Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

eine Stärkung suchen müsse. Daher -- wegen dieses unorganischen
Verhältnisses zwischen Stoff und Form -- ist der treffende Witz stoff-
artig. Warum er den weiteren Mangel hat, in den Getroffenen nicht
einzugehen, ist schon im vorh. §. nachgewiesen. Ebendaher liegt es im
Witze selbst, daß er gern boshaft ist, und hiemit gerathen wir ganz
aus der Aesthetik heraus in ethische Verhältnisse. So etwas Schwebendes
ist der Witz: er ist entweder ästhetisch, aber schweifend ohne Boden,
oder er hat Boden und geht dann auf der Linie hin, wo das Aesthetische
den stoffartigen Verhältnissen und ethischen Fragen weicht. Dies ist so-
gleich im folg. §. ausdrücklich aufzufassen.

§. 196.

Der Witz schwankt also zwischen zwei Mängeln, deren einer leicht ein doppel-
ter wird: er ist entweder ästhetisch ohne ethischen Gehalt oder ethisch ohne äst-
hetische Einheit der Form und des Gehalts oder dazu noch ethisch verwerflich.
Dieser Mangel wirkt in ihm als Nothwendigkeit, solche Formen zu suchen,
worin er sich in ein begrenztes Object eingehend hineinarbeitet und so der
wahren ästhetischen Einheit der Idee und des Bildes näher kommt. In die-
ser Bewegung zu höheren Stufen ist diejenige Gattung als die niedrigste und
leerste zu setzen, worin, mag der Witz nun frei schweifender oder treffender
seyn, ganz das dargestellte äußerliche Verhältniß zwischen Inhalt und Form
Statt findet. Aber diese erste Gattung, welche als die abstracte zu bezeichnen
ist, steigt selbst nach dem allgemeinen Gesetze des Systems von einer ersten,
unmittelbaren Form zu weiteren, vermittelten Formen auf.

Es kann ein Widerspruch gegen die bisherige Weise der Anordnung
scheinen, daß die Eintheilung des Witzes mit der abstracten Gattung
beginnt; allein dies bringt die Stellung des Witzes in der Eintheilung
des Komischen mit sich. Diese selbst steigt vom unmittelbar Concreten
durch das Abstracte zum erfüllten Concreten auf. Verglichen mit jenem
ist das Abstracte der Durchgang zum Höheren; verglichen mit diesem ist
das Abstracte das Aermere und leidet ebenso, wiewohl aus anderem
Grunde und auf andere Weise, an undurchdrungener Einfachheit, wie
das erste, Unmittelbare, sinnlich Erfüllte, aber geistig Ungebrochene.
Uebrigens verwechsle man den abstracten Witz nicht mit dem freien oder
schweifenden. Die Unterscheidung zwischen diesem und dem treffenden be-

eine Stärkung ſuchen müſſe. Daher — wegen dieſes unorganiſchen
Verhältniſſes zwiſchen Stoff und Form — iſt der treffende Witz ſtoff-
artig. Warum er den weiteren Mangel hat, in den Getroffenen nicht
einzugehen, iſt ſchon im vorh. §. nachgewieſen. Ebendaher liegt es im
Witze ſelbſt, daß er gern boshaft iſt, und hiemit gerathen wir ganz
aus der Aeſthetik heraus in ethiſche Verhältniſſe. So etwas Schwebendes
iſt der Witz: er iſt entweder äſthetiſch, aber ſchweifend ohne Boden,
oder er hat Boden und geht dann auf der Linie hin, wo das Aeſthetiſche
den ſtoffartigen Verhältniſſen und ethiſchen Fragen weicht. Dies iſt ſo-
gleich im folg. §. ausdrücklich aufzufaſſen.

§. 196.

Der Witz ſchwankt alſo zwiſchen zwei Mängeln, deren einer leicht ein doppel-
ter wird: er iſt entweder äſthetiſch ohne ethiſchen Gehalt oder ethiſch ohne äſt-
hetiſche Einheit der Form und des Gehalts oder dazu noch ethiſch verwerflich.
Dieſer Mangel wirkt in ihm als Nothwendigkeit, ſolche Formen zu ſuchen,
worin er ſich in ein begrenztes Object eingehend hineinarbeitet und ſo der
wahren äſthetiſchen Einheit der Idee und des Bildes näher kommt. In die-
ſer Bewegung zu höheren Stufen iſt diejenige Gattung als die niedrigſte und
leerſte zu ſetzen, worin, mag der Witz nun frei ſchweifender oder treffender
ſeyn, ganz das dargeſtellte äußerliche Verhältniß zwiſchen Inhalt und Form
Statt findet. Aber dieſe erſte Gattung, welche als die abſtracte zu bezeichnen
iſt, ſteigt ſelbſt nach dem allgemeinen Geſetze des Syſtems von einer erſten,
unmittelbaren Form zu weiteren, vermittelten Formen auf.

