Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

wird diese fortwährend; da sie aber durch die Besinnung bejaht wird als dem3
häßlichen Subjecte selbst inwohnend, so trifft die Negation die Idee nur als
solche, welche sich die Miene gibt, sich vom Bilde loszureißen und in das
Unendliche zu entfernen, d. h. als Idee in der Form der Erhabenheit. Der
Sinn ist also, die Negation im Erhabenen, d. h. die Entfremdung der Idee
als einer über die Grenze übergreifenden und daher von außen kommenden
zu negiren und vielmehr geltend zu machen, daß das Bild trotz seiner allen
Brechungen des Zufalls hingegebenen Einzelheit völlig im Besitze der Idee ist.
Solger.

1. Die Besinnung muß erscheinen. Dieses Erscheinen muß irgend
eine auf die sinnliche Oberfläche der angeschauten Persönlichkeit tretende
Form seyn. Da hier vorerst noch ungewiß ist, wie streng der Satz zu
nehmen sey, daß die Besinnung vom Zuschauer in das angeschaute Subject
übergehen muß, so halte man zunächst nur fest: eine Möglichkeit, zur
Besinnung zurückzukehren, muß man diesem mitten in der Verkehrung
ansehen, eine Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, eine Flüssigkeit des
Gemüths. Falstaff muß mitten in seinen Schlechtigkeiten in jedem Zuge
die Laune zeigen, sich in jedem Augenblick durch ein Hineinsehen in sich
zu absolviren. So lange dies nicht entbunden ist, ist die Besinnung als
wirkliche erst im Zuschauer. Ist dieser in dem ästhetischen Acte selbst
als Person betheiligt, so muß diese Freiheit des Gemüths unbedingt an
ihm erscheinen, wie an Falstaff immer, wenn er über seine Kameraden
Witze macht. Ist aber der Zuschauer außer dem ästhetischen Acte, so
ist die Sache schwieriger. Dann entsteht insbesondere die Frage, ob
der blose Witz über ein seiner Häßlichkeit noch nicht bewußtes Subject
auch ästhetisch sey. Hierüber muß in der Lehre vom Witze die Rede
seyn; vor der Hand aber erwäge man wenigstens, daß auch bei einem
blos gelesenen oder gehörten Witzwort die Phantasie sich den Gegenstand
des Witzes vermöge ihrer schlechtweg veranschaulichenden Natur innerlich
immer vorstellen wird, und zwar als einen besinnungsfähigen, elastischen.
J. Paul (Vorsch. d. Aesth. Th. 1, §. 28) fordert eine anschauliche Handlung
zu allem Komischen. Ruge bestreitet dies (a. a. O. S. 119): "die
sinnliche Anschaulichkeit ist nicht nöthig: man kann in sich selbst über
sich selbst, indem man seine Gedankenthätigkeit als die Verwirrung
des Geistes anschaut, lachen." Dies geht aber aus allem Aesthetischen
heraus. In diesem rein innerlichen Acte muß, wenn er ästhetisch seyn
soll, auch dies vor sich gehen, daß ich mich als den Irrenden innerlich

wird dieſe fortwährend; da ſie aber durch die Beſinnung bejaht wird als dem3
häßlichen Subjecte ſelbſt inwohnend, ſo trifft die Negation die Idee nur als
ſolche, welche ſich die Miene gibt, ſich vom Bilde loszureißen und in das
Unendliche zu entfernen, d. h. als Idee in der Form der Erhabenheit. Der
Sinn iſt alſo, die Negation im Erhabenen, d. h. die Entfremdung der Idee
als einer über die Grenze übergreifenden und daher von außen kommenden
zu negiren und vielmehr geltend zu machen, daß das Bild trotz ſeiner allen
Brechungen des Zufalls hingegebenen Einzelheit völlig im Beſitze der Idee iſt.
Solger.

1. Die Beſinnung muß erſcheinen. Dieſes Erſcheinen muß irgend
eine auf die ſinnliche Oberfläche der angeſchauten Perſönlichkeit tretende
Form ſeyn. Da hier vorerſt noch ungewiß iſt, wie ſtreng der Satz zu
nehmen ſey, daß die Beſinnung vom Zuſchauer in das angeſchaute Subject
übergehen muß, ſo halte man zunächſt nur feſt: eine Möglichkeit, zur
Beſinnung zurückzukehren, muß man dieſem mitten in der Verkehrung
anſehen, eine Fähigkeit, über ſich ſelbſt zu lachen, eine Flüſſigkeit des
Gemüths. Falſtaff muß mitten in ſeinen Schlechtigkeiten in jedem Zuge
die Laune zeigen, ſich in jedem Augenblick durch ein Hineinſehen in ſich
zu abſolviren. So lange dies nicht entbunden iſt, iſt die Beſinnung als
wirkliche erſt im Zuſchauer. Iſt dieſer in dem äſthetiſchen Acte ſelbſt
als Perſon betheiligt, ſo muß dieſe Freiheit des Gemüths unbedingt an
ihm erſcheinen, wie an Falſtaff immer, wenn er über ſeine Kameraden
Witze macht. Iſt aber der Zuſchauer außer dem äſthetiſchen Acte, ſo
iſt die Sache ſchwieriger. Dann entſteht insbeſondere die Frage, ob
der bloſe Witz über ein ſeiner Häßlichkeit noch nicht bewußtes Subject
auch äſthetiſch ſey. Hierüber muß in der Lehre vom Witze die Rede
ſeyn; vor der Hand aber erwäge man wenigſtens, daß auch bei einem
blos geleſenen oder gehörten Witzwort die Phantaſie ſich den Gegenſtand
des Witzes vermöge ihrer ſchlechtweg veranſchaulichenden Natur innerlich
immer vorſtellen wird, und zwar als einen beſinnungsfähigen, elaſtiſchen.
