Narrenfreiheit hinter dieser Maske spielen zu lassen. Durch diese nun läßt sie, wer ihr begegnet, anlaufen und zeigt ihm den Narren, den er in ihr objectiv zu finden meinte, in ihm selbst. So ist die Thorheit in sich reflectirt und fördert zugleich das Bewußtseyn ihrer Allgemeinheit zu Tage. Allein es geht nicht tief; Alles bleibt bloser Spaß; es ist nirgends Metaphysik, Denken des eigenen und des Welt-Widerspruchs als eines solchen. Nach unserer Entwicklung müssen wir den ersten Grund dieses Mangels schon darin sehen, daß die lustige Person zum voraus nicht den Stoff der geistigeren Komik, den vertieften sittlichen Gehalt und Schmerz über seine Verwicklung, den Kampf des sittlichen Bewußtseyns in sich trägt. (Der Narr im Lear nimmt freilich am sitt- lichen Leben tieferen Antheil, als sonst der Narr pflegt.) Aus jener ober- flächlichen Theilnahme an den Gegensätzen des Lebens kann auch nur eine oberflächliche Befreiung hervorgehen.
§. 217.
In diese unmittelbare Lust muß die herbere Erfahrung der allgemeinen1 sittlichen Unreinheit und des allgemeinen Uebels, denen sich auch das lustige Subject nicht entziehen kann, als Quelle inneren Kampfes einbrechen. Die jugendliche Fülle des sinnlichen Wohlseyns läßt diesen jedoch nicht über den ersten Ansatz hinauskommen und der Humor bleibt naiv mit einem blosen An- fluge erlebten tieferen Widerspruchs. Geht jedoch diese Naturkraft in ihrem2 Mangel an Selbstbewachung zu gewissenlosem und rohem Genuß über und ärndtet sie als Frucht desselben zu anderen Uebeln etwa grobe Häßlichkeit, so scheint aufgehoben, was §. 207 und 208 forderte. Allein zugleich mit diesem Bruche des natürlichen Wohlseyns geht das Subject in sich, das sittliche Leben wacht als Gewissen auf. Die Verschlechterung geht jedoch nicht so tief, daß sie nicht auf dem Grunde jener ersten, noch nicht verlorenen Naturlustigkeit durch ein stetes Spiel zwischen der Selbstbeschönigung und dem immer neu zu- fließenden Stoffe der Selbstanklage sich entlasten könnte: der humoristische Taugenichts.
1. Starke, jugendliche Naturen, die freilich zu dem Bewußtseyn gelangen, daß sie mit den Wölfen heulen müssen, aber die Fülle der unüberwindlichen Gesundheit einer ungebrochenen Kraft schäumt über das
Narrenfreiheit hinter dieſer Maske ſpielen zu laſſen. Durch dieſe nun läßt ſie, wer ihr begegnet, anlaufen und zeigt ihm den Narren, den er in ihr objectiv zu finden meinte, in ihm ſelbſt. So iſt die Thorheit in ſich reflectirt und fördert zugleich das Bewußtſeyn ihrer Allgemeinheit zu Tage. Allein es geht nicht tief; Alles bleibt bloſer Spaß; es iſt nirgends Metaphyſik, Denken des eigenen und des Welt-Widerſpruchs als eines ſolchen. Nach unſerer Entwicklung müſſen wir den erſten Grund dieſes Mangels ſchon darin ſehen, daß die luſtige Perſon zum voraus nicht den Stoff der geiſtigeren Komik, den vertieften ſittlichen Gehalt und Schmerz über ſeine Verwicklung, den Kampf des ſittlichen Bewußtſeyns in ſich trägt. (Der Narr im Lear nimmt freilich am ſitt- lichen Leben tieferen Antheil, als ſonſt der Narr pflegt.) Aus jener ober- flächlichen Theilnahme an den Gegenſätzen des Lebens kann auch nur eine oberflächliche Befreiung hervorgehen.
§. 217.