Es kann ein Widerſpruch gegen die bisherige Weiſe der Anordnung
ſcheinen, daß die Eintheilung des Witzes mit der abſtracten Gattung
beginnt; allein dies bringt die Stellung des Witzes in der Eintheilung
des Komiſchen mit ſich. Dieſe ſelbſt ſteigt vom unmittelbar Concreten
durch das Abſtracte zum erfüllten Concreten auf. Verglichen mit jenem
iſt das Abſtracte der Durchgang zum Höheren; verglichen mit dieſem iſt
das Abſtracte das Aermere und leidet ebenſo, wiewohl aus anderem
Grunde und auf andere Weiſe, an undurchdrungener Einfachheit, wie
das erſte, Unmittelbare, ſinnlich Erfüllte, aber geiſtig Ungebrochene.
Uebrigens verwechsle man den abſtracten Witz nicht mit dem freien oder
ſchweifenden. Die Unterſcheidung zwiſchen dieſem und dem treffenden be-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0442" n="428"/>
eine Stärkung &#x017F;uchen mü&#x017F;&#x017F;e. Daher &#x2014; wegen die&#x017F;es unorgani&#x017F;chen<lb/>
Verhältni&#x017F;&#x017F;es zwi&#x017F;chen Stoff und Form &#x2014; i&#x017F;t der treffende Witz &#x017F;toff-<lb/>
artig. Warum er den weiteren Mangel hat, in den Getroffenen nicht<lb/>
einzugehen, i&#x017F;t &#x017F;chon im vorh. §. nachgewie&#x017F;en. Ebendaher liegt es im<lb/>
Witze &#x017F;elb&#x017F;t, daß er gern boshaft i&#x017F;t, und hiemit gerathen wir ganz<lb/>
aus der Ae&#x017F;thetik heraus in ethi&#x017F;che Verhältni&#x017F;&#x017F;e. So etwas Schwebendes<lb/>
i&#x017F;t der Witz: er i&#x017F;t entweder ä&#x017F;theti&#x017F;ch, aber &#x017F;chweifend ohne Boden,<lb/>
oder er hat Boden und geht dann auf der Linie hin, wo das Ae&#x017F;theti&#x017F;che<lb/>
den &#x017F;toffartigen Verhältni&#x017F;&#x017F;en und ethi&#x017F;chen Fragen weicht. Dies i&#x017F;t &#x017F;o-<lb/>
gleich im folg. §. ausdrücklich aufzufa&#x017F;&#x017F;en.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 196.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Der Witz &#x017F;chwankt al&#x017F;o zwi&#x017F;chen zwei Mängeln, deren einer leicht ein doppel-<lb/>
ter wird: er i&#x017F;t entweder ä&#x017F;theti&#x017F;ch ohne ethi&#x017F;chen Gehalt oder ethi&#x017F;ch ohne ä&#x017F;t-<lb/>
heti&#x017F;che Einheit der Form und des Gehalts oder dazu noch ethi&#x017F;ch verwerflich.<lb/>
Die&#x017F;er Mangel wirkt in ihm als Nothwendigkeit, &#x017F;olche Formen zu &#x017F;uchen,<lb/>
worin er &#x017F;ich in ein begrenztes Object eingehend hineinarbeitet und &#x017F;o der<lb/>
wahren ä&#x017F;theti&#x017F;chen Einheit der Idee und des Bildes näher kommt. In die-<lb/>
&#x017F;er Bewegung zu höheren Stufen i&#x017F;t diejenige Gattung als die niedrig&#x017F;te und<lb/>
leer&#x017F;te zu &#x017F;etzen, worin, mag der Witz nun frei &#x017F;chweifender oder treffender<lb/>
&#x017F;eyn, ganz das darge&#x017F;tellte äußerliche Verhältniß zwi&#x017F;chen Inhalt und Form<lb/>
Statt findet. Aber die&#x017F;e er&#x017F;te Gattung, welche als die ab&#x017F;tracte zu bezeichnen<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;teigt &#x017F;elb&#x017F;t nach dem allgemeinen Ge&#x017F;etze des Sy&#x017F;tems von einer er&#x017F;ten,<lb/>
unmittelbaren Form zu weiteren, vermittelten Formen auf.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Es kann ein Wider&#x017F;pruch gegen die bisherige Wei&#x017F;e der Anordnung<lb/>
&#x017F;cheinen, daß die Eintheilung des Witzes mit der ab&#x017F;tracten Gattung<lb/>
