Prinzessinn im Mährchen, die alle Frösche tödten läßt. Sie folgt dem Gesetze der Abneigung, das in Temperament u. s. w. wurzelt, was vernünftig ausgebildet auch sein Recht hat, und sie verletzt das Natur- gesetz, das Frösche hervorbringt wie Menschen mit diesen oder jenen Abneigungen. Auf der andern Seite gibt es, was ebenhiemit bereits ausgesprochen ist, kein sittliches Gesetz, das nicht seine dunkle Wurzel in der Natur hätte. So oft ich nun ein solches verletze, so verletze ich den heiligen Schooß der Natur, indem ich einem der Zweige, die er in's Licht treibt, vor dem andern Vorrecht gebe. Ich thue dies aber, weil ich selbst mit Natur behaftet bin, ich gebe also meinem Naturgrund einseitig Recht gegen denselben Naturgrund, der jetzt für einen andern seiner zur Pflicht erhobenen Triebe Recht verlangt. Man sieht deutlich, wie sich nun die §. 121, 1 ausgesprochene Einheit beider Hauptformen der Nothwendigkeit bereits auf concrete Weise offenbart. Ich kann aber dieser Verletzung nicht entgehen, denn da ich den Naturgrund zu individueller Form gebildet selbst in mir trage, so bringe ich eine Seite desselben immer zu meiner Handlung mit und verletze die andere, auch berechtigte. Die tragische Handlung muß daher immer so beschaffen seyn, daß man sieht: der Held hat gefehlt und er konnte doch nicht anders handeln. Romeo z. B. fehlt, indem er bei der ersten Nachricht von Juliens Tod sogleich an Selbstmord denkt, sich nicht in Verona erst unterrichtet; allein hätte er die dazu nöthige Ruhe, so wäre er nicht Romeo, nicht diese Feuer-Natur, welche der Dichter zum Repräsentanten der glühenden Jugendliebe brauchte, die Tragödie wäre aufgehoben (vergl. Tiecks Dramaturg. Bl. B. 1, S. 259 ff.). Othello läßt sich von Jago täuschen, er stellt nirgends eine ruhige Untersuchung an; hätte er aber die nöthige Kälte dazu, so wäre er nicht der aus anfangs gefaßter Manneskraft hervorbrechende Vulkan, den die Tragödie fordert. Göthe sagt: "der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat Niemand Gewissen, als der Betrachtende." Dieses Wort ist wahr, wird aber darum keine Natur, die zum Handeln bestimmt ist, von der Handlung abhalten. Diese Gewissenlosigkeit soll und muß seyn. Der Held erschrickt daher vor der Schuld nicht: "man könnte ihm nichts Schlimmeres nachsagen, als daß er unschuldig gehandelt habe. Es ist die Ehre großer Charaktere, schul- dig zu seyn." (Hegel Aesth. B. 3. S. 553). Da nun die ganze geschil- derte Einseitigkeit und Vereinzelung der Handlung, worin die Schuld liegt, ihren letzten Grund in der Einzelheit des Subjects und der ganzen damit gegebenen Bestimmtheit seines Temperaments u. s. w. hat,
Prinzeſſinn im Mährchen, die alle Fröſche tödten läßt. Sie folgt dem Geſetze der Abneigung, das in Temperament u. ſ. w. wurzelt, was vernünftig ausgebildet auch ſein Recht hat, und ſie verletzt das Natur- geſetz, das Fröſche hervorbringt wie Menſchen mit dieſen oder jenen Abneigungen. Auf der andern Seite gibt es, was ebenhiemit bereits ausgeſprochen iſt, kein ſittliches Geſetz, das nicht ſeine dunkle Wurzel in der Natur hätte. So oft ich nun ein ſolches verletze, ſo verletze ich den heiligen Schooß der Natur, indem ich einem der Zweige, die er in’s Licht treibt, vor dem andern Vorrecht gebe. Ich thue dies aber, weil ich ſelbſt mit Natur behaftet bin, ich gebe alſo meinem Naturgrund einſeitig Recht gegen denſelben Naturgrund, der jetzt für einen andern ſeiner zur Pflicht erhobenen Triebe Recht verlangt. Man ſieht deutlich, wie ſich nun die §. 