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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Weiße setzt den Widerspruch, den das Schöne lösen soll, ausdrücklich
(a. a. O. §. 8.) in das Subject. Es ist nicht der metaphysische Wider-
spruch des Allgemeinen und Einzelnen, der zu lösen ist, sondern es ist
der Widerspruch, daß das Subject der speculativen Erkenntniß zugleich
einzelnes und endliches Wesen und, dem Begriffe dieser Erkenntniß zu-
folge, Totalität alles Seyenden ist. Darauf ist zunächst zu sagen, daß,
wenn man den Widerspruch in diesem Sinne als einen faktischen
und seyenden faßt, dies weiter zurück in das System der Philosophie
gehört, dahin nämlich, wo das theoretische Denken übergeht in den
Willen, um durch die Handlung als eine reale Bewegung das Subject
als seyendes, aber vereinzeltes mit der Totalität des Seyenden that-
sächlich zu vermitteln. Da nun aber allerdings das Handeln die In-
einsbildung des Allgemeinen und Einzelnen in keinem gegebenen Zeit-
punkte vollendet, so genügt es ebenfalls nicht, und der Geist erhebt sich
auf den Standpunkt der absoluten Idee, auf welchem er den ganzen
Widerspruch, jenen Rest, der im Versuche der realen Lösung unüber-
wunden bleibt, miteingeschlossen, als einen in der unendlichen Bewegung
des Universums ewig sich lösenden, vor seiner Lösung schon gelösten
erkennt. So im Bewußtseyn vollzogen heißt die absolute Idee absoluter
Geist. Unmöglich kann nun aber, wie so eben schon berührt ist, die
erste unter den Formen, welche diese absolute Lösung stufenförmig auf-
steigend sich gibt, die des speculativen Denkens seyn. Weiße sieht sie
als die erste und ärmste deßwegen an, weil er voraussetzt, daß das
Logische nicht das Wesen der Dinge selbst sey, daß das Denken das
Besondere, Einzelne, Endliche nicht wahrhaft begreife, sondern ihm das
Allgemeine nur "anhefte," daß daher die moderne Philosophie Akosmis-
mus sey. Daher sucht er eine Form, in welcher das Allgemeine und
Einzelne absolut, nicht blos äußerlich verschmolzen seyn soll. Diese soll
die Schönheit (und höher die Gottheit) seyn. Allein eben weil in
Wahrheit das Einzelne nie das Ganze seyn kann, weil auch das von
absolutem Gehalt durchdrungene Subject der Totalität als einzelnes gegen-
überstehen bleibt, weil dieser Widerspruch auch durch das Handeln nicht
völlig gelöst wird, so kann nur eine Form, welche diesen Widerspruch
noch nicht mit der Strenge des Gedankens ergründet und zu lösen ver-
sucht hat, sich mit jenem Schein einer Lösung durch Verschmelzung der
Gegensätze in eine sinnliche Gestalt begnügen, wie dies das Schöne thut.
Eben darum steht aber auch die Religion noch unter dem Schönen, weil sie
nicht einmal zu diesem Schein als Schein sich erhebt, sondern stoffartig alles

Weiße ſetzt den Widerſpruch, den das Schöne löſen ſoll, ausdrücklich
(a. a. O. §. 8.) in das Subject. Es iſt nicht der metaphyſiſche Wider-
ſpruch des Allgemeinen und Einzelnen, der zu löſen iſt, ſondern es iſt
der Widerſpruch, daß das Subject der ſpeculativen Erkenntniß zugleich
einzelnes und endliches Weſen und, dem Begriffe dieſer Erkenntniß zu-
folge, Totalität alles Seyenden iſt. Darauf iſt zunächſt zu ſagen, daß,
wenn man den Widerſpruch in dieſem Sinne als einen faktiſchen
und ſeyenden faßt, dies weiter zurück in das Syſtem der Philoſophie
gehört, dahin nämlich, wo das theoretiſche Denken übergeht in den
Willen, um durch die Handlung als eine reale Bewegung das Subject
als ſeyendes, aber vereinzeltes mit der Totalität des Seyenden that-
ſächlich zu vermitteln. Da nun aber allerdings das Handeln die In-
einsbildung des Allgemeinen und Einzelnen in keinem gegebenen Zeit-
punkte vollendet, ſo genügt es ebenfalls nicht, und der Geiſt erhebt ſich
auf den Standpunkt der abſoluten Idee, auf welchem er den ganzen
Widerſpruch, jenen Reſt, der im Verſuche der realen Löſung unüber-
wunden bleibt, miteingeſchloſſen, als einen in der unendlichen Bewegung
des Univerſums ewig ſich löſenden, vor ſeiner Löſung ſchon gelösten
erkennt. So im Bewußtſeyn vollzogen heißt die abſolute Idee abſoluter
Geiſt. Unmöglich kann nun aber, wie ſo eben ſchon berührt iſt, die
erſte unter den Formen, welche dieſe abſolute Löſung ſtufenförmig auf-
ſteigend ſich gibt, die des ſpeculativen Denkens ſeyn. Weiße ſieht ſie
als die erſte und ärmſte deßwegen an, weil er vorausſetzt, daß das
Logiſche nicht das Weſen der Dinge ſelbſt ſey, daß das Denken das
Beſondere, Einzelne, Endliche nicht wahrhaft begreife, ſondern ihm das
Allgemeine nur „anhefte,“ daß daher die moderne Philoſophie Akosmis-
mus ſey. Daher ſucht er eine Form, in welcher das Allgemeine und
Einzelne abſolut, nicht blos äußerlich verſchmolzen ſeyn ſoll. Dieſe ſoll
die Schönheit (und höher die Gottheit) ſeyn. Allein eben weil in
Wahrheit das Einzelne nie das Ganze ſeyn kann, weil auch das von
abſolutem Gehalt durchdrungene Subject der Totalität als einzelnes gegen-
überſtehen bleibt, weil dieſer Widerſpruch auch durch das Handeln nicht
völlig gelöst wird, ſo kann nur eine Form, welche dieſen Widerſpruch
noch nicht mit der Strenge des Gedankens ergründet und zu löſen ver-
ſucht hat, ſich mit jenem Schein einer Löſung durch Verſchmelzung der
Gegenſätze in eine ſinnliche Geſtalt begnügen, wie dies das Schöne thut.
Eben darum ſteht aber auch die Religion noch unter dem Schönen, weil ſie
nicht einmal zu dieſem Schein als Schein ſich erhebt, ſondern ſtoffartig alles

