Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Kategorie der, jederzeit Furcht erregenden, Kraft befaßt wird (§. 95. 96)
überhaupt als Furcht bezeichnet werden, nur daß die Furcht bei den zwei ersten
2Formen nicht eine so gewaltsame ist, wie bei der dritten. Nun ist in §. 102
dieser ganzen Stufe des Erhabenen die wahre Unendlichkeit abgesprochen und für
eine Täuschung im Subjecte erklärt worden, das vorgreifend seine Unendlich-
keit dem Gegenstande unterschiebt. Diese Wahrheit macht Kant in dem Sinne
geltend, daß er die Erhebung aus der Unlust in ein Besinnen des Subjects
auf seine eigene, wahre Unendlichkeit setzt und nun erst eine Subreption an-
nimmt, durch welche es die Achtung vor seiner Vernunftbestimmung auf den
Gegenstand übertrage. Allein sobald diese Besinnung wirklich eintritt, ist nicht
nur die Erhebung abgeschnitten, sondern auch die Furcht aufgehoben. Vielmehr
setzt das Subject seine Täuschung dahin fort, daß ihm auch seine wahre, geistige
Unendlichkeit wie eine sinnliche Macht erscheint, daß es sich selbst zu einer
grenzenlosen Größe und Kraft erweitert und so mit dem Gegenstande in Eins
zusammengeflossen sich in's Unendliche fortströmend und durchaus muthig fühlt.

1. Daß die Furcht keine wirkliche seyn darf, ist schon in §. 99, 2
gesagt. -- Die Furcht gegenüber der eigentlichen Kraft ist deßwegen eine
gewaltsamere, weil eine wirkliche Zerstörung der Glieder unseres Körpers
vorgestellt wird, wogegen wir bei Anschauung des räumlich und zeitlich
Erhabenen zwar bald hinauf- und hinauszufließen oder wie in einen
Abgrund bodenlos zu sinken fürchten, aber ohne die Vorstellung einer
Wunde.

2. Hier ist ein, durch die ganze Lehre vom Erhabenen bei Kant
a. a. O. §. 23--29 sich hindurchziehender, aus dem Subjectivismus
des ganzen Standpunkts fließender Irrthum aufzudecken. Kant weist
nach, daß in der ganzen Natur keine absolute Größe zu finden ist,
welche doch zum Erhabenen gefordert wird. Die absolute Größe als
Totalität ist Idee eines Noumens, das nur im Subjecte liegt und der
Sinnenwelt als Substrat untergeschoben wird. Das eigentliche Gefühl ist
daher (a. a. O. §. 27) Achtung für unsere eigene Bestimmung, für
das Vermögen unseres Gemüths, das Unendliche als Ganzes denken
zu können, für die Ideen der Vernunft, die nur dem Subjecte ange-
hören, und Kant findet daher (§. 25) die Formel: "erhaben ist,
was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths
beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft
." Hierauf
läßt er denn die Subreption eintreten: "also ist das Gefühl des Er-

Kategorie der, jederzeit Furcht erregenden, Kraft befaßt wird (§. 95. 96)
überhaupt als Furcht bezeichnet werden, nur daß die Furcht bei den zwei erſten
2Formen nicht eine ſo gewaltſame iſt, wie bei der dritten. Nun iſt in §. 102
dieſer ganzen Stufe des Erhabenen die wahre Unendlichkeit abgeſprochen und für
eine Täuſchung im Subjecte erklärt worden, das vorgreifend ſeine Unendlich-
keit dem Gegenſtande unterſchiebt. Dieſe Wahrheit macht Kant in dem Sinne
geltend, daß er die Erhebung aus der Unluſt in ein Beſinnen des Subjects
auf ſeine eigene, wahre Unendlichkeit ſetzt und nun erſt eine Subreption an-
nimmt, durch welche es die Achtung vor ſeiner Vernunftbeſtimmung auf den
Gegenſtand übertrage. Allein ſobald dieſe Beſinnung wirklich eintritt, iſt nicht
nur die Erhebung abgeſchnitten, ſondern auch die Furcht aufgehoben. Vielmehr
ſetzt das Subject ſeine Täuſchung dahin fort, daß ihm auch ſeine wahre, geiſtige
Unendlichkeit wie eine ſinnliche Macht erſcheint, daß es ſich ſelbſt zu einer
grenzenloſen Größe und Kraft erweitert und ſo mit dem Gegenſtande in Eins
zuſammengefloſſen ſich in’s Unendliche fortſtrömend und durchaus muthig fühlt.