J. Paul (Vorſch. d. Aeſth. Th. 1, §. 28) fordert eine anſchauliche Handlung
zu allem Komiſchen. Ruge beſtreitet dies (a. a. O. S. 119): „die
ſinnliche Anſchaulichkeit iſt nicht nöthig: man kann in ſich ſelbſt über
ſich ſelbſt, indem man ſeine Gedankenthätigkeit als die Verwirrung
des Geiſtes anſchaut, lachen.“ Dies geht aber aus allem Aeſthetiſchen
heraus. In dieſem rein innerlichen Acte muß, wenn er äſthetiſch ſeyn
ſoll, auch dies vor ſich gehen, daß ich mich als den Irrenden innerlich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0361" n="347"/>
wird die&#x017F;e fortwährend; da &#x017F;ie aber durch die Be&#x017F;innung bejaht wird als dem<note place="right">3</note><lb/>
häßlichen Subjecte &#x017F;elb&#x017F;t inwohnend, &#x017F;o trifft die Negation die Idee nur als<lb/>
&#x017F;olche, welche &#x017F;ich die Miene gibt, &#x017F;ich vom Bilde loszureißen und in das<lb/>
Unendliche zu entfernen, d. h. als Idee in der Form der Erhabenheit. Der<lb/>
Sinn i&#x017F;t al&#x017F;o, die Negation im Erhabenen, d. h. die Entfremdung der Idee<lb/>
als einer über die Grenze übergreifenden und daher von außen kommenden<lb/>
zu negiren und vielmehr geltend zu machen, daß das Bild trotz &#x017F;einer allen<lb/>
Brechungen des Zufalls hingegebenen Einzelheit völlig im Be&#x017F;itze der Idee i&#x017F;t.<lb/><hi rendition="#g">Solger</hi>.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">1. Die Be&#x017F;innung muß er&#x017F;cheinen. Die&#x017F;es Er&#x017F;cheinen muß irgend<lb/>
eine auf die &#x017F;innliche Oberfläche der ange&#x017F;chauten Per&#x017F;önlichkeit tretende<lb/>
Form &#x017F;eyn. Da hier vorer&#x017F;t noch ungewiß i&#x017F;t, wie &#x017F;treng der Satz zu<lb/>
nehmen &#x017F;ey, daß die Be&#x017F;innung vom Zu&#x017F;chauer in das ange&#x017F;chaute Subject<lb/>
übergehen muß, &#x017F;o halte man zunäch&#x017F;t nur fe&#x017F;t: eine Möglichkeit, zur<lb/>
Be&#x017F;innung zurückzukehren, muß man die&#x017F;em mitten in der Verkehrung<lb/>
an&#x017F;ehen, eine Fähigkeit, über &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu lachen, eine Flü&#x017F;&#x017F;igkeit des<lb/>
Gemüths. Fal&#x017F;taff muß mitten in &#x017F;einen Schlechtigkeiten in jedem Zuge<lb/>
die Laune zeigen, &#x017F;ich in jedem Augenblick durch ein Hinein&#x017F;ehen in &#x017F;ich<lb/>
zu ab&#x017F;olviren. So lange dies nicht entbunden i&#x017F;t, i&#x017F;t die Be&#x017F;innung als<lb/>
wirkliche er&#x017F;t im Zu&#x017F;chauer. I&#x017F;t die&#x017F;er in dem ä&#x017F;theti&#x017F;chen Acte &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
als Per&#x017F;on betheiligt, &#x017F;o muß die&#x017F;e Freiheit des Gemüths unbedingt an<lb/>
ihm er&#x017F;cheinen, wie an Fal&#x017F;taff immer, wenn er über &#x017F;eine Kameraden<lb/>
Witze macht. I&#x017F;t aber der Zu&#x017F;chauer außer dem ä&#x017F;theti&#x017F;chen Acte, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t die Sache &#x017F;chwieriger. Dann ent&#x017F;teht insbe&#x017F;ondere die Frage, ob<lb/>
der blo&#x017F;e Witz über ein &#x017F;einer Häßlichkeit noch nicht bewußtes Subject<lb/>
auch ä&#x017F;theti&#x017F;ch &#x017F;ey. Hierüber muß in der Lehre vom Witze die Rede<lb/>
&#x017F;eyn; vor der Hand aber erwäge man wenig&#x017F;tens, daß auch bei einem<lb/>
blos gele&#x017F;enen oder gehörten Witzwort die Phanta&#x017F;ie &#x017F;ich den Gegen&#x017F;tand<lb/>
des Witzes vermöge ihrer &#x017F;chlechtweg veran&#x017F;chaulichenden Natur innerlich<lb/>
immer vor&#x017F;tellen wird, und zwar als einen be&#x017F;innungsfähigen, ela&#x017F;ti&#x017F;chen.<lb/>
