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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Bedeckung vermehrt den Eindruck des Gefährlichen: so hebt sich das
Häßliche im Furchtbaren auf und wird dadurch ästhetisch. Ebenso eine
ungeschlachte Menschengestalt, die aber durch einseitige Ausbildung der
Muskel, Mißverhältniß der Organe der Intelligenz zu denen des sinn-
lichen Widerstands häßlich erscheint, nur um desto drohender zu seyn.
Diese Bedingung der Zulässigkeit des Häßlichen hat zuerst Lessing aus-
gesprochen (Laokoon Abschn. 23): "Weil Häßlichkeit, von der Seite
ihrer Wirkung, Häßlichkeit zu seyn aufhört, wird sie dem Dichter brauch-
bar; und was er für sich selbst nicht nutzen kann, nutzt er als ein
Ingrediens, um gewisse vermischte Empfindungen hervorzubringen und zu
verstärken u. s. w. -- Wenn unschädliche Häßlichkeit lächerlich werden
kann, so ist schädliche Häßlichkeit allezeit schrecklich." -- Im Abschn. 25
nimmt er den Begriff des Eckelhaften hinzu, kommt so auf das Gräß-
liche, das wir noch erwähnen werden, und erklärt es für zulässig eben-
falls, wenn es schrecklich ist.

3. Die zuletzt aufgeführten Seitenbegriffe beziehen sich beinahe sämmt-
lich auf die Kraft in der Bewegung. Diese nämlich kann ebenfalls
entweder häßlich oder edel seyn; man denke nur z. B. an die wilden
Sprünge eines reißenden Thiers, die Convulsionen eines Wüthenden und
vergleiche damit den gemessenen Schritt einer ruhig anrückenden, besonnen
und kunstreich kämpfenden edeln Kraft. Das Prächtige allerdings kann
sich ebensosehr in der Ruhe, als in der Bewegung darstellen. Doch zeigt
es sich besonders auch als bewegt. Ein Sonnen-Aufgang z. B. ist prächtig,
sofern das steigende Gestirn durch das sich ausbreitende Licht die Erde und
den Luftraum gleichsam als Schmuck ihrer Herrlichkeit aufzeigt oder sein
Glanz und es selbst als Schmuck der absoluten Naturmacht betrachtet wird.
Die hebräische Poesie hat herrliche Stellen, die Natur als Prachtschmuck
Jehovah's zu schildern, der "die Himmel ausbreitet wie einen Teppich"
u. s. w. Der Mensch verherrlicht durch Schmuck seine geistige Herrschaft
über die Natur; das Edelste selbst muß unbenützt dienen, nur ihn zu
schmücken. Majestätisch ist das Erhabene von edler Form in der ge-
mäßigten Bewegung, so z. B. das stille, stolze Kreisen des Adlers, ein
Sonnen-Aufgang, sofern nicht durch den Begriff der Pracht zwei
Seiten, eine schmückende und geschmückte, an ihm unterschieden werden.
Feierlich: edle Kräfte bewegen sich in langsamer und gemessener Ordnung,
eine noch höhere Kraft, vor der sie sich beugen und zurückhalten, zu ehren.
Eine verborgene Furcht und Bangigkeit begleitet übrigens die Empfindung

Bedeckung vermehrt den Eindruck des Gefährlichen: ſo hebt ſich das
Häßliche im Furchtbaren auf und wird dadurch äſthetiſch. Ebenſo eine
ungeſchlachte Menſchengeſtalt, die aber durch einſeitige Ausbildung der
Muskel, Mißverhältniß der Organe der Intelligenz zu denen des ſinn-
lichen Widerſtands häßlich erſcheint, nur um deſto drohender zu ſeyn.
Dieſe Bedingung der Zuläſſigkeit des Häßlichen hat zuerſt Leſſing aus-
geſprochen (Laokoon Abſchn. 23): „Weil Häßlichkeit, von der Seite
ihrer Wirkung, Häßlichkeit zu ſeyn aufhört, wird ſie dem Dichter brauch-
bar; und was er für ſich ſelbſt nicht nutzen kann, nutzt er als ein
Ingrediens, um gewiſſe vermiſchte Empfindungen hervorzubringen und zu
verſtärken u. ſ. w. — Wenn unſchädliche Häßlichkeit lächerlich werden
kann, ſo iſt ſchädliche Häßlichkeit allezeit ſchrecklich.“ — Im Abſchn. 25
nimmt er den Begriff des Eckelhaften hinzu, kommt ſo auf das Gräß-
liche, das wir noch erwähnen werden, und erklärt es für zuläſſig eben-
falls, wenn es ſchrecklich iſt.

