Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

auch bei diesen Formen, freilich nur als erstes Moment, denn das zweite
ist, wie sich zeigen wird, überall Erhebung.

§. 99.

Die Kraft, vorzüglich die intensiv gesammelte, kann aber auch im Ueber-
gang zu einem Ausbruch schädlicher Art an sich halten und sich langsam an-
schwellend, ihre Bewegung durch Pausen unterbrechend entladen. Diese Form
ist noch positiv, aber sie nähert sich bereits der negativen, denn die Bewegung,
die mit dem vollen Ausbruch zurückhält, spannt die Erwartung so sehr, daß
die Ahnung einer unendlichen Kraft, welche fähig wäre, die höchste Wirkung
durch eine noch höhere aufzuheben, erweckt wird. Den Eindruck der langsamen
und gleichförmig unterbrochenen Bewegung verstärkt besonders der leise, ebenso
fortschreitende und anschwellende Ton. Der wirkliche Ausbruch aber wirkt trotz
der Erwartung, ja durch sie einen ebenso verdoppelten Schrecken.

Burke hat die hier bezeichneten Erscheinungen fein beobachtet (s. a.
O. Thl. 2, Abschn. 18 -- 22 ff.). Er spricht vorzüglich von der Kraft
des unterbrochenen, in Pausen fortschreitenden Schalles. Das leise,
steigende Knistern einer beginnenden Feuersbrunst, das zuerst mäßige,
aber anschwellende Rauschen einer Ueberschwemmung, das ferne Grollen
eines Gewitters, das feine Pfeifen des Sturms in den Tauen, das
Flüstern und Raunen eines Mordanschlags ist durch Erwartung unendlich
furchtbar. Anschwellen der Trommel im Sturmschlagen. In Pausen:
Marschmusik von drohendem Ausdruck, in der Modification des Melancho-
lischen der Todtenmarsch auf der Trommel; auch das Brüllen der stürmischen
See hat einen in immer neu anschwellende Wiederholung sich theilenden Takt.
Diese Form überhaupt nun ist insofern bereits negativ, als die Ahnung den
noch verborgenen Schooß der Kraft als einen unendlichen vorstellt. Unendlich
muß zwar alles Erhabene erscheinen. Hier aber ist es eine so zu sagen ver-
doppelte Unendlichkeit. Man stellt sich vor, daß eine solche Kraft das Furcht-
barste wirken könne, das man sich dann gemäß der Natur alles Erhabenen
unendlich vorstellen würde; aber man hat zugleich eine Empfindung, als
ob eine solche Kraft selbst diese Wirkung wieder vernichten und über-
bieten könnte. Doch ist dies nur in der Ahnung; die Erscheinung geht
auf eine positive Wirkung los, welche unendlich erscheint nur in dem
Sinne, in welchem bei allem Erhabenen das Begrenzte zugleich als

auch bei dieſen Formen, freilich nur als erſtes Moment, denn das zweite
iſt, wie ſich zeigen wird, überall Erhebung.

§. 99.

Die Kraft, vorzüglich die intenſiv geſammelte, kann aber auch im Ueber-
gang zu einem Ausbruch ſchädlicher Art an ſich halten und ſich langſam an-
ſchwellend, ihre Bewegung durch Pauſen unterbrechend entladen. Dieſe Form
iſt noch poſitiv, aber ſie nähert ſich bereits der negativen, denn die Bewegung,
die mit dem vollen Ausbruch zurückhält, ſpannt die Erwartung ſo ſehr, daß
die Ahnung einer unendlichen Kraft, welche fähig wäre, die höchſte Wirkung
durch eine noch höhere aufzuheben, erweckt wird. Den Eindruck der langſamen
und gleichförmig unterbrochenen Bewegung verſtärkt beſonders der leiſe, ebenſo
fortſchreitende und anſchwellende Ton. Der wirkliche Ausbruch aber wirkt trotz
der Erwartung, ja durch ſie einen ebenſo verdoppelten Schrecken.

