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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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nicht ausrauben? Sodann gelingt zwar für den Moment die üble That,
aber wir wissen nicht nur Heinrich und Poins im Hinterhalte, sondern
wir wissen auch, daß Falstaff im Augenblicke ihres Anfalls die Beute
fahren lassen wird. Daher kommt er mit einer Beschämung davon.

§. 180.

Das verlachte Subject wird entweder, sey es durch einen starken Zusam-1
menstoß mit dem äußern Zufall, sey es dadurch, daß es sich von dem Zuschauer
ertappt findet, wirklich zu sich kommen, oder dieser wird ihm als nothwendigen
Schluß des Verlaufes der Verirrung die ausbleibende Besinnung erst mit Bestimmt-
heit leihen: das End-Ergebniß scheint in allen Fällen die Aufhebung des zuerst
gesetzten Widerspruchs zu seyn. Allein dies wäre die Aufhebung des Komi-2
schen. Vielmehr wie zuerst der Besinnungslosigkeit Besinnung geliehen wurde,
ebenso muß auch (vergl. §. 176, 2) nach eingetretenem Wendepunkt sich die Besin-
nungslosigkeit als Möglichkeit des Rückfalls und fortdauernder Widerspruch in
die Besinnung fortsetzen, und dieser bewegte mittlere Zustand des Bewußtseyns
ist der positive Grund, der nicht blose Verschonung mit großem Uebel, sondern
sogar Gut und Glück, nur nicht das gesuchte außerordentliche, an der Stelle
des tragischen Schicksals fordert (vergl. §. 167, 2). Dieser Zustand rückkeh-
render Verweisung auf die gewöhnlichen Lebensgüter, den auch St. Schütze
als Schluß des Komischen fordert, ist nämlich die nothwendige äußere Seite zu
dem innern Selbstgenuße des mit jener stets wiederkehrenden Brechung des Er-
habenen an dem unendlich Kleinen, das die Idee als eine fremde Macht
negirt, um sie in sich herüberzunehmen, spielenden Subjects.

1. Die unterschiedenen Arten, wie der Besinnungslose von der
halben und ungewiß geliehenen Besinnung zu der ganzen kommt, führen
eigentlich auf die Frage nach der Plötzlichkeit des Wendepunkts zurück.
Im letzten der genannten Fälle tritt objectiv jene nicht ein, allein
der Riß, den der Zuschauer im Uebergang der Anschauung vom ersten
Gliede zum Gegengliede erfährt, gibt diesem das Gefühl: es ist ja nicht
möglich, sobald das verlachte Subject nur wirklich auf sich aufmerksam
wird, muß es den Widerspruch ganz und völlig gewahr werden! Die
andern Fälle wird man sich eben an Falstaffs mißlungenem Straßenraub
und der darauf folgenden Ertappung über seinen Lügen leicht deutlich
machen.


nicht ausrauben? Sodann gelingt zwar für den Moment die üble That,
aber wir wiſſen nicht nur Heinrich und Poins im Hinterhalte, ſondern
wir wiſſen auch, daß Falſtaff im Augenblicke ihres Anfalls die Beute
fahren laſſen wird. Daher kommt er mit einer Beſchämung davon.

§. 180.

Das verlachte Subject wird entweder, ſey es durch einen ſtarken Zuſam-1
menſtoß mit dem äußern Zufall, ſey es dadurch, daß es ſich von dem Zuſchauer
ertappt findet, wirklich zu ſich kommen, oder dieſer wird ihm als nothwendigen
Schluß des Verlaufes der Verirrung die ausbleibende Beſinnung erſt mit Beſtimmt-
heit leihen: das End-Ergebniß ſcheint in allen Fällen die Aufhebung des zuerſt
geſetzten Widerſpruchs zu ſeyn. Allein dies wäre die Aufhebung des Komi-2
ſchen. Vielmehr wie zuerſt der Beſinnungsloſigkeit Beſinnung geliehen wurde,
ebenſo muß auch (vergl. §. 176, 2) nach eingetretenem Wendepunkt ſich die Beſin-
nungsloſigkeit als Möglichkeit des Rückfalls und fortdauernder Widerſpruch in
die Beſinnung fortſetzen, und dieſer bewegte mittlere Zuſtand des Bewußtſeyns
iſt der poſitive Grund, der nicht bloſe Verſchonung mit großem Uebel, ſondern
ſogar Gut und Glück, nur nicht das geſuchte außerordentliche, an der Stelle
des tragiſchen Schickſals fordert (vergl. §. 167, 2). Dieſer Zuſtand rückkeh-
render Verweiſung auf die gewöhnlichen Lebensgüter, den auch St. Schütze
als Schluß des Komiſchen fordert, iſt nämlich die nothwendige äußere Seite zu
dem innern Selbſtgenuße des mit jener ſtets wiederkehrenden Brechung des Er-
habenen an dem unendlich Kleinen, das die Idee als eine fremde Macht
negirt, um ſie in ſich herüberzunehmen, ſpielenden Subjects.

