Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

haben, wie der Berliner Straßenjunge, der sagt: "des Sommers vagir
ich und des Winters laß ich mir bessern." Wer nun darüber lacht, fühlt
im Uebrigen recht wohl, wie traurig solche Gesunkenheit ist, aber jetzt
hat er nicht diese Seite im Auge, sondern den Widerspruch als solchen.
Ferngehalten wird aber der ethische Standpunkt eben durch den Eintritt
des verständigen Standpunkts, dessen Geschäft es ist, den Widerspruch
wahrzunehmen. Daß nun dies der Forderung sinnlicher Anschauung nicht
widerstreitet, bedarf keines Beweises: denn diese ist ja im Schönen
immer ungetheilt zugleich geistig. Aber, wird man einwenden, es soll
ja der ganze Geist in seiner höchsten Thätigkeit als Vernunft sich in sie
legen und das Komische würde, wenn von geistigem Interesse nur der
Verstand betheiligt wäre, unter das Aesthetische herabsinken. Darauf dient
zur Antwort: freilich legt sich der ganze Geist in das Komische, und so
ist er ja bei allen sittlichen Stoffen der Komik auch als Herz wesentlich
betheiligt; das Ganze des komischen Vorgangs kann nur für die in
sinnlicher Anschauung thätige Vernunft seyn, da der Widerspruch im
Komischen ein Weltwiderspruch ist; allein man muß nicht meinen, der
Widerspruch könne nur so unmittelbar durch die höchste Thätigkeit der
Vernunft aufgefaßt werden, sondern zuerst und vor Allem ist er ein Wider-
spruch, der aus dem Ganzen der geistigen Bewegung im Zuschauer den
Verstand in den Vordergrund der Betheiligung setzen muß, weil dieser
überhaupt sich mit dem Logischen im Widerspruch zu beschäftigen hat.
Lösen kann der Verstand allerdings keinen Widerspruch, aber er ist das
Erste, was den Widerspruch anfaßt und ihn zu lösen sucht. Der Schluß
des Actes aber geht in die Vernunft-Tiefe, wie sich zeigen wird.

2. Es erklärt sich nun erst völlig, warum es im Komischen keine eigent-
liche Schuld gibt. Auch der dolus kommt auf eine mäßige culpa hinaus,
wenn Alles erscheint als Werk eines Geistes, der dem Menschen nachstellt und
ihn verblendet, wenn dem Menschen zugleich gerade so viel Besinnung
über die Verwicklung durch diese Tücke des Puck geliehen wird, um im
Grunde den Ernst seines üblen Wollens heimlich zu brechen, und wenn
ebendaraus die Fahrlässigkeit folgen muß, welche sehr natürlich das
Mißlingen zur Folge hat, um dessenwillen ja auch der Richter den
Ausführungs-Versuch eines Verbrechens milder bestraft. Wer zu einem
Straßenraub die nöthige Gefährlichkeit so wenig mitbringt, wie Falstaff,
von dessen Schuld läßt sich absehen. Zuerst fällt das Schlaglicht vom
Verbrecher darum weg und auf den Widerspruch, weil er mehr Angst
hat als die beraubten Kaufleute, ja sogar ausruft: man wird uns doch

haben, wie der Berliner Straßenjunge, der ſagt: „des Sommers vagir
ich und des Winters laß ich mir beſſern.“ Wer nun darüber lacht, fühlt
im Uebrigen recht wohl, wie traurig ſolche Geſunkenheit iſt, aber jetzt
hat er nicht dieſe Seite im Auge, ſondern den Widerſpruch als ſolchen.
