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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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als Mittel gebraucht, im strengsten Sinne schuldig und verfällt dem
allgemeinen blutigen Gerichte, ebenso Chriemhilde, die zuerst die Schuld
beging, Sigfrieds Geheimniß mit Entstellung der Wahrheit aus Weiber-
zorn zu verrathen, dafür durch Hagen über alles Verhältniß leidet, dann
Rache übt, aber jedes Maß überschreitet und nun abermals der neuen,
letzten Strafe verfällt. So wirft sich Schuld und Strafe herüber und
hinüber; der Begriff hat es aber mit den einfachen Grundverhältnissen
zu thun. Elisabeth in Schillers Maria Stuart ist gegen diese nicht im
Rechte, denn des Verbrechens, wofür sie eingekerkert und zum Tode
verdammt wird, ist sie nicht überwiesen noch geständig. Elisabeth selbst
wird daher die Schuldige und verfällt am Ende, verlassen von dem
beliebtesten Günstlinge, der Last ihres Bewußtseyns. Leidet nun die
schuldige Hauptperson durch solche, welche durch ihre Schuld nicht ver-
letzt waren, wie Maria Stuart, so muß das Bewußtseyn derselben den
inneren Zusammenhang zwischen Schuld und Uebel herstellen. Das beste
Beispiel ist eben die Letztere, welche versöhnt, im Gefühle, durch den
unverdienten Tod ihre wahre Schuld zu büßen, in den Tod geht.

3. Das "äußerste Uebel" ist der Tod nur im objectiven Sinne;
Ajax, Othello tödten sich selbst, weil ihnen der Tod gegen die Qual
des Bewußtseyns subjectiv noch als Gut erscheint. Oedipus blendet sich,
weil er das Licht nicht mehr sehen kann, das ihm Unerträgliches zeigt,
Don Cesar in der Braut von Messina reinigt seine Schuld ebenfalls durch
den Tod und spricht aus, daß das Leben der Güter höchstes nicht ist.
Mit Murren erkennt der Böse in der organischen Selbstzerstörung seines
Werks die gerechte Ordnung der Dinge. Die eigentliche Selbstzerstörung
aber ist die Qual das Ich, das sich entfliehen möchte und nicht kann.
Das sittliche Bewußtseyn ist nun eine Macht, die wie ein fremder Geist,
der zugleich das eigene Ich und dessen Feind und Richter ist, aus dem
Bösewicht selbst zu ihm spricht. Macbeth und Richard III enthalten
berühmte Stellen dieses Inhalts. Es ist dies die negative und dadurch
um so stärkere Form der Anerkennung. -- Die Selbstzerstörung des Bösen
ist schon in §. 109 aufgeführt, dort, um den Uebergang zum Erhabenen
des guten Willens zu vermitteln, also eben nur als verschwindendes
Durchgangsmoment; hier aber tritt sie als Schauspiel für sich, als
selbständige Form auf, die freilich auch so den Aufgang des Guten als
ihre andere Seite in sich trägt. Richmond ist das Positive des Negativen
in Richard.


als Mittel gebraucht, im ſtrengſten Sinne ſchuldig und verfällt dem
allgemeinen blutigen Gerichte, ebenſo Chriemhilde, die zuerſt die Schuld
beging, Sigfrieds Geheimniß mit Entſtellung der Wahrheit aus Weiber-
zorn zu verrathen, dafür durch Hagen über alles Verhältniß leidet, dann
Rache übt, aber jedes Maß überſchreitet und nun abermals der neuen,
letzten Strafe verfällt. So wirft ſich Schuld und Strafe herüber und
hinüber; der Begriff hat es aber mit den einfachen Grundverhältniſſen
zu thun. Eliſabeth in Schillers Maria Stuart iſt gegen dieſe nicht im
Rechte, denn des Verbrechens, wofür ſie eingekerkert und zum Tode
verdammt wird, iſt ſie nicht überwieſen noch geſtändig. Eliſabeth ſelbſt
wird daher die Schuldige und verfällt am Ende, verlaſſen von dem
beliebteſten Günſtlinge, der Laſt ihres Bewußtſeyns. Leidet nun die
ſchuldige Hauptperſon durch ſolche, welche durch ihre Schuld nicht ver-
letzt waren, wie Maria Stuart, ſo muß das Bewußtſeyn derſelben den
inneren Zuſammenhang zwiſchen Schuld und Uebel herſtellen. Das beſte
Beiſpiel iſt eben die Letztere, welche verſöhnt, im Gefühle, durch den
unverdienten Tod ihre wahre Schuld zu büßen, in den Tod geht.