1. Die unterſchiedenen Arten, wie der Beſinnungsloſe von der
halben und ungewiß geliehenen Beſinnung zu der ganzen kommt, führen
eigentlich auf die Frage nach der Plötzlichkeit des Wendepunkts zurück.
Im letzten der genannten Fälle tritt objectiv jene nicht ein, allein
der Riß, den der Zuſchauer im Uebergang der Anſchauung vom erſten
Gliede zum Gegengliede erfährt, gibt dieſem das Gefühl: es iſt ja nicht
möglich, ſobald das verlachte Subject nur wirklich auf ſich aufmerkſam
wird, muß es den Widerſpruch ganz und völlig gewahr werden! Die
andern Fälle wird man ſich eben an Falſtaffs mißlungenem Straßenraub
und der darauf folgenden Ertappung über ſeinen Lügen leicht deutlich
machen.


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[393/0407] nicht ausrauben? Sodann gelingt zwar für den Moment die üble That, aber wir wiſſen nicht nur Heinrich und Poins im Hinterhalte, ſondern wir wiſſen auch, daß Falſtaff im Augenblicke ihres Anfalls die Beute fahren laſſen wird. Daher kommt er mit einer Beſchämung davon. §. 180. Das verlachte Subject wird entweder, ſey es durch einen ſtarken Zuſam- menſtoß mit dem äußern Zufall, ſey es dadurch, daß es ſich von dem Zuſchauer ertappt findet, wirklich zu ſich kommen, oder dieſer wird ihm als nothwendigen Schluß des Verlaufes der Verirrung die ausbleibende Beſinnung erſt mit Beſtimmt- heit leihen: das End-Ergebniß ſcheint in allen Fällen die Aufhebung des zuerſt geſetzten Widerſpruchs zu ſeyn. Allein dies wäre die Aufhebung des Komi- ſchen. Vielmehr wie zuerſt der Beſinnungsloſigkeit Beſinnung geliehen wurde, ebenſo muß auch (vergl. §. 176, 2) nach eingetretenem Wendepunkt ſich die Beſin- nungsloſigkeit als Möglichkeit des Rückfalls und fortdauernder Widerſpruch in die Beſinnung fortſetzen, und dieſer bewegte mittlere Zuſtand des Bewußtſeyns iſt der poſitive Grund, der nicht bloſe Verſchonung mit großem Uebel, ſondern ſogar Gut und Glück, nur nicht das geſuchte außerordentliche, an der Stelle des tragiſchen Schickſals fordert (vergl. §. 167, 2). Dieſer Zuſtand rückkeh- render Verweiſung auf die gewöhnlichen Lebensgüter, den auch St. Schütze als Schluß des Komiſchen fordert, iſt nämlich die nothwendige äußere Seite zu dem innern Selbſtgenuße des mit jener ſtets wiederkehrenden Brechung des Er- habenen an dem unendlich Kleinen, das die Idee als eine fremde Macht negirt, um ſie in ſich herüberzunehmen, ſpielenden Subjects. 1. Die unterſchiedenen Arten, wie der Beſinnungsloſe von der halben und ungewiß geliehenen Beſinnung zu der ganzen kommt, führen eigentlich auf die Frage nach der Plötzlichkeit des Wendepunkts zurück. Im letzten der genannten Fälle tritt objectiv jene nicht ein, allein der Riß, den der Zuſchauer im Uebergang der Anſchauung vom erſten Gliede zum Gegengliede erfährt, gibt dieſem das Gefühl: es iſt ja nicht möglich, ſobald das verlachte Subject nur wirklich auf ſich aufmerkſam wird, muß es den Widerſpruch ganz und völlig gewahr werden! Die andern Fälle wird man ſich eben an Falſtaffs mißlungenem Straßenraub und der darauf folgenden Ertappung über ſeinen Lügen leicht deutlich machen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/407>, abgerufen am 22.11.2024.