1. Daß die Furcht keine wirkliche ſeyn darf, iſt ſchon in §. 99, 2
geſagt. — Die Furcht gegenüber der eigentlichen Kraft iſt deßwegen eine
gewaltſamere, weil eine wirkliche Zerſtörung der Glieder unſeres Körpers
vorgeſtellt wird, wogegen wir bei Anſchauung des räumlich und zeitlich
Erhabenen zwar bald hinauf- und hinauszufließen oder wie in einen
Abgrund bodenlos zu ſinken fürchten, aber ohne die Vorſtellung einer
Wunde.

2. Hier iſt ein, durch die ganze Lehre vom Erhabenen bei Kant
a. a. O. §. 23—29 ſich hindurchziehender, aus dem Subjectivismus
des ganzen Standpunkts fließender Irrthum aufzudecken. Kant weist
nach, daß in der ganzen Natur keine abſolute Größe zu finden iſt,
welche doch zum Erhabenen gefordert wird. Die abſolute Größe als
Totalität iſt Idee eines Noumens, das nur im Subjecte liegt und der
Sinnenwelt als Subſtrat untergeſchoben wird. Das eigentliche Gefühl iſt
daher (a. a. O. §. 27) Achtung für unſere eigene Beſtimmung, für
das Vermögen unſeres Gemüths, das Unendliche als Ganzes denken
zu können, für die Ideen der Vernunft, die nur dem Subjecte ange-
hören, und Kant findet daher (§. 25) die Formel: „erhaben iſt,
was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths
beweiſet, das jeden Maßſtab der Sinne übertrifft
.“ Hierauf
läßt er denn die Subreption eintreten: „alſo iſt das Gefühl des Er-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p>
                  <pb facs="#f0338" n="324"/> <hi rendition="#fr">Kategorie der, jederzeit Furcht erregenden, Kraft befaßt wird (§. 95. 96)<lb/>
überhaupt als Furcht bezeichnet werden, nur daß die Furcht bei den zwei er&#x017F;ten<lb/><note place="left">2</note>Formen nicht eine &#x017F;o gewalt&#x017F;ame i&#x017F;t, wie bei der dritten. Nun i&#x017F;t in §. 102<lb/>
die&#x017F;er ganzen Stufe des Erhabenen die wahre Unendlichkeit abge&#x017F;prochen und für<lb/>
eine Täu&#x017F;chung im Subjecte erklärt worden, das vorgreifend <hi rendition="#g">&#x017F;eine</hi> Unendlich-<lb/>
keit dem Gegen&#x017F;tande unter&#x017F;chiebt. Die&#x017F;e Wahrheit macht <hi rendition="#g">Kant</hi> in dem Sinne<lb/>
geltend, daß er die Erhebung aus der Unlu&#x017F;t in ein Be&#x017F;innen des Subjects<lb/>
auf &#x017F;eine eigene, wahre Unendlichkeit &#x017F;etzt und nun er&#x017F;t eine Subreption an-<lb/>
nimmt, durch welche es die Achtung vor &#x017F;einer Vernunftbe&#x017F;timmung auf den<lb/>
Gegen&#x017F;tand übertrage. Allein &#x017F;obald die&#x017F;e Be&#x017F;innung wirklich eintritt, i&#x017F;t nicht<lb/>
nur die Erhebung abge&#x017F;chnitten, &#x017F;ondern auch die Furcht aufgehoben. Vielmehr<lb/>
&#x017F;etzt das Subject &#x017F;eine Täu&#x017F;chung dahin fort, daß ihm auch &#x017F;eine wahre, gei&#x017F;tige<lb/>
Unendlichkeit wie eine &#x017F;innliche Macht er&#x017F;cheint, daß es &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu einer<lb/>
grenzenlo&#x017F;en Größe und Kraft erweitert und &#x017F;o mit dem Gegen&#x017F;tande in Eins<lb/>
zu&#x017F;ammengeflo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich in&#x2019;s Unendliche fort&#x017F;trömend und durchaus muthig fühlt.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">1. Daß die Furcht keine wirkliche &#x017F;eyn darf, i&#x017F;t &#x017F;chon in §. 99, <hi rendition="#sub">2</hi><lb/>
ge&#x017F;agt. &#x2014; Die Furcht gegenüber der eigentlichen Kraft i&#x017F;t deßwegen eine<lb/>
gewalt&#x017F;amere, weil eine wirkliche Zer&#x017F;törung der Glieder un&#x017F;eres Körpers<lb/>
vorge&#x017F;tellt wird, wogegen wir bei An&#x017F;chauung des räumlich und zeitlich<lb/>
Erhabenen zwar bald hinauf- und hinauszufließen oder wie in einen<lb/>
Abgrund bodenlos zu &#x017F;inken fürchten, aber ohne die Vor&#x017F;tellung einer<lb/>
Wunde.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">2. Hier i&#x017F;t ein, durch die ganze Lehre vom Erhabenen bei <hi rendition="#g">Kant</hi><lb/>