beginnt; allein dies bringt die Stellung des Witzes in der Eintheilung<lb/>
des Komi&#x017F;chen mit &#x017F;ich. Die&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;teigt vom unmittelbar Concreten<lb/>
durch das Ab&#x017F;tracte zum erfüllten Concreten auf. Verglichen mit jenem<lb/>
i&#x017F;t das Ab&#x017F;tracte der Durchgang zum Höheren; verglichen mit die&#x017F;em i&#x017F;t<lb/>
das Ab&#x017F;tracte das Aermere und leidet eben&#x017F;o, wiewohl aus anderem<lb/>
Grunde und auf andere Wei&#x017F;e, an undurchdrungener Einfachheit, wie<lb/>
das er&#x017F;te, Unmittelbare, &#x017F;innlich Erfüllte, aber gei&#x017F;tig Ungebrochene.<lb/>
Uebrigens verwechsle man den ab&#x017F;tracten Witz nicht mit dem freien oder<lb/>
&#x017F;chweifenden. Die Unter&#x017F;cheidung zwi&#x017F;chen die&#x017F;em und dem treffenden be-<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[428/0442] eine Stärkung ſuchen müſſe. Daher — wegen dieſes unorganiſchen Verhältniſſes zwiſchen Stoff und Form — iſt der treffende Witz ſtoff- artig. Warum er den weiteren Mangel hat, in den Getroffenen nicht einzugehen, iſt ſchon im vorh. §. nachgewieſen. Ebendaher liegt es im Witze ſelbſt, daß er gern boshaft iſt, und hiemit gerathen wir ganz aus der Aeſthetik heraus in ethiſche Verhältniſſe. So etwas Schwebendes iſt der Witz: er iſt entweder äſthetiſch, aber ſchweifend ohne Boden, oder er hat Boden und geht dann auf der Linie hin, wo das Aeſthetiſche den ſtoffartigen Verhältniſſen und ethiſchen Fragen weicht. Dies iſt ſo- gleich im folg. §. ausdrücklich aufzufaſſen. §. 196. Der Witz ſchwankt alſo zwiſchen zwei Mängeln, deren einer leicht ein doppel- ter wird: er iſt entweder äſthetiſch ohne ethiſchen Gehalt oder ethiſch ohne äſt- hetiſche Einheit der Form und des Gehalts oder dazu noch ethiſch verwerflich. Dieſer Mangel wirkt in ihm als Nothwendigkeit, ſolche Formen zu ſuchen, worin er ſich in ein begrenztes Object eingehend hineinarbeitet und ſo der wahren äſthetiſchen Einheit der Idee und des Bildes näher kommt. In die- ſer Bewegung zu höheren Stufen iſt diejenige Gattung als die niedrigſte und leerſte zu ſetzen, worin, mag der Witz nun frei ſchweifender oder treffender ſeyn, ganz das dargeſtellte äußerliche Verhältniß zwiſchen Inhalt und Form Statt findet. Aber dieſe erſte Gattung, welche als die abſtracte zu bezeichnen iſt, ſteigt ſelbſt nach dem allgemeinen Geſetze des Syſtems von einer erſten, unmittelbaren Form zu weiteren, vermittelten Formen auf. Es kann ein Widerſpruch gegen die bisherige Weiſe der Anordnung ſcheinen, daß die Eintheilung des Witzes mit der abſtracten Gattung beginnt; allein dies bringt die Stellung des Witzes in der Eintheilung des Komiſchen mit ſich. Dieſe ſelbſt ſteigt vom unmittelbar Concreten durch das Abſtracte zum erfüllten Concreten auf. Verglichen mit jenem iſt das Abſtracte der Durchgang zum Höheren; verglichen mit dieſem iſt das Abſtracte das Aermere und leidet ebenſo, wiewohl aus anderem Grunde und auf andere Weiſe, an undurchdrungener Einfachheit, wie das erſte, Unmittelbare, ſinnlich Erfüllte, aber geiſtig Ungebrochene. Uebrigens verwechsle man den abſtracten Witz nicht mit dem freien oder ſchweifenden. Die Unterſcheidung zwiſchen dieſem und dem treffenden be-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/442
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/442>, abgerufen am 22.11.2024.