In dieſe unmittelbare Luſt muß die herbere Erfahrung der allgemeinen1 ſittlichen Unreinheit und des allgemeinen Uebels, denen ſich auch das luſtige Subject nicht entziehen kann, als Quelle inneren Kampfes einbrechen. Die jugendliche Fülle des ſinnlichen Wohlſeyns läßt dieſen jedoch nicht über den erſten Anſatz hinauskommen und der Humor bleibt naiv mit einem bloſen An- fluge erlebten tieferen Widerſpruchs. Geht jedoch dieſe Naturkraft in ihrem2 Mangel an Selbſtbewachung zu gewiſſenloſem und rohem Genuß über und ärndtet ſie als Frucht deſſelben zu anderen Uebeln etwa grobe Häßlichkeit, ſo ſcheint aufgehoben, was §. 207 und 208 forderte. Allein zugleich mit dieſem Bruche des natürlichen Wohlſeyns geht das Subject in ſich, das ſittliche Leben wacht als Gewiſſen auf. Die Verſchlechterung geht jedoch nicht ſo tief, daß ſie nicht auf dem Grunde jener erſten, noch nicht verlorenen Naturluſtigkeit durch ein ſtetes Spiel zwiſchen der Selbſtbeſchönigung und dem immer neu zu- fließenden Stoffe der Selbſtanklage ſich entlaſten könnte: der humoriſtiſche Taugenichts.
1. Starke, jugendliche Naturen, die freilich zu dem Bewußtſeyn gelangen, daß ſie mit den Wölfen heulen müſſen, aber die Fülle der unüberwindlichen Geſundheit einer ungebrochenen Kraft ſchäumt über das
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Narrenfreiheit hinter dieſer Maske ſpielen zu laſſen. Durch dieſe nun
läßt ſie, wer ihr begegnet, anlaufen und zeigt ihm den Narren, den er
in ihr objectiv zu finden meinte, in ihm ſelbſt. So iſt die Thorheit
in ſich reflectirt und fördert zugleich das Bewußtſeyn ihrer Allgemeinheit
zu Tage. Allein es geht nicht tief; Alles bleibt bloſer Spaß; es iſt
nirgends Metaphyſik, Denken des eigenen und des Welt-Widerſpruchs
als eines ſolchen. Nach unſerer Entwicklung müſſen wir den erſten
Grund dieſes Mangels ſchon darin ſehen, daß die luſtige Perſon zum
voraus nicht den Stoff der geiſtigeren Komik, den vertieften ſittlichen
Gehalt und Schmerz über ſeine Verwicklung, den Kampf des ſittlichen
Bewußtſeyns in ſich trägt. (Der Narr im Lear nimmt freilich am ſitt-
lichen Leben tieferen Antheil, als ſonſt der Narr pflegt.) Aus jener ober-
flächlichen Theilnahme an den Gegenſätzen des Lebens kann auch nur eine
oberflächliche Befreiung hervorgehen.
§. 217.
In dieſe unmittelbare Luſt muß die herbere Erfahrung der allgemeinen
ſittlichen Unreinheit und des allgemeinen Uebels, denen ſich auch das luſtige
Subject nicht entziehen kann, als Quelle inneren Kampfes einbrechen. Die
jugendliche Fülle des ſinnlichen Wohlſeyns läßt dieſen jedoch nicht über den
erſten Anſatz hinauskommen und der Humor bleibt naiv mit einem bloſen An-
fluge erlebten tieferen Widerſpruchs. Geht jedoch dieſe Naturkraft in ihrem
Mangel an Selbſtbewachung zu gewiſſenloſem und rohem Genuß über und
ärndtet ſie als Frucht deſſelben zu anderen Uebeln etwa grobe Häßlichkeit,
ſo ſcheint aufgehoben, was §. 207 und 208 forderte. Allein zugleich mit
dieſem Bruche des natürlichen Wohlſeyns geht das Subject in ſich, das ſittliche
Leben wacht als Gewiſſen auf. Die Verſchlechterung geht jedoch nicht ſo tief,
daß ſie nicht auf dem Grunde jener erſten, noch nicht verlorenen Naturluſtigkeit
durch ein ſtetes Spiel zwiſchen der Selbſtbeſchönigung und dem immer neu zu-
fließenden Stoffe der Selbſtanklage ſich entlaſten könnte: der humoriſtiſche
Taugenichts.
1. Starke, jugendliche Naturen, die freilich zu dem Bewußtſeyn
gelangen, daß ſie mit den Wölfen heulen müſſen, aber die Fülle der
unüberwindlichen Geſundheit einer ungebrochenen Kraft ſchäumt über das
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/475>, abgerufen am 22.11.2024.
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