Burke hat die hier bezeichneten Erſcheinungen fein beobachtet (ſ. a.
O. Thl. 2, Abſchn. 18 — 22 ff.). Er ſpricht vorzüglich von der Kraft
des unterbrochenen, in Pauſen fortſchreitenden Schalles. Das leiſe,
ſteigende Kniſtern einer beginnenden Feuersbrunſt, das zuerſt mäßige,
aber anſchwellende Rauſchen einer Ueberſchwemmung, das ferne Grollen
eines Gewitters, das feine Pfeifen des Sturms in den Tauen, das
Flüſtern und Raunen eines Mordanſchlags iſt durch Erwartung unendlich
furchtbar. Anſchwellen der Trommel im Sturmſchlagen. In Pauſen:
Marſchmuſik von drohendem Ausdruck, in der Modification des Melancho-
liſchen der Todtenmarſch auf der Trommel; auch das Brüllen der ſtürmiſchen
See hat einen in immer neu anſchwellende Wiederholung ſich theilenden Takt.
Dieſe Form überhaupt nun iſt inſofern bereits negativ, als die Ahnung den
noch verborgenen Schooß der Kraft als einen unendlichen vorſtellt. Unendlich
muß zwar alles Erhabene erſcheinen. Hier aber iſt es eine ſo zu ſagen ver-
doppelte Unendlichkeit. Man ſtellt ſich vor, daß eine ſolche Kraft das Furcht-
barſte wirken könne, das man ſich dann gemäß der Natur alles Erhabenen
unendlich vorſtellen würde; aber man hat zugleich eine Empfindung, als
ob eine ſolche Kraft ſelbſt dieſe Wirkung wieder vernichten und über-
bieten könnte. Doch iſt dies nur in der Ahnung; die Erſcheinung geht
auf eine poſitive Wirkung los, welche unendlich erſcheint nur in dem
Sinne, in welchem bei allem Erhabenen das Begrenzte zugleich als

