Diejenige Form des Witzes, welche diese Freiheit in reinem Spiele wirk- lich geltend macht, kann freier oder schweifender Witz genannt werden; die Leerheit derselben nöthigt aber den Witz, bestimmteren Gehalt zu suchen, und, obwohl er durch die Fremdartigkeit der herbeigeholten zweiten Vorstellung den unmittelbar vorliegenden Gegenstand im weiteren Sinne immer verläßt, so wendet er doch sein Spiel so, daß er ihn mit seiner Spitze trifft, also ein Subject um einer Häßlichkeit willen dem Lachen preisgibt. Dadurch entzieht er sich dem Vorwurfe eines bodenlosen Spieles, aber nur um in den andern der Stoffartig- keit zu fallen, denn das Spiel selbst wird jetzt bloses Mittel, Inhalt und Form fallen so bestimmt auseinander, daß derselbe Witz je nach dem Zusammen- hang, in den er zu stehen kommt, ein freier oder ein treffender seyn kann. Der treffende Witz ist als der ethisch gehaltvollere vorzuziehen; doch auch dieser Werth erleidet die Beschränkung, daß das getroffene Subject, weil das Ver- fahren nicht in sein Bewußtseyn eingeht, nicht oder nur zufällig mit dem be- lachenden in Ein befreites Selbstbewußtseyn aufgeht, und er verschwindet ganz, um vielmehr einem ethischen Vorwurfe zu weichen, wenn, was ganz nahe liegt, das Subject mit boshafter Absicht getroffen wird.
Das Epigramm von Liskow, die Ochsen Börnes: dies sind Witze, die bei ihrem Gegenstande bleiben und ihn mit scharfer Spitze treffen. Man kann, wie dies Wort schon oben gebraucht ist, diesen Witz den satyrischen nennen und das gemeine Urtheil der Gebildeten zieht ihn un- bedingt vor. Allein auf streng ästhetischem Boden ist nicht zu übersehen, daß hier zwischen dem sogenannten Gehalte, d. h. eben dem Treffen und dem Mittel gar kein organisches Verhältniß ist. Das Bild des Begießens, die eigentlichen Ochsen gehören in Wahrheit eigentlich nicht her; es wird dadurch über H. Sievers und über die Feinde des fort- schreitenden Geistes nichts Neues gesagt und man könnte beide ebensogut mit einem andern Bilde, im strengsten Sinne aber nur durch einfache Aufdeckung ihres verfinsterten Bewußtseyn wahrhaft treffen. So äußerlich ist beides verbunden, daß derselbe Witz nach Umständen ein freier oder treffender seyn kann; z. B. der angeführte Krähwinkler Witz wäre saty- risch, wenn der Schulmeister etwa ein Trinker wäre, der gern im Wirths- hause säße und sich gelegentlich schon damit ausgeredet hätte, daß das Klavierspiel seiner Tochter ihn so sehr aufrege, daß er ein anderes Lokal,
§. 195.
Diejenige Form des Witzes, welche dieſe Freiheit in reinem Spiele wirk- lich geltend macht, kann freier oder ſchweifender Witz genannt werden; die Leerheit derſelben nöthigt aber den Witz, beſtimmteren Gehalt zu ſuchen, und, obwohl er durch die Fremdartigkeit der herbeigeholten zweiten Vorſtellung den unmittelbar vorliegenden Gegenſtand im weiteren Sinne immer verläßt, ſo wendet er doch ſein Spiel ſo, daß er ihn mit ſeiner Spitze trifft, alſo ein Subject um einer Häßlichkeit willen dem Lachen preisgibt. Dadurch entzieht er ſich dem Vorwurfe eines bodenloſen Spieles, aber nur um in den andern der Stoffartig- keit zu fallen, denn das Spiel ſelbſt wird jetzt bloſes Mittel, Inhalt und Form fallen ſo beſtimmt auseinander, daß derſelbe Witz je nach dem Zuſammen- hang, in den er zu ſtehen kommt, ein freier oder ein treffender ſeyn kann. Der treffende Witz iſt als der ethiſch gehaltvollere vorzuziehen; doch auch dieſer Werth erleidet die Beſchränkung, daß das getroffene Subject, weil das Ver- fahren nicht in ſein Bewußtſeyn eingeht, nicht oder nur zufällig mit dem be- lachenden in Ein befreites Selbſtbewußtſeyn aufgeht, und er verſchwindet ganz, um vielmehr einem ethiſchen Vorwurfe zu weichen, wenn, was ganz nahe liegt, das Subject mit boshafter Abſicht getroffen wird.
