Kategorie der, jederzeit Furcht erregenden, Kraft befaßt wird (§. 95. 96) überhaupt als Furcht bezeichnet werden, nur daß die Furcht bei den zwei ersten 2Formen nicht eine so gewaltsame ist, wie bei der dritten. Nun ist in §. 102 dieser ganzen Stufe des Erhabenen die wahre Unendlichkeit abgesprochen und für eine Täuschung im Subjecte erklärt worden, das vorgreifend seine Unendlich- keit dem Gegenstande unterschiebt. Diese Wahrheit macht Kant in dem Sinne geltend, daß er die Erhebung aus der Unlust in ein Besinnen des Subjects auf seine eigene, wahre Unendlichkeit setzt und nun erst eine Subreption an- nimmt, durch welche es die Achtung vor seiner Vernunftbestimmung auf den Gegenstand übertrage. Allein sobald diese Besinnung wirklich eintritt, ist nicht nur die Erhebung abgeschnitten, sondern auch die Furcht aufgehoben. Vielmehr setzt das Subject seine Täuschung dahin fort, daß ihm auch seine wahre, geistige Unendlichkeit wie eine sinnliche Macht erscheint, daß es sich selbst zu einer grenzenlosen Größe und Kraft erweitert und so mit dem Gegenstande in Eins zusammengeflossen sich in's Unendliche fortströmend und durchaus muthig fühlt.
1. Daß die Furcht keine wirkliche seyn darf, ist schon in §. 99, 2 gesagt. -- Die Furcht gegenüber der eigentlichen Kraft ist deßwegen eine gewaltsamere, weil eine wirkliche Zerstörung der Glieder unseres Körpers vorgestellt wird, wogegen wir bei Anschauung des räumlich und zeitlich Erhabenen zwar bald hinauf- und hinauszufließen oder wie in einen Abgrund bodenlos zu sinken fürchten, aber ohne die Vorstellung einer Wunde.
2. Hier ist ein, durch die ganze Lehre vom Erhabenen bei Kant a. a. O. §. 23--29 sich hindurchziehender, aus dem Subjectivismus des ganzen Standpunkts fließender Irrthum aufzudecken. Kant weist nach, daß in der ganzen Natur keine absolute Größe zu finden ist, welche doch zum Erhabenen gefordert wird. Die absolute Größe als Totalität ist Idee eines Noumens, das nur im Subjecte liegt und der Sinnenwelt als Substrat untergeschoben wird. Das eigentliche Gefühl ist daher (a. a. O. §. 27) Achtung für unsere eigene Bestimmung, für das Vermögen unseres Gemüths, das Unendliche als Ganzes denken zu können, für die Ideen der Vernunft, die nur dem Subjecte ange- hören, und Kant findet daher (§. 25) die Formel: "erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft." Hierauf läßt er denn die Subreption eintreten: "also ist das Gefühl des Er-
Kategorie der, jederzeit Furcht erregenden, Kraft befaßt wird (§. 95. 96) überhaupt als Furcht bezeichnet werden, nur daß die Furcht bei den zwei erſten 2Formen nicht eine ſo gewaltſame iſt, wie bei der dritten. Nun iſt in §. 102 dieſer ganzen Stufe des Erhabenen die wahre Unendlichkeit abgeſprochen und für eine Täuſchung im Subjecte erklärt worden, das vorgreifend ſeine Unendlich- keit dem Gegenſtande unterſchiebt. Dieſe Wahrheit macht Kant in dem Sinne geltend, daß er die Erhebung aus der Unluſt in ein Beſinnen des Subjects auf ſeine eigene, wahre Unendlichkeit ſetzt und nun erſt eine Subreption an- nimmt, durch welche es die Achtung vor ſeiner Vernunftbeſtimmung auf den Gegenſtand übertrage. Allein ſobald dieſe Beſinnung wirklich eintritt, iſt nicht nur die Erhebung abgeſchnitten, ſondern auch die Furcht aufgehoben. Vielmehr ſetzt das Subject ſeine Täuſchung dahin fort, daß ihm auch ſeine wahre, geiſtige Unendlichkeit wie eine ſinnliche Macht erſcheint, daß es ſich ſelbſt zu einer grenzenloſen Größe und Kraft erweitert und ſo mit dem Gegenſtande in Eins zuſammengefloſſen ſich in’s Unendliche fortſtrömend und durchaus muthig fühlt.