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0263" n="249"/>
auch bei die&#x017F;en Formen, freilich nur als er&#x017F;tes Moment, denn das zweite<lb/>
i&#x017F;t, wie &#x017F;ich zeigen wird, überall Erhebung.</hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 99.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Die Kraft, vorzüglich die inten&#x017F;iv ge&#x017F;ammelte, kann aber auch im Ueber-<lb/>
gang zu einem Ausbruch &#x017F;chädlicher Art an &#x017F;ich halten und &#x017F;ich lang&#x017F;am an-<lb/>
&#x017F;chwellend, ihre Bewegung durch Pau&#x017F;en unterbrechend entladen. Die&#x017F;e Form<lb/>
i&#x017F;t noch po&#x017F;itiv, aber &#x017F;ie nähert &#x017F;ich bereits der negativen, denn die Bewegung,<lb/>
die mit dem vollen Ausbruch zurückhält, &#x017F;pannt die Erwartung &#x017F;o &#x017F;ehr, daß<lb/>
die Ahnung einer unendlichen Kraft, welche fähig wäre, die höch&#x017F;te Wirkung<lb/>
durch eine noch höhere aufzuheben, erweckt wird. Den Eindruck der lang&#x017F;amen<lb/>
und gleichförmig unterbrochenen Bewegung ver&#x017F;tärkt be&#x017F;onders der lei&#x017F;e, eben&#x017F;o<lb/>
fort&#x017F;chreitende und an&#x017F;chwellende Ton. Der wirkliche Ausbruch aber wirkt trotz<lb/>
der Erwartung, ja durch &#x017F;ie einen eben&#x017F;o verdoppelten Schrecken.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et"><hi rendition="#g">Burke</hi> hat die hier bezeichneten Er&#x017F;cheinungen fein beobachtet (&#x017F;. a.<lb/>
O. Thl. 2, Ab&#x017F;chn. 18 &#x2014; 22 ff.). Er &#x017F;pricht vorzüglich von der Kraft<lb/>
des unterbrochenen, in Pau&#x017F;en fort&#x017F;chreitenden Schalles. Das lei&#x017F;e,<lb/>
&#x017F;teigende Kni&#x017F;tern einer beginnenden Feuersbrun&#x017F;t, das zuer&#x017F;t mäßige,<lb/>
aber an&#x017F;chwellende Rau&#x017F;chen einer Ueber&#x017F;chwemmung, das ferne Grollen<lb/>
eines Gewitters, das feine Pfeifen des Sturms in den Tauen, das<lb/>
Flü&#x017F;tern und Raunen eines Mordan&#x017F;chlags i&#x017F;t durch Erwartung unendlich<lb/>
furchtbar. An&#x017F;chwellen der Trommel im Sturm&#x017F;chlagen. In Pau&#x017F;en:<lb/>
Mar&#x017F;chmu&#x017F;ik von drohendem Ausdruck, in der Modification des Melancho-<lb/>
li&#x017F;chen der Todtenmar&#x017F;ch auf der Trommel; auch das Brüllen der &#x017F;türmi&#x017F;chen<lb/>
See hat einen in immer neu an&#x017F;chwellende Wiederholung &#x017F;ich theilenden Takt.<lb/>
Die&#x017F;e Form überhaupt nun i&#x017F;t in&#x017F;ofern bereits negativ, als die Ahnung den<lb/>
noch verborgenen Schooß der Kraft als einen unendlichen vor&#x017F;tellt. Unendlich<lb/>
muß zwar alles Erhabene er&#x017F;cheinen. Hier aber i&#x017F;t es eine &#x017F;o zu &#x017F;agen ver-<lb/>
doppelte Unendlichkeit. Man &#x017F;tellt &#x017F;ich vor, daß eine &#x017F;olche Kraft das Furcht-<lb/>
bar&#x017F;te wirken könne, das man &#x017F;ich dann gemäß der Natur alles Erhabenen<lb/>
unendlich vor&#x017F;tellen würde; aber man hat zugleich eine Empfindung, als<lb/>
ob eine &#x017F;olche Kraft &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;e Wirkung wieder vernichten und über-<lb/>
bieten könnte. Doch i&#x017F;t dies nur in der Ahnung; die Er&#x017F;cheinung geht<lb/>
auf eine po&#x017F;itive Wirkung los, welche unendlich er&#x017F;cheint nur in dem<lb/>
Sinne, in welchem bei allem Erhabenen das Begrenzte zugleich als<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[249/0263] auch bei dieſen Formen, freilich nur als erſtes Moment, denn das zweite iſt, wie ſich zeigen wird, überall Erhebung. §. 99. Die Kraft, vorzüglich die intenſiv geſammelte, kann aber auch im Ueber- gang zu einem Ausbruch ſchädlicher Art an ſich halten und ſich langſam an- ſchwellend, ihre Bewegung durch Pauſen unterbrechend entladen. Dieſe Form iſt noch poſitiv, aber ſie nähert ſich bereits der negativen, denn die Bewegung, die mit dem vollen Ausbruch zurückhält, ſpannt die Erwartung ſo ſehr, daß die Ahnung einer unendlichen Kraft, welche fähig wäre, die höchſte Wirkung durch eine noch höhere aufzuheben, erweckt wird. Den Eindruck der langſamen und gleichförmig unterbrochenen Bewegung verſtärkt beſonders der leiſe, ebenſo fortſchreitende und anſchwellende Ton. Der wirkliche Ausbruch aber wirkt trotz der Erwartung, ja durch ſie einen ebenſo verdoppelten Schrecken. Burke hat die hier bezeichneten Erſcheinungen fein beobachtet (ſ. a. O. Thl. 2, Abſchn. 18 — 22 ff.). Er ſpricht vorzüglich von der Kraft des unterbrochenen, in Pauſen fortſchreitenden Schalles. Das leiſe, ſteigende Kniſtern einer beginnenden Feuersbrunſt, das zuerſt mäßige, aber anſchwellende Rauſchen einer Ueberſchwemmung, das ferne Grollen eines Gewitters, das feine Pfeifen des Sturms in den Tauen, das Flüſtern und Raunen eines Mordanſchlags iſt durch Erwartung unendlich furchtbar. Anſchwellen der Trommel im Sturmſchlagen. In Pauſen: Marſchmuſik von drohendem Ausdruck, in der Modification des Melancho- liſchen der Todtenmarſch auf der Trommel; auch das Brüllen der ſtürmiſchen See hat einen in immer neu anſchwellende Wiederholung ſich theilenden Takt. Dieſe Form überhaupt nun iſt inſofern bereits negativ, als die Ahnung den noch verborgenen Schooß der Kraft als einen unendlichen vorſtellt. Unendlich muß zwar alles Erhabene erſcheinen. Hier aber iſt es eine ſo zu ſagen ver- doppelte Unendlichkeit. Man ſtellt ſich vor, daß eine ſolche Kraft das Furcht- barſte wirken könne, das man ſich dann gemäß der Natur alles Erhabenen unendlich vorſtellen würde; aber man hat zugleich eine Empfindung, als ob eine ſolche Kraft ſelbſt dieſe Wirkung wieder vernichten und über- bieten könnte. Doch iſt dies nur in der Ahnung; die Erſcheinung geht auf eine poſitive Wirkung los, welche unendlich erſcheint nur in dem Sinne, in welchem bei allem Erhabenen das Begrenzte zugleich als

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/263
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/263>, abgerufen am 26.11.2024.