Das Epigramm von Liskow, die Ochſen Börnes: dies ſind Witze, die bei ihrem Gegenſtande bleiben und ihn mit ſcharfer Spitze treffen. Man kann, wie dies Wort ſchon oben gebraucht iſt, dieſen Witz den ſatyriſchen nennen und das gemeine Urtheil der Gebildeten zieht ihn un- bedingt vor. Allein auf ſtreng äſthetiſchem Boden iſt nicht zu überſehen, daß hier zwiſchen dem ſogenannten Gehalte, d. h. eben dem Treffen und dem Mittel gar kein organiſches Verhältniß iſt. Das Bild des Begießens, die eigentlichen Ochſen gehören in Wahrheit eigentlich nicht her; es wird dadurch über H. Sievers und über die Feinde des fort- ſchreitenden Geiſtes nichts Neues geſagt und man könnte beide ebenſogut mit einem andern Bilde, im ſtrengſten Sinne aber nur durch einfache Aufdeckung ihres verfinſterten Bewußtſeyn wahrhaft treffen. So äußerlich iſt beides verbunden, daß derſelbe Witz nach Umſtänden ein freier oder treffender ſeyn kann; z. B. der angeführte Krähwinkler Witz wäre ſaty- riſch, wenn der Schulmeiſter etwa ein Trinker wäre, der gern im Wirths- hauſe ſäße und ſich gelegentlich ſchon damit ausgeredet hätte, daß das Klavierſpiel ſeiner Tochter ihn ſo ſehr aufrege, daß er ein anderes Lokal,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0441"n="427"/><divn="5"><head>§. 195.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Diejenige Form des Witzes, welche dieſe Freiheit in reinem Spiele wirk-<lb/>
lich geltend macht, kann freier oder ſchweifender Witz genannt werden; die<lb/>
Leerheit derſelben nöthigt aber den Witz, beſtimmteren Gehalt zu ſuchen, und,<lb/>
obwohl er durch die Fremdartigkeit der herbeigeholten zweiten Vorſtellung den<lb/>
unmittelbar vorliegenden Gegenſtand im weiteren Sinne immer verläßt, ſo wendet<lb/>
er doch ſein Spiel ſo, daß er ihn mit ſeiner Spitze trifft, alſo ein Subject um<lb/>
einer Häßlichkeit willen dem Lachen preisgibt. Dadurch entzieht er ſich dem<lb/>
Vorwurfe eines bodenloſen Spieles, aber nur um in den andern der Stoffartig-<lb/>
keit zu fallen, denn das Spiel ſelbſt wird jetzt bloſes Mittel, Inhalt und<lb/>
Form fallen ſo beſtimmt auseinander, daß derſelbe Witz je nach dem Zuſammen-<lb/>
hang, in den er zu ſtehen kommt, ein freier oder ein treffender ſeyn kann.<lb/>
Der treffende Witz iſt als der ethiſch gehaltvollere vorzuziehen; doch auch dieſer<lb/>
Werth erleidet die Beſchränkung, daß das getroffene Subject, weil das Ver-<lb/>
fahren nicht in ſein Bewußtſeyn eingeht, nicht oder nur zufällig mit dem be-<lb/>
lachenden in Ein befreites Selbſtbewußtſeyn aufgeht, und er verſchwindet ganz,<lb/>
um vielmehr einem ethiſchen Vorwurfe zu weichen, wenn, was ganz nahe liegt,<lb/>
das Subject mit boshafter Abſicht getroffen wird.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Das Epigramm von <hirendition="#g">Liskow</hi>, die Ochſen <hirendition="#g">Börnes</hi>: dies ſind Witze,<lb/>
die bei ihrem Gegenſtande bleiben und ihn mit ſcharfer Spitze treffen.<lb/>
Man kann, wie dies Wort ſchon oben gebraucht iſt, dieſen Witz den<lb/>ſatyriſchen nennen und das gemeine Urtheil der Gebildeten zieht ihn un-<lb/>
bedingt vor. Allein auf ſtreng äſthetiſchem Boden iſt nicht zu überſehen,<lb/>
daß hier zwiſchen dem ſogenannten Gehalte, d. h. eben dem Treffen<lb/>
und dem Mittel gar kein organiſches Verhältniß iſt. Das Bild des<lb/>
Begießens, die eigentlichen Ochſen gehören in Wahrheit eigentlich nicht<lb/>
her; es wird dadurch über H. <hirendition="#g">Sievers</hi> und über die Feinde des fort-<lb/>ſchreitenden Geiſtes nichts Neues geſagt und man könnte beide ebenſogut<lb/>
mit einem andern Bilde, im ſtrengſten Sinne aber nur durch einfache<lb/>
Aufdeckung ihres verfinſterten Bewußtſeyn wahrhaft treffen. So äußerlich<lb/>
iſt beides verbunden, daß derſelbe Witz nach Umſtänden ein freier oder<lb/>
treffender ſeyn kann; z. B. der angeführte Krähwinkler Witz wäre ſaty-<lb/>
riſch, wenn der Schulmeiſter etwa ein Trinker wäre, der gern im Wirths-<lb/>
hauſe ſäße und ſich gelegentlich ſchon damit ausgeredet hätte, daß das<lb/>
Klavierſpiel ſeiner Tochter ihn ſo ſehr aufrege, daß er ein anderes Lokal,<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[427/0441]
§. 195.
