, theils interessirt er nur den zerlegenden
Physiologen. Hiemit ist an diesem Beispiel zugleich der allgemeine Grund
dieser Reduction des Körpers auf den Gesammtschein seiner Oberfläche
angegeben. Er ist ein doppelter. Blickt man hinter die Oberfläche und
zerlegt man, so erhält man die einzelnen Theile: diese dienen dem Ganzen,
und hiemit ist man im Gebiete der blosen Zweckmäßigkeit; nur wenn
man das Ganze mit Einem Schlage betrachtet, so tritt die Wechsel-
Aufhebung von Zweck und Mittel, also die Idealität des Ganzen in An-
schauung und Geist (vergl. §. 16 und 23). Zerlegt man aber immer
weiter, so bleibt am Ende der Stoff im engsten Sinne, sofern er nämlich
nur die denkbar ärmste Form hat, und so heißt er gegenüber dem edlen
organischen Gebilde roher Stoff. Diese theilweise oder ganze Zerlegung
nimmt aber nicht nur die Wissenschaft für ihre geistigen Zwecke vor, sondern
unbewußt auch die rohe, sinnliche Betrachtungsweise, welche sich auf den
Bodensatz dieser Zerpflückung eines Ganzen durch Begierde oder Abneigung
bezogen fühlt. Davon mehr in der Lehre vom subjectiven Eindrucke des
Schönen. So unendlich diese beiden Arten der Zerlegung verschieden sind,
in ihrem Gegensatz gegen den ästhetischen Act des reinen Genusses der
Totalwirkung treffen sie, wie sich zeigen wird, zusammen. -- Das Schöne
ist wie die Basis eines Monuments, welches den Gegenstand der ver-
ewigenden Kunst aus dem Gedränge der gemeinen Verflechtung der Dinge
emporhebt. Hier erhellt auch die idealisirende Kraft der Raumferne, der
Zeitferne und des Todes.

Es wird leicht seyn, das Gesagte vorläufig auch auf den Ton an-
zuwenden. Jeder Ton ist eine Vereinigung einzelner vibrirender Theile
eines Stoffs zu einer Gesammtwirkung. Hört man diese einzelnen
Schwingungen und die Materie der erzitternden Fasern u. s. w. heraus,
so wird er stoffartig.

§. 55.

1

Das Schöne ist daher reiner Schein in dem doppelten Sinne, daß in ihm blos
die vom Stoffe abgelöste Oberfläche wirkt, und daß in dieser ebendaher Alles das,

färbung, und die größere oder geringere Wärme dieſes lebendigen Blut-
ſchimmers iſt wichtig, denn derſelbe iſt weſentlich zum Ausdruck des Tem-
peraments, aber zugleich wird in der maleriſchen Auffaſſung vom Blut
als einem beſonderen Stoffe ebenſoſehr rein abſtrahirt, denn durch dieſen
beſondern Stoff verfällt der einzelne Körper theils der Verkümmerung
und Aufreibung durch den Zufall, theils intereſſirt er nur den zerlegenden
Phyſiologen. Hiemit iſt an dieſem Beiſpiel zugleich der allgemeine Grund
dieſer Reduction des Körpers auf den Geſammtſchein ſeiner Oberfläche
angegeben. Er iſt ein doppelter. Blickt man hinter die Oberfläche und
zerlegt man, ſo erhält man die einzelnen Theile: dieſe dienen dem Ganzen,
und hiemit iſt man im Gebiete der bloſen Zweckmäßigkeit; nur wenn
man das Ganze mit Einem Schlage betrachtet, ſo tritt die Wechſel-
Aufhebung von Zweck und Mittel, alſo die Idealität des Ganzen in An-
ſchauung und Geiſt (vergl. §. 16 und 23). Zerlegt man aber immer
weiter, ſo bleibt am Ende der Stoff im engſten Sinne, ſofern er nämlich
nur die denkbar ärmſte Form hat, und ſo heißt er gegenüber dem edlen
organiſchen Gebilde roher Stoff. Dieſe theilweiſe oder ganze Zerlegung
nimmt aber nicht nur die Wiſſenſchaft für ihre geiſtigen Zwecke vor, ſondern
unbewußt auch die rohe, ſinnliche Betrachtungsweiſe, welche ſich auf den
Bodenſatz dieſer Zerpflückung eines Ganzen durch Begierde oder Abneigung
bezogen fühlt. Davon mehr in der Lehre vom ſubjectiven Eindrucke des
Schönen. So unendlich dieſe beiden Arten der Zerlegung verſchieden ſind,
in ihrem Gegenſatz gegen den äſthetiſchen Act des reinen Genuſſes der
Totalwirkung treffen ſie, wie ſich zeigen wird, zuſammen. — Das Schöne
iſt wie die Baſis eines Monuments, welches den Gegenſtand der ver-
ewigenden Kunſt aus dem Gedränge der gemeinen Verflechtung der Dinge
emporhebt. Hier erhellt auch die idealiſirende Kraft der Raumferne, der
Zeitferne und des Todes.