Ferngehalten wird aber der ethiſche Standpunkt eben durch den Eintritt
des verſtändigen Standpunkts, deſſen Geſchäft es iſt, den Widerſpruch
wahrzunehmen. Daß nun dies der Forderung ſinnlicher Anſchauung nicht
widerſtreitet, bedarf keines Beweiſes: denn dieſe iſt ja im Schönen
immer ungetheilt zugleich geiſtig. Aber, wird man einwenden, es ſoll
ja der ganze Geiſt in ſeiner höchſten Thätigkeit als Vernunft ſich in ſie
legen und das Komiſche würde, wenn von geiſtigem Intereſſe nur der
Verſtand betheiligt wäre, unter das Aeſthetiſche herabſinken. Darauf dient
zur Antwort: freilich legt ſich der ganze Geiſt in das Komiſche, und ſo
iſt er ja bei allen ſittlichen Stoffen der Komik auch als Herz weſentlich
betheiligt; das Ganze des komiſchen Vorgangs kann nur für die in
ſinnlicher Anſchauung thätige Vernunft ſeyn, da der Widerſpruch im
Komiſchen ein Weltwiderſpruch iſt; allein man muß nicht meinen, der
Widerſpruch könne nur ſo unmittelbar durch die höchſte Thätigkeit der
Vernunft aufgefaßt werden, ſondern zuerſt und vor Allem iſt er ein Wider-
ſpruch, der aus dem Ganzen der geiſtigen Bewegung im Zuſchauer den
Verſtand in den Vordergrund der Betheiligung ſetzen muß, weil dieſer
überhaupt ſich mit dem Logiſchen im Widerſpruch zu beſchäftigen hat.
Löſen kann der Verſtand allerdings keinen Widerſpruch, aber er iſt das
Erſte, was den Widerſpruch anfaßt und ihn zu löſen ſucht. Der Schluß
des Actes aber geht in die Vernunft-Tiefe, wie ſich zeigen wird.

2. Es erklärt ſich nun erſt völlig, warum es im Komiſchen keine eigent-
liche Schuld gibt. Auch der dolus kommt auf eine mäßige culpa hinaus,
wenn Alles erſcheint als Werk eines Geiſtes, der dem Menſchen nachſtellt und
ihn verblendet, wenn dem Menſchen zugleich gerade ſo viel Beſinnung
über die Verwicklung durch dieſe Tücke des Puck geliehen wird, um im
Grunde den Ernſt ſeines üblen Wollens heimlich zu brechen, und wenn
ebendaraus die Fahrläſſigkeit folgen muß, welche ſehr natürlich das
Mißlingen zur Folge hat, um deſſenwillen ja auch der Richter den
Ausführungs-Verſuch eines Verbrechens milder beſtraft. Wer zu einem
Straßenraub die nöthige Gefährlichkeit ſo wenig mitbringt, wie Falſtaff,
von deſſen Schuld läßt ſich abſehen. Zuerſt fällt das Schlaglicht vom
Verbrecher darum weg und auf den Widerſpruch, weil er mehr Angſt
hat als die beraubten Kaufleute, ja ſogar ausruft: man wird uns doch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0406" n="392"/>
haben, wie der Berliner Straßenjunge, der &#x017F;agt: &#x201E;des Sommers vagir<lb/>
ich und des Winters laß ich mir be&#x017F;&#x017F;ern.&#x201C; Wer nun darüber lacht, fühlt<lb/>
im Uebrigen recht wohl, wie traurig &#x017F;olche Ge&#x017F;unkenheit i&#x017F;t, aber <hi rendition="#g">jetzt</hi><lb/>
hat er nicht die&#x017F;e Seite im Auge, &#x017F;ondern den Wider&#x017F;pruch als &#x017F;olchen.<lb/>
Ferngehalten wird aber der ethi&#x017F;che Standpunkt eben durch den Eintritt<lb/>
des ver&#x017F;tändigen Standpunkts, de&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;chäft es i&#x017F;t, den Wider&#x017F;pruch<lb/>
