Ernstes glaubt, es gebe Individuen, die zugleich Individuen und schlechtweg das Absolute seyen, der Widerspruch sey also unmittelbar sinnlich gelöst. Die letzte Lösung aber ist eben nur da, wo das Subject jenen Widerspruch in seiner Strenge denkt und denkend aufhebt. Der Philosoph bleibt nun freilich ein Einzelner in Fleisch und Blut, aber er begreift sich auch als diesen Einzelnen im Ganzen und Allgemeinen als Glied desselben; er muß sterben, weil er dennoch Einzelner bleibt, aber auch darüber erhebt er sich, weil er den Tod als nothwendigen Act des Allgemeinen gegen das Einzelne begreift. Soll denn dagegen viel- mehr dies die letzte Lösung seyn, wenn ich mir vorstelle: ich zwar bleibe, wie ich auch das Allgemeine denkend bin, doch dieser Einzelne, aber über den Wolken ist Einer, der auch ein Einzelner und doch zugleich real das absolute Ganze ist? Dahin kann der Philosoph nicht zurück, und dies ist die Hauptsache: wenn das Subject einmal so weit ist, um den Gegensatz des Allgemeinen und Einzelnen in seiner Schärfe zu denken, so kann es ihn nicht mehr in der Form der Unmittelbar- keit, welche das Schöne ist, lösen, sondern der durch die Vermittlung des Denkens erfaßte Gegensatz kann nur durch dieselbe Vermittlung ge- hoben werden, wird aber dadurch auch tiefer gelöst, und wenn nach einem bekannten Gesetze allerdings auch Vermittlung wieder in Un- mittelbarkeit erlischt, so ist dies doch in diesem Sinne hier durchaus nicht anzuwenden. Die gemeine Erfahrung zeigt, daß die philosophische Bildung später ist als die ästhetische, daß das philosophische Denken die Unmittelbarkeit der ästhetischen Anschauung, der erfindenden Phantasie in dem denkenden Subjecte aufhebt (worüber Schiller so aufrichtig klagt) und daß ebenso ganze Zeitalter, in denen die Spekulation und Kritik herrscht, die Frische des künstlerischen Schaffens und des unmittel- baren Kunstgenusses verlieren. Weiße bestimmt nun (§. 9) die Schön- heit als die aufgehobene Wahrheit, sie ist aber vielmehr, wie sich im folgenden Systeme weiter begründen wird, die noch nicht vor- handene Wahrheit, d. h. die noch nicht vorhandene speculative Erkenntniß, und es kann hier in der Einleitung gegen seine Bestimmung ganz einfach die Kantische gesetzt werden, daß das Schöne wesentlich in einer Uebereinstimmung der Form eines Gegenstandes in der Auffassung des- selben vor allem Begriff mit dem Erkenntnißvermögen bestehe. Das Schöne ist demnach keineswegs mehr, sondern weniger als das Wahre. Weiße setzt das Irrationale, d. h. das Sinnliche hier, wie in der Stellung, die er dem Inhalte der Theologie, d. h. dem anthropomi-
Ernſtes glaubt, es gebe Individuen, die zugleich Individuen und ſchlechtweg das Abſolute ſeyen, der Widerſpruch ſey alſo unmittelbar ſinnlich gelöst. Die letzte Löſung aber iſt eben nur da, wo das Subject jenen Widerſpruch in ſeiner Strenge denkt und denkend aufhebt. Der Philoſoph bleibt nun freilich ein Einzelner in Fleiſch und Blut, aber er begreift ſich auch als dieſen Einzelnen im Ganzen und Allgemeinen als Glied desſelben; er muß ſterben, weil er dennoch Einzelner bleibt, aber auch darüber erhebt er ſich, weil er den Tod als nothwendigen Act des Allgemeinen gegen das Einzelne begreift. Soll denn dagegen viel- mehr dies die letzte Löſung ſeyn, wenn ich mir vorſtelle: ich zwar bleibe, wie ich auch das Allgemeine denkend bin, doch dieſer Einzelne, aber über den Wolken iſt Einer, der auch ein Einzelner und doch zugleich real das abſolute Ganze iſt? Dahin kann der Philoſoph nicht zurück, und dies iſt die Hauptſache: wenn das Subject einmal ſo weit iſt, um den Gegenſatz des Allgemeinen und Einzelnen in ſeiner Schärfe zu denken, ſo kann es ihn nicht mehr in der Form der Unmittelbar- keit, welche das Schöne iſt, löſen, ſondern der durch die Vermittlung des Denkens erfaßte Gegenſatz kann nur durch dieſelbe Vermittlung ge- hoben werden, wird aber dadurch auch tiefer gelöst, und wenn nach einem bekannten Geſetze allerdings auch Vermittlung wieder in Un- mittelbarkeit erliſcht, ſo iſt dies doch in dieſem Sinne hier durchaus nicht anzuwenden. Die gemeine Erfahrung zeigt, daß die philoſophiſche Bildung ſpäter iſt als die äſthetiſche, daß das philoſophiſche Denken die Unmittelbarkeit der äſthetiſchen Anſchauung, der erfindenden Phantaſie in dem denkenden Subjecte aufhebt (worüber Schiller ſo aufrichtig klagt) und daß ebenſo ganze Zeitalter, in denen die Spekulation und Kritik herrſcht, die Friſche des künſtleriſchen Schaffens und des unmittel- baren Kunſtgenuſſes verlieren. Weiße beſtimmt nun (§. 