Es wird leicht ſeyn, das Geſagte vorläufig auch auf den Ton an-
zuwenden. Jeder Ton iſt eine Vereinigung einzelner vibrirender Theile
eines Stoffs zu einer Geſammtwirkung. Hört man dieſe einzelnen
Schwingungen und die Materie der erzitternden Faſern u. ſ. w. heraus,
ſo wird er ſtoffartig.

§. 55.

1

Das Schöne iſt daher reiner Schein in dem doppelten Sinne, daß in ihm blos
die vom Stoffe abgelöste Oberfläche wirkt, und daß in dieſer ebendaher Alles das,

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[148/0162] färbung, und die größere oder geringere Wärme dieſes lebendigen Blut- ſchimmers iſt wichtig, denn derſelbe iſt weſentlich zum Ausdruck des Tem- peraments, aber zugleich wird in der maleriſchen Auffaſſung vom Blut als einem beſonderen Stoffe ebenſoſehr rein abſtrahirt, denn durch dieſen beſondern Stoff verfällt der einzelne Körper theils der Verkümmerung und Aufreibung durch den Zufall, theils intereſſirt er nur den zerlegenden Phyſiologen. Hiemit iſt an dieſem Beiſpiel zugleich der allgemeine Grund dieſer Reduction des Körpers auf den Geſammtſchein ſeiner Oberfläche angegeben. Er iſt ein doppelter. Blickt man hinter die Oberfläche und zerlegt man, ſo erhält man die einzelnen Theile: dieſe dienen dem Ganzen, und hiemit iſt man im Gebiete der bloſen Zweckmäßigkeit; nur wenn man das Ganze mit Einem Schlage betrachtet, ſo tritt die Wechſel- Aufhebung von Zweck und Mittel, alſo die Idealität des Ganzen in An- ſchauung und Geiſt (vergl. §. 16 und 23). Zerlegt man aber immer weiter, ſo bleibt am Ende der Stoff im engſten Sinne, ſofern er nämlich nur die denkbar ärmſte Form hat, und ſo heißt er gegenüber dem edlen organiſchen Gebilde roher Stoff. Dieſe theilweiſe oder ganze Zerlegung nimmt aber nicht nur die Wiſſenſchaft für ihre geiſtigen Zwecke vor, ſondern unbewußt auch die rohe, ſinnliche Betrachtungsweiſe, welche ſich auf den Bodenſatz dieſer Zerpflückung eines Ganzen durch Begierde oder Abneigung bezogen fühlt. Davon mehr in der Lehre vom ſubjectiven Eindrucke des Schönen. So unendlich dieſe beiden Arten der Zerlegung verſchieden ſind, in ihrem Gegenſatz gegen den äſthetiſchen Act des reinen Genuſſes der Totalwirkung treffen ſie, wie ſich zeigen wird, zuſammen. — Das Schöne iſt wie die Baſis eines Monuments, welches den Gegenſtand der ver- ewigenden Kunſt aus dem Gedränge der gemeinen Verflechtung der Dinge emporhebt. Hier erhellt auch die idealiſirende Kraft der Raumferne, der Zeitferne und des Todes. Es wird leicht ſeyn, das Geſagte vorläufig auch auf den Ton an- zuwenden. Jeder Ton iſt eine Vereinigung einzelner vibrirender Theile eines Stoffs zu einer Geſammtwirkung. Hört man dieſe einzelnen Schwingungen und die Materie der erzitternden Faſern u. ſ. w. heraus, ſo wird er ſtoffartig. §. 55. Das Schöne iſt daher reiner Schein in dem doppelten Sinne, daß in ihm blos die vom Stoffe abgelöste Oberfläche wirkt, und daß in dieſer ebendaher Alles das,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/162>, abgerufen am 27.11.2024.