wahrzunehmen. Daß nun dies der Forderung &#x017F;innlicher An&#x017F;chauung nicht<lb/>
wider&#x017F;treitet, bedarf keines Bewei&#x017F;es: denn die&#x017F;e i&#x017F;t ja im Schönen<lb/>
immer ungetheilt zugleich gei&#x017F;tig. Aber, wird man einwenden, es &#x017F;oll<lb/>
ja der ganze Gei&#x017F;t in &#x017F;einer höch&#x017F;ten Thätigkeit als Vernunft &#x017F;ich in &#x017F;ie<lb/>
legen und das Komi&#x017F;che würde, wenn von gei&#x017F;tigem Intere&#x017F;&#x017F;e nur der<lb/>
Ver&#x017F;tand betheiligt wäre, unter das Ae&#x017F;theti&#x017F;che herab&#x017F;inken. Darauf dient<lb/>
zur Antwort: freilich legt &#x017F;ich der ganze Gei&#x017F;t in das Komi&#x017F;che, und &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t er ja bei allen &#x017F;ittlichen Stoffen der Komik auch als Herz we&#x017F;entlich<lb/>
betheiligt; das Ganze des komi&#x017F;chen Vorgangs kann nur für die in<lb/>
&#x017F;innlicher An&#x017F;chauung thätige Vernunft &#x017F;eyn, da der Wider&#x017F;pruch im<lb/>
Komi&#x017F;chen ein Weltwider&#x017F;pruch i&#x017F;t; allein man muß nicht meinen, der<lb/>
Wider&#x017F;pruch könne nur &#x017F;o unmittelbar durch die höch&#x017F;te Thätigkeit der<lb/>
Vernunft aufgefaßt werden, &#x017F;ondern zuer&#x017F;t und vor Allem i&#x017F;t er ein Wider-<lb/>
&#x017F;pruch, der aus dem Ganzen der gei&#x017F;tigen Bewegung im Zu&#x017F;chauer den<lb/>
Ver&#x017F;tand in den Vordergrund der Betheiligung &#x017F;etzen muß, weil die&#x017F;er<lb/>
überhaupt &#x017F;ich mit dem Logi&#x017F;chen im Wider&#x017F;pruch zu be&#x017F;chäftigen hat.<lb/>&#x017F;en kann der Ver&#x017F;tand allerdings keinen Wider&#x017F;pruch, aber er i&#x017F;t das<lb/>
Er&#x017F;te, was den Wider&#x017F;pruch anfaßt und ihn zu lö&#x017F;en &#x017F;ucht. Der Schluß<lb/>
des Actes aber geht in die Vernunft-Tiefe, wie &#x017F;ich zeigen wird.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">2. Es erklärt &#x017F;ich nun er&#x017F;t völlig, warum es im Komi&#x017F;chen keine eigent-<lb/>
liche Schuld gibt. Auch der <hi rendition="#aq">dolus</hi> kommt auf eine mäßige <hi rendition="#aq">culpa</hi> hinaus,<lb/>
wenn Alles er&#x017F;cheint als Werk eines Gei&#x017F;tes, der dem Men&#x017F;chen nach&#x017F;tellt und<lb/>
ihn verblendet, wenn dem Men&#x017F;chen zugleich gerade &#x017F;o viel Be&#x017F;innung<lb/>
über die Verwicklung durch die&#x017F;e Tücke des Puck geliehen wird, um im<lb/>
Grunde den Ern&#x017F;t &#x017F;eines üblen Wollens heimlich zu brechen, und wenn<lb/>
ebendaraus die Fahrlä&#x017F;&#x017F;igkeit folgen muß, welche &#x017F;ehr natürlich das<lb/>
Mißlingen zur Folge hat, um de&#x017F;&#x017F;enwillen ja auch der Richter den<lb/>
Ausführungs-Ver&#x017F;uch eines Verbrechens milder be&#x017F;traft. Wer zu einem<lb/>
Straßenraub die nöthige Gefährlichkeit &#x017F;o wenig mitbringt, wie Fal&#x017F;taff,<lb/>
von de&#x017F;&#x017F;en Schuld läßt &#x017F;ich ab&#x017F;ehen. Zuer&#x017F;t fällt das Schlaglicht vom<lb/>
