Irrthum zu begehen, welcher den Beruf der Aesthetik darein setzt, eine Anweisung zum Hervorbringen des Schönen zu geben. Dieser Irrthum ist längst außer Gang und wird überdies in der Lehre von der Phantasie seine Widerlegung finden. Kant weiß sich bereits frei davon (Kritik der ästhetischen Urtheilskraft Vorrede S. IX. Ausgabe 1794).
4 Siehe die vorhergehende Bemerkung. "Geschmackslehre" Krug; über den Unterschied zwischen Geschmack und Schönheitssinn, vergl. den folgenden Abschnitt vom subjectiven Eindruck des Schönen. "Theorie der schönen Künste" auch: "Philosophie der schönen Künste, oder die Wissen- schaft, welche sowohl die allgemeine Theorie, als die Regeln der schönen Künste aus der Natur des Geschmacks herleitet" Sulzer, "Theorie der schönen Wissenschaften" Eberhard. Theorie erinnert ebenfalls an eine Anleitung zu ihrem Gegensatze, der Praxis, welche nicht in der Aufgabe der Aesthetik liegt; schöne Kunst ist tautologisch und überdies zu eng, da die Aesthetik keineswegs blos von den Künsten handelt, schöne Wissenschaften ein Widerspruch.
§. 2.
Im Systeme der philosophischen Wissenschaften geräth die Aesthetik in1 eine falsche Stellung, wenn man dasselbe blos zweigliedrig, in theoretische und praktische Philosophie, eintheilt. Entweder wird sie dann der theoretischen zu- gezählt, und dies ist falsch, weil es sich in ihr keineswegs blos um die Weise der Erkenntniß eines fertig gegebenen Gegenstandes handelt (vergl. §. 1, 3.), sondern vielmehr um einen Inhalt, von dem sich zuerst fragt, wie er entstehe, und der, auch wenn er als vollendeter aufgewiesen ist, nicht in den gewöhnlichen Gegensatz von Subject und Object fällt. Oder sie wird, weil ihr Gegenstand2 allerdings nur durch eine Thätigkeit entstehen kann, der praktischen Philosophie zugetheilt, und auch dies ist unrichtig, da jene Thätigkeit von derjenigen, wodurch der eigentlich so genannte praktische Zweck verwirklicht wird, wesentlich verschieden ist. In der praktischen Sphäre nämlich wird der Endzweck des Geistes überhaupt als ein noch unerreichter vorausgesetzt, er soll durch den Willen erst vollführt werden, die Thätigkeit dagegen, welche das Schöne hervor- bringt, setzt den Zwiespalt als überwunden voraus, steht über der Kategorie des Sollens und hat keinen Zweck, als die Darstellung der als verwirklicht angeschauten Idee.
1 Es versteht sich, daß von der Stellung der Aesthetik im Systeme der philosophischen Wissenschaften nur vermöge einer Voraussetzung später
Irrthum zu begehen, welcher den Beruf der Aeſthetik darein ſetzt, eine Anweiſung zum Hervorbringen des Schönen zu geben. Dieſer Irrthum iſt längſt außer Gang und wird überdies in der Lehre von der Phantaſie ſeine Widerlegung finden. Kant weiß ſich bereits frei davon (Kritik der äſthetiſchen Urtheilskraft Vorrede S. IX. Ausgabe 1794).
4 Siehe die vorhergehende Bemerkung. „Geſchmackslehre“ Krug; über den Unterſchied zwiſchen Geſchmack und Schönheitsſinn, vergl. den folgenden Abſchnitt vom ſubjectiven Eindruck des Schönen. „Theorie der ſchönen Künſte“ auch: „Philoſophie der ſchönen Künſte, oder die Wiſſen- ſchaft, welche ſowohl die allgemeine Theorie, als die Regeln der ſchönen Künſte aus der Natur des Geſchmacks herleitet“ Sulzer, „Theorie der ſchönen Wiſſenſchaften“ Eberhard. Theorie erinnert ebenfalls an eine Anleitung zu ihrem Gegenſatze, der Praxis, welche nicht in der Aufgabe der Aeſthetik liegt; ſchöne Kunſt iſt tautologiſch und überdies zu eng, da die Aeſthetik keineswegs blos von den Künſten handelt, ſchöne Wiſſenſchaften ein Widerſpruch.
§. 2.