1. Daß die Furcht keine wirkliche ſeyn darf, iſt ſchon in §. 99, 2 geſagt. — Die Furcht gegenüber der eigentlichen Kraft iſt deßwegen eine gewaltſamere, weil eine wirkliche Zerſtörung der Glieder unſeres Körpers vorgeſtellt wird, wogegen wir bei Anſchauung des räumlich und zeitlich Erhabenen zwar bald hinauf- und hinauszufließen oder wie in einen Abgrund bodenlos zu ſinken fürchten, aber ohne die Vorſtellung einer Wunde.
2. Hier iſt ein, durch die ganze Lehre vom Erhabenen bei Kant a. a. O. §. 23—29 ſich hindurchziehender, aus dem Subjectivismus des ganzen Standpunkts fließender Irrthum aufzudecken. Kant weist nach, daß in der ganzen Natur keine abſolute Größe zu finden iſt, welche doch zum Erhabenen gefordert wird. Die abſolute Größe als Totalität iſt Idee eines Noumens, das nur im Subjecte liegt und der Sinnenwelt als Subſtrat untergeſchoben wird. Das eigentliche Gefühl iſt daher (a. a. O. §. 27) Achtung für unſere eigene Beſtimmung, für das Vermögen unſeres Gemüths, das Unendliche als Ganzes denken zu können, für die Ideen der Vernunft, die nur dem Subjecte ange- hören, und Kant findet daher (§. 25) die Formel: „erhaben iſt, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths beweiſet, das jeden Maßſtab der Sinne übertrifft.“ Hierauf läßt er denn die Subreption eintreten: „alſo iſt das Gefühl des Er-
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Kategorie der, jederzeit Furcht erregenden, Kraft befaßt wird (§. 95. 96)
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Formen nicht eine ſo gewaltſame iſt, wie bei der dritten. Nun iſt in §. 102
dieſer ganzen Stufe des Erhabenen die wahre Unendlichkeit abgeſprochen und für
eine Täuſchung im Subjecte erklärt worden, das vorgreifend ſeine Unendlich-
keit dem Gegenſtande unterſchiebt. Dieſe Wahrheit macht Kant in dem Sinne
geltend, daß er die Erhebung aus der Unluſt in ein Beſinnen des Subjects
auf ſeine eigene, wahre Unendlichkeit ſetzt und nun erſt eine Subreption an-
nimmt, durch welche es die Achtung vor ſeiner Vernunftbeſtimmung auf den
Gegenſtand übertrage. Allein ſobald dieſe Beſinnung wirklich eintritt, iſt nicht
nur die Erhebung abgeſchnitten, ſondern auch die Furcht aufgehoben. Vielmehr
ſetzt das Subject ſeine Täuſchung dahin fort, daß ihm auch ſeine wahre, geiſtige
Unendlichkeit wie eine ſinnliche Macht erſcheint, daß es ſich ſelbſt zu einer
grenzenloſen Größe und Kraft erweitert und ſo mit dem Gegenſtande in Eins
zuſammengefloſſen ſich in’s Unendliche fortſtrömend und durchaus muthig fühlt.
1. Daß die Furcht keine wirkliche ſeyn darf, iſt ſchon in §. 99, 2
geſagt. — Die Furcht gegenüber der eigentlichen Kraft iſt deßwegen eine
gewaltſamere, weil eine wirkliche Zerſtörung der Glieder unſeres Körpers
vorgeſtellt wird, wogegen wir bei Anſchauung des räumlich und zeitlich
Erhabenen zwar bald hinauf- und hinauszufließen oder wie in einen
Abgrund bodenlos zu ſinken fürchten, aber ohne die Vorſtellung einer
Wunde.
2. Hier iſt ein, durch die ganze Lehre vom Erhabenen bei Kant
a. a. O. §. 23—29 ſich hindurchziehender, aus dem Subjectivismus
des ganzen Standpunkts fließender Irrthum aufzudecken. Kant weist
nach, daß in der ganzen Natur keine abſolute Größe zu finden iſt,
welche doch zum Erhabenen gefordert wird. Die abſolute Größe als
Totalität iſt Idee eines Noumens, das nur im Subjecte liegt und der
Sinnenwelt als Subſtrat untergeſchoben wird. Das eigentliche Gefühl iſt
daher (a. a. O. §. 27) Achtung für unſere eigene Beſtimmung, für
das Vermögen unſeres Gemüths, das Unendliche als Ganzes denken
zu können, für die Ideen der Vernunft, die nur dem Subjecte ange-
hören, und Kant findet daher (§. 25) die Formel: „erhaben iſt,
was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths
beweiſet, das jeden Maßſtab der Sinne übertrifft.“ Hierauf
läßt er denn die Subreption eintreten: „alſo iſt das Gefühl des Er-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/338>, abgerufen am 22.11.2024.
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