121, 1 ausgeſprochene Einheit beider Hauptformen der Nothwendigkeit bereits auf concrete Weiſe offenbart. Ich kann aber dieſer Verletzung nicht entgehen, denn da ich den Naturgrund zu individueller Form gebildet ſelbſt in mir trage, ſo bringe ich eine Seite deſſelben immer zu meiner Handlung mit und verletze die andere, auch berechtigte. Die tragiſche Handlung muß daher immer ſo beſchaffen ſeyn, daß man ſieht: der Held hat gefehlt und er konnte doch nicht anders handeln. Romeo z. B. fehlt, indem er bei der erſten Nachricht von Juliens Tod ſogleich an Selbſtmord denkt, ſich nicht in Verona erſt unterrichtet; allein hätte er die dazu nöthige Ruhe, ſo wäre er nicht Romeo, nicht dieſe Feuer-Natur, welche der Dichter zum Repräſentanten der glühenden Jugendliebe brauchte, die Tragödie wäre aufgehoben (vergl. Tiecks Dramaturg. Bl. B. 1, S. 259 ff.). Othello läßt ſich von Jago täuſchen, er ſtellt nirgends eine ruhige Unterſuchung an; hätte er aber die nöthige Kälte dazu, ſo wäre er nicht der aus anfangs gefaßter Manneskraft hervorbrechende Vulkan, den die Tragödie fordert. Göthe ſagt: „der Handelnde iſt immer gewiſſenlos; es hat Niemand Gewiſſen, als der Betrachtende.“ Dieſes Wort iſt wahr, wird aber darum keine Natur, die zum Handeln beſtimmt iſt, von der Handlung abhalten. Dieſe Gewiſſenloſigkeit ſoll und muß ſeyn. Der Held erſchrickt daher vor der Schuld nicht: „man könnte ihm nichts Schlimmeres nachſagen, als daß er unſchuldig gehandelt habe. Es iſt die Ehre großer Charaktere, ſchul- dig zu ſeyn.“ (Hegel Aeſth. B. 3. S. 553). Da nun die ganze geſchil- derte Einſeitigkeit und Vereinzelung der Handlung, worin die Schuld liegt, ihren letzten Grund in der Einzelheit des Subjects und der ganzen damit gegebenen Beſtimmtheit ſeines Temperaments u. ſ. w. hat,
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Prinzeſſinn im Mährchen, die alle Fröſche tödten läßt. Sie folgt dem
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geſetz, das Fröſche hervorbringt wie Menſchen mit dieſen oder jenen
Abneigungen. Auf der andern Seite gibt es, was ebenhiemit bereits
ausgeſprochen iſt, kein ſittliches Geſetz, das nicht ſeine dunkle Wurzel
in der Natur hätte. So oft ich nun ein ſolches verletze, ſo verletze ich
den heiligen Schooß der Natur, indem ich einem der Zweige, die er
in’s Licht treibt, vor dem andern Vorrecht gebe. Ich thue dies aber,
weil ich ſelbſt mit Natur behaftet bin, ich gebe alſo meinem Naturgrund
einſeitig Recht gegen denſelben Naturgrund, der jetzt für einen andern
ſeiner zur Pflicht erhobenen Triebe Recht verlangt. Man ſieht deutlich,
wie ſich nun die §. 121, 1 ausgeſprochene Einheit beider Hauptformen der
Nothwendigkeit bereits auf concrete Weiſe offenbart. Ich kann aber dieſer
Verletzung nicht entgehen, denn da ich den Naturgrund zu individueller
Form gebildet ſelbſt in mir trage, ſo bringe ich eine Seite deſſelben
immer zu meiner Handlung mit und verletze die andere, auch berechtigte.
Die tragiſche Handlung muß daher immer ſo beſchaffen ſeyn, daß man
ſieht: der Held hat gefehlt und er konnte doch nicht anders handeln.
Romeo z. B. fehlt, indem er bei der erſten Nachricht von Juliens Tod
ſogleich an Selbſtmord denkt, ſich nicht in Verona erſt unterrichtet;
allein hätte er die dazu nöthige Ruhe, ſo wäre er nicht Romeo, nicht
dieſe Feuer-Natur, welche der Dichter zum Repräſentanten der glühenden
Jugendliebe brauchte, die Tragödie wäre aufgehoben (vergl. Tiecks
Dramaturg. Bl. B. 1, S. 259 ff.). Othello läßt ſich von Jago täuſchen,
er ſtellt nirgends eine ruhige Unterſuchung an; hätte er aber die nöthige
Kälte dazu, ſo wäre er nicht der aus anfangs gefaßter Manneskraft
hervorbrechende Vulkan, den die Tragödie fordert. Göthe ſagt: „der
Handelnde iſt immer gewiſſenlos; es hat Niemand Gewiſſen, als der
Betrachtende.“ Dieſes Wort iſt wahr, wird aber darum keine Natur,
die zum Handeln beſtimmt iſt, von der Handlung abhalten. Dieſe
Gewiſſenloſigkeit ſoll und muß ſeyn. Der Held erſchrickt daher vor der
Schuld nicht: „man könnte ihm nichts Schlimmeres nachſagen, als daß
er unſchuldig gehandelt habe. Es iſt die Ehre großer Charaktere, ſchul-
dig zu ſeyn.“ (Hegel Aeſth. B. 3. S. 553). Da nun die ganze geſchil-
derte Einſeitigkeit und Vereinzelung der Handlung, worin die Schuld
liegt, ihren letzten Grund in der Einzelheit des Subjects und der
ganzen damit gegebenen Beſtimmtheit ſeines Temperaments u. ſ. w. hat,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/301>, abgerufen am 22.11.2024.
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