3. Das „äußerſte Uebel“ iſt der Tod nur im objectiven Sinne;
Ajax, Othello tödten ſich ſelbſt, weil ihnen der Tod gegen die Qual
des Bewußtſeyns ſubjectiv noch als Gut erſcheint. Oedipus blendet ſich,
weil er das Licht nicht mehr ſehen kann, das ihm Unerträgliches zeigt,
Don Ceſar in der Braut von Meſſina reinigt ſeine Schuld ebenfalls durch
den Tod und ſpricht aus, daß das Leben der Güter höchſtes nicht iſt.
Mit Murren erkennt der Böſe in der organiſchen Selbſtzerſtörung ſeines
Werks die gerechte Ordnung der Dinge. Die eigentliche Selbſtzerſtörung
aber iſt die Qual das Ich, das ſich entfliehen möchte und nicht kann.
Das ſittliche Bewußtſeyn iſt nun eine Macht, die wie ein fremder Geiſt,
der zugleich das eigene Ich und deſſen Feind und Richter iſt, aus dem
Böſewicht ſelbſt zu ihm ſpricht. Macbeth und Richard III enthalten
berühmte Stellen dieſes Inhalts. Es iſt dies die negative und dadurch
um ſo ſtärkere Form der Anerkennung. — Die Selbſtzerſtörung des Böſen
iſt ſchon in §. 109 aufgeführt, dort, um den Uebergang zum Erhabenen
des guten Willens zu vermitteln, alſo eben nur als verſchwindendes
Durchgangsmoment; hier aber tritt ſie als Schauſpiel für ſich, als
ſelbſtändige Form auf, die freilich auch ſo den Aufgang des Guten als
ihre andere Seite in ſich trägt. Richmond iſt das Poſitive des Negativen
in Richard.


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[310/0324] als Mittel gebraucht, im ſtrengſten Sinne ſchuldig und verfällt dem allgemeinen blutigen Gerichte, ebenſo Chriemhilde, die zuerſt die Schuld beging, Sigfrieds Geheimniß mit Entſtellung der Wahrheit aus Weiber- zorn zu verrathen, dafür durch Hagen über alles Verhältniß leidet, dann Rache übt, aber jedes Maß überſchreitet und nun abermals der neuen, letzten Strafe verfällt. So wirft ſich Schuld und Strafe herüber und hinüber; der Begriff hat es aber mit den einfachen Grundverhältniſſen zu thun. Eliſabeth in Schillers Maria Stuart iſt gegen dieſe nicht im Rechte, denn des Verbrechens, wofür ſie eingekerkert und zum Tode verdammt wird, iſt ſie nicht überwieſen noch geſtändig. Eliſabeth ſelbſt wird daher die Schuldige und verfällt am Ende, verlaſſen von dem beliebteſten Günſtlinge, der Laſt ihres Bewußtſeyns. Leidet nun die ſchuldige Hauptperſon durch ſolche, welche durch ihre Schuld nicht ver- letzt waren, wie Maria Stuart, ſo muß das Bewußtſeyn derſelben den inneren Zuſammenhang zwiſchen Schuld und Uebel herſtellen. Das beſte Beiſpiel iſt eben die Letztere, welche verſöhnt, im Gefühle, durch den unverdienten Tod ihre wahre Schuld zu büßen, in den Tod geht. 3. Das „äußerſte Uebel“ iſt der Tod nur im objectiven Sinne; Ajax, Othello tödten ſich ſelbſt, weil ihnen der Tod gegen die Qual des Bewußtſeyns ſubjectiv noch als Gut erſcheint. Oedipus blendet ſich, weil er das Licht nicht mehr ſehen kann, das ihm Unerträgliches zeigt, Don Ceſar in der Braut von Meſſina reinigt ſeine Schuld ebenfalls durch den Tod und ſpricht aus, daß das Leben der Güter höchſtes nicht iſt. Mit Murren erkennt der Böſe in der organiſchen Selbſtzerſtörung ſeines Werks die gerechte Ordnung der Dinge. Die eigentliche Selbſtzerſtörung aber iſt die Qual das Ich, das ſich entfliehen möchte und nicht kann. Das ſittliche Bewußtſeyn iſt nun eine Macht, die wie ein fremder Geiſt, der zugleich das eigene Ich und deſſen Feind und Richter iſt, aus dem Böſewicht ſelbſt zu ihm ſpricht. Macbeth und Richard III enthalten berühmte Stellen dieſes Inhalts. Es iſt dies die negative und dadurch um ſo ſtärkere Form der Anerkennung. — Die Selbſtzerſtörung des Böſen iſt ſchon in §. 109 aufgeführt, dort, um den Uebergang zum Erhabenen des guten Willens zu vermitteln, alſo eben nur als verſchwindendes Durchgangsmoment; hier aber tritt ſie als Schauſpiel für ſich, als ſelbſtändige Form auf, die freilich auch ſo den Aufgang des Guten als ihre andere Seite in ſich trägt. Richmond iſt das Poſitive des Negativen in Richard.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/324>, abgerufen am 22.11.2024.