a. a. O. §. 23&#x2014;29 &#x017F;ich hindurchziehender, aus dem Subjectivismus<lb/>
des ganzen Standpunkts fließender Irrthum aufzudecken. <hi rendition="#g">Kant</hi> weist<lb/>
nach, daß in der ganzen Natur keine ab&#x017F;olute Größe zu finden i&#x017F;t,<lb/>
welche doch zum Erhabenen gefordert wird. Die ab&#x017F;olute Größe als<lb/>
Totalität i&#x017F;t Idee eines Noumens, das nur im Subjecte liegt und der<lb/>
Sinnenwelt als Sub&#x017F;trat unterge&#x017F;choben wird. Das eigentliche Gefühl i&#x017F;t<lb/>
daher (a. a. O. §. 27) <hi rendition="#g">Achtung</hi> für un&#x017F;ere eigene Be&#x017F;timmung, für<lb/>
das Vermögen un&#x017F;eres Gemüths, das Unendliche als Ganzes denken<lb/>
zu können, für die Ideen der Vernunft, die nur dem Subjecte ange-<lb/>
hören, und <hi rendition="#g">Kant</hi> findet daher (§. 25) die Formel: &#x201E;<hi rendition="#g">erhaben i&#x017F;t,<lb/>
was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths<lb/>
bewei&#x017F;et, das jeden Maß&#x017F;tab der Sinne übertrifft</hi>.&#x201C; Hierauf<lb/>
läßt er denn die Subreption eintreten: &#x201E;al&#x017F;o i&#x017F;t das Gefühl des Er-<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[324/0338] Kategorie der, jederzeit Furcht erregenden, Kraft befaßt wird (§. 95. 96) überhaupt als Furcht bezeichnet werden, nur daß die Furcht bei den zwei erſten Formen nicht eine ſo gewaltſame iſt, wie bei der dritten. Nun iſt in §. 102 dieſer ganzen Stufe des Erhabenen die wahre Unendlichkeit abgeſprochen und für eine Täuſchung im Subjecte erklärt worden, das vorgreifend ſeine Unendlich- keit dem Gegenſtande unterſchiebt. Dieſe Wahrheit macht Kant in dem Sinne geltend, daß er die Erhebung aus der Unluſt in ein Beſinnen des Subjects auf ſeine eigene, wahre Unendlichkeit ſetzt und nun erſt eine Subreption an- nimmt, durch welche es die Achtung vor ſeiner Vernunftbeſtimmung auf den Gegenſtand übertrage. Allein ſobald dieſe Beſinnung wirklich eintritt, iſt nicht nur die Erhebung abgeſchnitten, ſondern auch die Furcht aufgehoben. Vielmehr ſetzt das Subject ſeine Täuſchung dahin fort, daß ihm auch ſeine wahre, geiſtige Unendlichkeit wie eine ſinnliche Macht erſcheint, daß es ſich ſelbſt zu einer grenzenloſen Größe und Kraft erweitert und ſo mit dem Gegenſtande in Eins zuſammengefloſſen ſich in’s Unendliche fortſtrömend und durchaus muthig fühlt. 1. Daß die Furcht keine wirkliche ſeyn darf, iſt ſchon in §. 99, 2 geſagt. — Die Furcht gegenüber der eigentlichen Kraft iſt deßwegen eine gewaltſamere, weil eine wirkliche Zerſtörung der Glieder unſeres Körpers vorgeſtellt wird, wogegen wir bei Anſchauung des räumlich und zeitlich Erhabenen zwar bald hinauf- und hinauszufließen oder wie in einen Abgrund bodenlos zu ſinken fürchten, aber ohne die Vorſtellung einer Wunde. 2. Hier iſt ein, durch die ganze Lehre vom Erhabenen bei Kant a. a. O. §. 23—29 ſich hindurchziehender, aus dem Subjectivismus des ganzen Standpunkts fließender Irrthum aufzudecken. Kant weist nach, daß in der ganzen Natur keine abſolute Größe zu finden iſt, welche doch zum Erhabenen gefordert wird. Die abſolute Größe als Totalität iſt Idee eines Noumens, das nur im Subjecte liegt und der Sinnenwelt als Subſtrat untergeſchoben wird. Das eigentliche Gefühl iſt daher (a. a. O. §. 27) Achtung für unſere eigene Beſtimmung, für das Vermögen unſeres Gemüths, das Unendliche als Ganzes denken zu können, für die Ideen der Vernunft, die nur dem Subjecte ange- hören, und Kant findet daher (§. 25) die Formel: „erhaben iſt, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths beweiſet, das jeden Maßſtab der Sinne übertrifft.“ Hierauf läßt er denn die Subreption eintreten: „alſo iſt das Gefühl des Er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/338
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/338>, abgerufen am 22.11.2024.