Verbrecher darum weg und auf den Wider&#x017F;pruch, weil er mehr Ang&#x017F;t<lb/>
hat als die beraubten Kaufleute, ja &#x017F;ogar ausruft: man wird uns doch<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[392/0406] haben, wie der Berliner Straßenjunge, der ſagt: „des Sommers vagir ich und des Winters laß ich mir beſſern.“ Wer nun darüber lacht, fühlt im Uebrigen recht wohl, wie traurig ſolche Geſunkenheit iſt, aber jetzt hat er nicht dieſe Seite im Auge, ſondern den Widerſpruch als ſolchen. Ferngehalten wird aber der ethiſche Standpunkt eben durch den Eintritt des verſtändigen Standpunkts, deſſen Geſchäft es iſt, den Widerſpruch wahrzunehmen. Daß nun dies der Forderung ſinnlicher Anſchauung nicht widerſtreitet, bedarf keines Beweiſes: denn dieſe iſt ja im Schönen immer ungetheilt zugleich geiſtig. Aber, wird man einwenden, es ſoll ja der ganze Geiſt in ſeiner höchſten Thätigkeit als Vernunft ſich in ſie legen und das Komiſche würde, wenn von geiſtigem Intereſſe nur der Verſtand betheiligt wäre, unter das Aeſthetiſche herabſinken. Darauf dient zur Antwort: freilich legt ſich der ganze Geiſt in das Komiſche, und ſo iſt er ja bei allen ſittlichen Stoffen der Komik auch als Herz weſentlich betheiligt; das Ganze des komiſchen Vorgangs kann nur für die in ſinnlicher Anſchauung thätige Vernunft ſeyn, da der Widerſpruch im Komiſchen ein Weltwiderſpruch iſt; allein man muß nicht meinen, der Widerſpruch könne nur ſo unmittelbar durch die höchſte Thätigkeit der Vernunft aufgefaßt werden, ſondern zuerſt und vor Allem iſt er ein Wider- ſpruch, der aus dem Ganzen der geiſtigen Bewegung im Zuſchauer den Verſtand in den Vordergrund der Betheiligung ſetzen muß, weil dieſer überhaupt ſich mit dem Logiſchen im Widerſpruch zu beſchäftigen hat. Löſen kann der Verſtand allerdings keinen Widerſpruch, aber er iſt das Erſte, was den Widerſpruch anfaßt und ihn zu löſen ſucht. Der Schluß des Actes aber geht in die Vernunft-Tiefe, wie ſich zeigen wird. 2. Es erklärt ſich nun erſt völlig, warum es im Komiſchen keine eigent- liche Schuld gibt. Auch der dolus kommt auf eine mäßige culpa hinaus, wenn Alles erſcheint als Werk eines Geiſtes, der dem Menſchen nachſtellt und ihn verblendet, wenn dem Menſchen zugleich gerade ſo viel Beſinnung über die Verwicklung durch dieſe Tücke des Puck geliehen wird, um im Grunde den Ernſt ſeines üblen Wollens heimlich zu brechen, und wenn ebendaraus die Fahrläſſigkeit folgen muß, welche ſehr natürlich das Mißlingen zur Folge hat, um deſſenwillen ja auch der Richter den Ausführungs-Verſuch eines Verbrechens milder beſtraft. Wer zu einem Straßenraub die nöthige Gefährlichkeit ſo wenig mitbringt, wie Falſtaff, von deſſen Schuld läßt ſich abſehen. Zuerſt fällt das Schlaglicht vom Verbrecher darum weg und auf den Widerſpruch, weil er mehr Angſt hat als die beraubten Kaufleute, ja ſogar ausruft: man wird uns doch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/406
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/406>, abgerufen am 22.11.2024.