9) die Schön- heit als die aufgehobene Wahrheit, ſie iſt aber vielmehr, wie ſich im folgenden Syſteme weiter begründen wird, die noch nicht vor- handene Wahrheit, d. h. die noch nicht vorhandene ſpeculative Erkenntniß, und es kann hier in der Einleitung gegen ſeine Beſtimmung ganz einfach die Kantiſche geſetzt werden, daß das Schöne weſentlich in einer Uebereinſtimmung der Form eines Gegenſtandes in der Auffaſſung des- ſelben vor allem Begriff mit dem Erkenntnißvermögen beſtehe. Das Schöne iſt demnach keineswegs mehr, ſondern weniger als das Wahre. Weiße ſetzt das Irrationale, d. h. das Sinnliche hier, wie in der Stellung, die er dem Inhalte der Theologie, d. h. dem anthropomi-
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Ernſtes glaubt, es gebe Individuen, die zugleich Individuen und
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jenen Widerſpruch in ſeiner Strenge denkt und denkend aufhebt. Der
Philoſoph bleibt nun freilich ein Einzelner in Fleiſch und Blut, aber er
begreift ſich auch als dieſen Einzelnen im Ganzen und Allgemeinen als
Glied desſelben; er muß ſterben, weil er dennoch Einzelner bleibt, aber
auch darüber erhebt er ſich, weil er den Tod als nothwendigen Act
des Allgemeinen gegen das Einzelne begreift. Soll denn dagegen viel-
mehr dies die letzte Löſung ſeyn, wenn ich mir vorſtelle: ich zwar bleibe,
wie ich auch das Allgemeine denkend bin, doch dieſer Einzelne, aber
über den Wolken iſt Einer, der auch ein Einzelner und doch zugleich
real das abſolute Ganze iſt? Dahin kann der Philoſoph nicht zurück,
und dies iſt die Hauptſache: wenn das Subject einmal ſo weit iſt,
um den Gegenſatz des Allgemeinen und Einzelnen in ſeiner Schärfe zu
denken, ſo kann es ihn nicht mehr in der Form der Unmittelbar-
keit, welche das Schöne iſt, löſen, ſondern der durch die Vermittlung
des Denkens erfaßte Gegenſatz kann nur durch dieſelbe Vermittlung ge-
hoben werden, wird aber dadurch auch tiefer gelöst, und wenn nach
einem bekannten Geſetze allerdings auch Vermittlung wieder in Un-
mittelbarkeit erliſcht, ſo iſt dies doch in dieſem Sinne hier durchaus
nicht anzuwenden. Die gemeine Erfahrung zeigt, daß die philoſophiſche
Bildung ſpäter iſt als die äſthetiſche, daß das philoſophiſche Denken
die Unmittelbarkeit der äſthetiſchen Anſchauung, der erfindenden Phantaſie
in dem denkenden Subjecte aufhebt (worüber Schiller ſo aufrichtig
klagt) und daß ebenſo ganze Zeitalter, in denen die Spekulation und
Kritik herrſcht, die Friſche des künſtleriſchen Schaffens und des unmittel-
baren Kunſtgenuſſes verlieren. Weiße beſtimmt nun (§. 9) die Schön-
heit als die aufgehobene Wahrheit, ſie iſt aber vielmehr, wie ſich
im folgenden Syſteme weiter begründen wird, die noch nicht vor-
handene Wahrheit, d. h. die noch nicht vorhandene ſpeculative Erkenntniß,
und es kann hier in der Einleitung gegen ſeine Beſtimmung ganz einfach
die Kantiſche geſetzt werden, daß das Schöne weſentlich in einer
Uebereinſtimmung der Form eines Gegenſtandes in der Auffaſſung des-
ſelben vor allem Begriff mit dem Erkenntnißvermögen beſtehe. Das
Schöne iſt demnach keineswegs mehr, ſondern weniger als das
Wahre. Weiße ſetzt das Irrationale, d. h. das Sinnliche hier, wie
in der Stellung, die er dem Inhalte der Theologie, d. h. dem anthropomi-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/44>, abgerufen am 21.11.2024.
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