3. Die zuletzt aufgeführten Seitenbegriffe beziehen ſich beinahe ſämmt-
lich auf die Kraft in der Bewegung. Dieſe nämlich kann ebenfalls
entweder häßlich oder edel ſeyn; man denke nur z. B. an die wilden
Sprünge eines reißenden Thiers, die Convulſionen eines Wüthenden und
vergleiche damit den gemeſſenen Schritt einer ruhig anrückenden, beſonnen
und kunſtreich kämpfenden edeln Kraft. Das Prächtige allerdings kann
ſich ebenſoſehr in der Ruhe, als in der Bewegung darſtellen. Doch zeigt
es ſich beſonders auch als bewegt. Ein Sonnen-Aufgang z. B. iſt prächtig,
ſofern das ſteigende Geſtirn durch das ſich ausbreitende Licht die Erde und
den Luftraum gleichſam als Schmuck ihrer Herrlichkeit aufzeigt oder ſein
Glanz und es ſelbſt als Schmuck der abſoluten Naturmacht betrachtet wird.
Die hebräiſche Poeſie hat herrliche Stellen, die Natur als Prachtſchmuck
Jehovah’s zu ſchildern, der „die Himmel ausbreitet wie einen Teppich“
u. ſ. w. Der Menſch verherrlicht durch Schmuck ſeine geiſtige Herrſchaft
über die Natur; das Edelſte ſelbſt muß unbenützt dienen, nur ihn zu
ſchmücken. Majeſtätiſch iſt das Erhabene von edler Form in der ge-
mäßigten Bewegung, ſo z. B. das ſtille, ſtolze Kreiſen des Adlers, ein
Sonnen-Aufgang, ſofern nicht durch den Begriff der Pracht zwei
Seiten, eine ſchmückende und geſchmückte, an ihm unterſchieden werden.
Feierlich: edle Kräfte bewegen ſich in langſamer und gemeſſener Ordnung,
eine noch höhere Kraft, vor der ſie ſich beugen und zurückhalten, zu ehren.
Eine verborgene Furcht und Bangigkeit begleitet übrigens die Empfindung

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[248/0262] Bedeckung vermehrt den Eindruck des Gefährlichen: ſo hebt ſich das Häßliche im Furchtbaren auf und wird dadurch äſthetiſch. Ebenſo eine ungeſchlachte Menſchengeſtalt, die aber durch einſeitige Ausbildung der Muskel, Mißverhältniß der Organe der Intelligenz zu denen des ſinn- lichen Widerſtands häßlich erſcheint, nur um deſto drohender zu ſeyn. Dieſe Bedingung der Zuläſſigkeit des Häßlichen hat zuerſt Leſſing aus- geſprochen (Laokoon Abſchn. 23): „Weil Häßlichkeit, von der Seite ihrer Wirkung, Häßlichkeit zu ſeyn aufhört, wird ſie dem Dichter brauch- bar; und was er für ſich ſelbſt nicht nutzen kann, nutzt er als ein Ingrediens, um gewiſſe vermiſchte Empfindungen hervorzubringen und zu verſtärken u. ſ. w. — Wenn unſchädliche Häßlichkeit lächerlich werden kann, ſo iſt ſchädliche Häßlichkeit allezeit ſchrecklich.“ — Im Abſchn. 25 nimmt er den Begriff des Eckelhaften hinzu, kommt ſo auf das Gräß- liche, das wir noch erwähnen werden, und erklärt es für zuläſſig eben- falls, wenn es ſchrecklich iſt. 3. Die zuletzt aufgeführten Seitenbegriffe beziehen ſich beinahe ſämmt- lich auf die Kraft in der Bewegung. Dieſe nämlich kann ebenfalls entweder häßlich oder edel ſeyn; man denke nur z. B. an die wilden Sprünge eines reißenden Thiers, die Convulſionen eines Wüthenden und vergleiche damit den gemeſſenen Schritt einer ruhig anrückenden, beſonnen und kunſtreich kämpfenden edeln Kraft. Das Prächtige allerdings kann ſich ebenſoſehr in der Ruhe, als in der Bewegung darſtellen. Doch zeigt es ſich beſonders auch als bewegt. Ein Sonnen-Aufgang z. B. iſt prächtig, ſofern das ſteigende Geſtirn durch das ſich ausbreitende Licht die Erde und den Luftraum gleichſam als Schmuck ihrer Herrlichkeit aufzeigt oder ſein Glanz und es ſelbſt als Schmuck der abſoluten Naturmacht betrachtet wird. Die hebräiſche Poeſie hat herrliche Stellen, die Natur als Prachtſchmuck Jehovah’s zu ſchildern, der „die Himmel ausbreitet wie einen Teppich“ u. ſ. w. Der Menſch verherrlicht durch Schmuck ſeine geiſtige Herrſchaft über die Natur; das Edelſte ſelbſt muß unbenützt dienen, nur ihn zu ſchmücken. Majeſtätiſch iſt das Erhabene von edler Form in der ge- mäßigten Bewegung, ſo z. B. das ſtille, ſtolze Kreiſen des Adlers, ein Sonnen-Aufgang, ſofern nicht durch den Begriff der Pracht zwei Seiten, eine ſchmückende und geſchmückte, an ihm unterſchieden werden. Feierlich: edle Kräfte bewegen ſich in langſamer und gemeſſener Ordnung, eine noch höhere Kraft, vor der ſie ſich beugen und zurückhalten, zu ehren. Eine verborgene Furcht und Bangigkeit begleitet übrigens die Empfindung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/262>, abgerufen am 26.11.2024.