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[29/0043] Weiße ſetzt den Widerſpruch, den das Schöne löſen ſoll, ausdrücklich (a. a. O. §. 8.) in das Subject. Es iſt nicht der metaphyſiſche Wider- ſpruch des Allgemeinen und Einzelnen, der zu löſen iſt, ſondern es iſt der Widerſpruch, daß das Subject der ſpeculativen Erkenntniß zugleich einzelnes und endliches Weſen und, dem Begriffe dieſer Erkenntniß zu- folge, Totalität alles Seyenden iſt. Darauf iſt zunächſt zu ſagen, daß, wenn man den Widerſpruch in dieſem Sinne als einen faktiſchen und ſeyenden faßt, dies weiter zurück in das Syſtem der Philoſophie gehört, dahin nämlich, wo das theoretiſche Denken übergeht in den Willen, um durch die Handlung als eine reale Bewegung das Subject als ſeyendes, aber vereinzeltes mit der Totalität des Seyenden that- ſächlich zu vermitteln. Da nun aber allerdings das Handeln die In- einsbildung des Allgemeinen und Einzelnen in keinem gegebenen Zeit- punkte vollendet, ſo genügt es ebenfalls nicht, und der Geiſt erhebt ſich auf den Standpunkt der abſoluten Idee, auf welchem er den ganzen Widerſpruch, jenen Reſt, der im Verſuche der realen Löſung unüber- wunden bleibt, miteingeſchloſſen, als einen in der unendlichen Bewegung des Univerſums ewig ſich löſenden, vor ſeiner Löſung ſchon gelösten erkennt. So im Bewußtſeyn vollzogen heißt die abſolute Idee abſoluter Geiſt. Unmöglich kann nun aber, wie ſo eben ſchon berührt iſt, die erſte unter den Formen, welche dieſe abſolute Löſung ſtufenförmig auf- ſteigend ſich gibt, die des ſpeculativen Denkens ſeyn. Weiße ſieht ſie als die erſte und ärmſte deßwegen an, weil er vorausſetzt, daß das Logiſche nicht das Weſen der Dinge ſelbſt ſey, daß das Denken das Beſondere, Einzelne, Endliche nicht wahrhaft begreife, ſondern ihm das Allgemeine nur „anhefte,“ daß daher die moderne Philoſophie Akosmis- mus ſey. Daher ſucht er eine Form, in welcher das Allgemeine und Einzelne abſolut, nicht blos äußerlich verſchmolzen ſeyn ſoll. Dieſe ſoll die Schönheit (und höher die Gottheit) ſeyn. Allein eben weil in Wahrheit das Einzelne nie das Ganze ſeyn kann, weil auch das von abſolutem Gehalt durchdrungene Subject der Totalität als einzelnes gegen- überſtehen bleibt, weil dieſer Widerſpruch auch durch das Handeln nicht völlig gelöst wird, ſo kann nur eine Form, welche dieſen Widerſpruch noch nicht mit der Strenge des Gedankens ergründet und zu löſen ver- ſucht hat, ſich mit jenem Schein einer Löſung durch Verſchmelzung der Gegenſätze in eine ſinnliche Geſtalt begnügen, wie dies das Schöne thut. Eben darum ſteht aber auch die Religion noch unter dem Schönen, weil ſie nicht einmal zu dieſem Schein als Schein ſich erhebt, ſondern ſtoffartig alles

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/43>, abgerufen am 21.11.2024.