Diejenige Form des Witzes, welche dieſe Freiheit in reinem Spiele wirk-
lich geltend macht, kann freier oder ſchweifender Witz genannt werden; die
Leerheit derſelben nöthigt aber den Witz, beſtimmteren Gehalt zu ſuchen, und,
obwohl er durch die Fremdartigkeit der herbeigeholten zweiten Vorſtellung den
unmittelbar vorliegenden Gegenſtand im weiteren Sinne immer verläßt, ſo wendet
er doch ſein Spiel ſo, daß er ihn mit ſeiner Spitze trifft, alſo ein Subject um
einer Häßlichkeit willen dem Lachen preisgibt. Dadurch entzieht er ſich dem
Vorwurfe eines bodenloſen Spieles, aber nur um in den andern der Stoffartig-
keit zu fallen, denn das Spiel ſelbſt wird jetzt bloſes Mittel, Inhalt und
Form fallen ſo beſtimmt auseinander, daß derſelbe Witz je nach dem Zuſammen-
hang, in den er zu ſtehen kommt, ein freier oder ein treffender ſeyn kann.
Der treffende Witz iſt als der ethiſch gehaltvollere vorzuziehen; doch auch dieſer
Werth erleidet die Beſchränkung, daß das getroffene Subject, weil das Ver-
fahren nicht in ſein Bewußtſeyn eingeht, nicht oder nur zufällig mit dem be-
lachenden in Ein befreites Selbſtbewußtſeyn aufgeht, und er verſchwindet ganz,
um vielmehr einem ethiſchen Vorwurfe zu weichen, wenn, was ganz nahe liegt,
das Subject mit boshafter Abſicht getroffen wird.
Das Epigramm von Liskow, die Ochſen Börnes: dies ſind Witze,
die bei ihrem Gegenſtande bleiben und ihn mit ſcharfer Spitze treffen.
Man kann, wie dies Wort ſchon oben gebraucht iſt, dieſen Witz den
ſatyriſchen nennen und das gemeine Urtheil der Gebildeten zieht ihn un-
bedingt vor. Allein auf ſtreng äſthetiſchem Boden iſt nicht zu überſehen,
daß hier zwiſchen dem ſogenannten Gehalte, d. h. eben dem Treffen
und dem Mittel gar kein organiſches Verhältniß iſt. Das Bild des
Begießens, die eigentlichen Ochſen gehören in Wahrheit eigentlich nicht
her; es wird dadurch über H. Sievers und über die Feinde des fort-
ſchreitenden Geiſtes nichts Neues geſagt und man könnte beide ebenſogut
mit einem andern Bilde, im ſtrengſten Sinne aber nur durch einfache
Aufdeckung ihres verfinſterten Bewußtſeyn wahrhaft treffen. So äußerlich
iſt beides verbunden, daß derſelbe Witz nach Umſtänden ein freier oder
treffender ſeyn kann; z. B. der angeführte Krähwinkler Witz wäre ſaty-
riſch, wenn der Schulmeiſter etwa ein Trinker wäre, der gern im Wirths-
hauſe ſäße und ſich gelegentlich ſchon damit ausgeredet hätte, daß das
Klavierſpiel ſeiner Tochter ihn ſo ſehr aufrege, daß er ein anderes Lokal,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/441>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.