Im Syſteme der philoſophiſchen Wiſſenſchaften geräth die Aeſthetik in1 eine falſche Stellung, wenn man dasſelbe blos zweigliedrig, in theoretiſche und praktiſche Philoſophie, eintheilt. Entweder wird ſie dann der theoretiſchen zu- gezählt, und dies iſt falſch, weil es ſich in ihr keineswegs blos um die Weiſe der Erkenntniß eines fertig gegebenen Gegenſtandes handelt (vergl. §. 1, 3.), ſondern vielmehr um einen Inhalt, von dem ſich zuerſt fragt, wie er entſtehe, und der, auch wenn er als vollendeter aufgewieſen iſt, nicht in den gewöhnlichen Gegenſatz von Subject und Object fällt. Oder ſie wird, weil ihr Gegenſtand2 allerdings nur durch eine Thätigkeit entſtehen kann, der praktiſchen Philoſophie zugetheilt, und auch dies iſt unrichtig, da jene Thätigkeit von derjenigen, wodurch der eigentlich ſo genannte praktiſche Zweck verwirklicht wird, weſentlich verſchieden iſt. In der praktiſchen Sphäre nämlich wird der Endzweck des Geiſtes überhaupt als ein noch unerreichter vorausgeſetzt, er ſoll durch den Willen erſt vollführt werden, die Thätigkeit dagegen, welche das Schöne hervor- bringt, ſetzt den Zwieſpalt als überwunden voraus, ſteht über der Kategorie des Sollens und hat keinen Zweck, als die Darſtellung der als verwirklicht angeſchauten Idee.
1 Es verſteht ſich, daß von der Stellung der Aeſthetik im Syſteme der philoſophiſchen Wiſſenſchaften nur vermöge einer Vorausſetzung ſpäter
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iſt längſt außer Gang und wird überdies in der Lehre von der Phantaſie
ſeine Widerlegung finden. Kant weiß ſich bereits frei davon (Kritik
der äſthetiſchen Urtheilskraft Vorrede S. IX. Ausgabe 1794).
4 Siehe die vorhergehende Bemerkung. „Geſchmackslehre“ Krug;
über den Unterſchied zwiſchen Geſchmack und Schönheitsſinn, vergl.
den folgenden Abſchnitt vom ſubjectiven Eindruck des Schönen. „Theorie
der ſchönen Künſte“ auch: „Philoſophie der ſchönen Künſte, oder die Wiſſen-
ſchaft, welche ſowohl die allgemeine Theorie, als die Regeln der ſchönen
Künſte aus der Natur des Geſchmacks herleitet“ Sulzer, „Theorie der ſchönen
Wiſſenſchaften“ Eberhard. Theorie erinnert ebenfalls an eine Anleitung zu
ihrem Gegenſatze, der Praxis, welche nicht in der Aufgabe der Aeſthetik liegt;
ſchöne Kunſt iſt tautologiſch und überdies zu eng, da die Aeſthetik keineswegs
blos von den Künſten handelt, ſchöne Wiſſenſchaften ein Widerſpruch.
§. 2.
Im Syſteme der philoſophiſchen Wiſſenſchaften geräth die Aeſthetik in
eine falſche Stellung, wenn man dasſelbe blos zweigliedrig, in theoretiſche und
praktiſche Philoſophie, eintheilt. Entweder wird ſie dann der theoretiſchen zu-
gezählt, und dies iſt falſch, weil es ſich in ihr keineswegs blos um die Weiſe
der Erkenntniß eines fertig gegebenen Gegenſtandes handelt (vergl. §. 1, 3.),
ſondern vielmehr um einen Inhalt, von dem ſich zuerſt fragt, wie er entſtehe,
und der, auch wenn er als vollendeter aufgewieſen iſt, nicht in den gewöhnlichen
Gegenſatz von Subject und Object fällt. Oder ſie wird, weil ihr Gegenſtand
allerdings nur durch eine Thätigkeit entſtehen kann, der praktiſchen Philoſophie
zugetheilt, und auch dies iſt unrichtig, da jene Thätigkeit von derjenigen,
wodurch der eigentlich ſo genannte praktiſche Zweck verwirklicht wird, weſentlich
verſchieden iſt. In der praktiſchen Sphäre nämlich wird der Endzweck des
Geiſtes überhaupt als ein noch unerreichter vorausgeſetzt, er ſoll durch den
Willen erſt vollführt werden, die Thätigkeit dagegen, welche das Schöne hervor-
bringt, ſetzt den Zwieſpalt als überwunden voraus, ſteht über der Kategorie
des Sollens und hat keinen Zweck, als die Darſtellung der als verwirklicht
angeſchauten Idee.
1 Es verſteht ſich, daß von der Stellung der Aeſthetik im Syſteme
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/21>, abgerufen am 21.11.2024.
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