J. <hi rendition="#g">Paul</hi> (Vor&#x017F;ch. d. Ae&#x017F;th. Th. 1, §. 28) fordert eine an&#x017F;chauliche Handlung<lb/>
zu allem Komi&#x017F;chen. <hi rendition="#g">Ruge</hi> be&#x017F;treitet dies (a. a. O. S. 119): &#x201E;die<lb/>
&#x017F;innliche An&#x017F;chaulichkeit i&#x017F;t nicht nöthig: man kann in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t über<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, indem man &#x017F;eine Gedankenthätigkeit als die Verwirrung<lb/>
des Gei&#x017F;tes an&#x017F;chaut, lachen.&#x201C; Dies geht aber aus allem Ae&#x017F;theti&#x017F;chen<lb/>
heraus. In die&#x017F;em rein innerlichen Acte muß, wenn er ä&#x017F;theti&#x017F;ch &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;oll, auch dies vor &#x017F;ich gehen, daß ich mich als den Irrenden innerlich<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[347/0361] wird dieſe fortwährend; da ſie aber durch die Beſinnung bejaht wird als dem häßlichen Subjecte ſelbſt inwohnend, ſo trifft die Negation die Idee nur als ſolche, welche ſich die Miene gibt, ſich vom Bilde loszureißen und in das Unendliche zu entfernen, d. h. als Idee in der Form der Erhabenheit. Der Sinn iſt alſo, die Negation im Erhabenen, d. h. die Entfremdung der Idee als einer über die Grenze übergreifenden und daher von außen kommenden zu negiren und vielmehr geltend zu machen, daß das Bild trotz ſeiner allen Brechungen des Zufalls hingegebenen Einzelheit völlig im Beſitze der Idee iſt. Solger. 1. Die Beſinnung muß erſcheinen. Dieſes Erſcheinen muß irgend eine auf die ſinnliche Oberfläche der angeſchauten Perſönlichkeit tretende Form ſeyn. Da hier vorerſt noch ungewiß iſt, wie ſtreng der Satz zu nehmen ſey, daß die Beſinnung vom Zuſchauer in das angeſchaute Subject übergehen muß, ſo halte man zunächſt nur feſt: eine Möglichkeit, zur Beſinnung zurückzukehren, muß man dieſem mitten in der Verkehrung anſehen, eine Fähigkeit, über ſich ſelbſt zu lachen, eine Flüſſigkeit des Gemüths. Falſtaff muß mitten in ſeinen Schlechtigkeiten in jedem Zuge die Laune zeigen, ſich in jedem Augenblick durch ein Hineinſehen in ſich zu abſolviren. So lange dies nicht entbunden iſt, iſt die Beſinnung als wirkliche erſt im Zuſchauer. Iſt dieſer in dem äſthetiſchen Acte ſelbſt als Perſon betheiligt, ſo muß dieſe Freiheit des Gemüths unbedingt an ihm erſcheinen, wie an Falſtaff immer, wenn er über ſeine Kameraden Witze macht. Iſt aber der Zuſchauer außer dem äſthetiſchen Acte, ſo iſt die Sache ſchwieriger. Dann entſteht insbeſondere die Frage, ob der bloſe Witz über ein ſeiner Häßlichkeit noch nicht bewußtes Subject auch äſthetiſch ſey. Hierüber muß in der Lehre vom Witze die Rede ſeyn; vor der Hand aber erwäge man wenigſtens, daß auch bei einem blos geleſenen oder gehörten Witzwort die Phantaſie ſich den Gegenſtand des Witzes vermöge ihrer ſchlechtweg veranſchaulichenden Natur innerlich immer vorſtellen wird, und zwar als einen beſinnungsfähigen, elaſtiſchen. J. Paul (Vorſch. d. Aeſth. Th. 1, §. 28) fordert eine anſchauliche Handlung zu allem Komiſchen. Ruge beſtreitet dies (a. a. O. S. 119): „die ſinnliche Anſchaulichkeit iſt nicht nöthig: man kann in ſich ſelbſt über ſich ſelbſt, indem man ſeine Gedankenthätigkeit als die Verwirrung des Geiſtes anſchaut, lachen.“ Dies geht aber aus allem Aeſthetiſchen heraus. In dieſem rein innerlichen Acte muß, wenn er äſthetiſch ſeyn ſoll, auch dies vor ſich gehen, daß ich mich als den Irrenden innerlich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/361
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/361>, abgerufen am 23.11.2024.