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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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es nur in dieser gegensätzlichen Spannung sein Gelten hat? Beides zu-
gleich: in dem Augenblick, wo es nur den negativen Werth, den ihm
diese Spannung gibt, zu haben scheint, nimmt es, was am Erhabenen
nach Abzug der Ueberschwenglichkeit und Fremdheit Wahres ist, in sich
herein und hat nun, so durchdrungen von eigenem Werthe, die unendliche
Kraft, diese imponirende Anmuthung zurückzuweisen. Aber der Vorgang
sitzt eben in diesem Augenblick: das unendlich Kleine ist zwar selbst un-
endlich groß, aber es ist zugleich gegenüber dem außer es gestellten un-
endlich Großen noch als unendlich Kleines gesetzt, denn im Momente jenes
Uebergangs liegt eben dies Widersprechende: so eben ist es noch unendlich
klein und so eben ist es selbst vom Inhalte des unendlich Großen durch-
drungen; die Grenze ist nicht zu nennen. So ist ja z. B. in einer sehr
naiven Aeußerung die liebe Unschuld so eben, da sie Anstand und Rücksicht
durchbrach, ganz dummlicht und queer, und so eben hat sie darin das
ganze Recht der wahren, der unschuldigen Natur, welche Anstand und
Rücksicht als falschen Schein durchbrechen darf, weil sie, was an diesem
bleibt, wenn man die falsche Kunst wegnimmt, ganz selbst besitzt. Ließe
man aber jenes erste "soeben" weg, so fiele der ganze Act zusammen und
es bliebe nicht etwa, wie es scheinen möchte, die ruhige Gestalt un-
schuldiger Schönheit übrig, denn dazu war doch die naive Handlung zu
stark, fing zu sehr mit etwas an, was anfangs einen Moment lang
als häßlich erschien. Die Lust ist daher eine gewürzte und doppelte,
weil das Endliche nicht nur gilt, sondern mit dem Nachdrucke gilt, seinen
Feind besiegt zu haben; aber diese Würze ist wie alle Würze, die an-
fangs durch ihre Schärfe leise abstößt, denn das Endliche wäre so eben
noch bloses, schlechtes, in seiner Anmaßung gegen das Erhabene häß-
liches Endliches, wenn es nicht so eben den Geist und das Aroma zur
Versüßung jener Schärfe in sich aufnähme. Es ist also Lust durch Un-
lust; doppelte, weil durch Unlust gewürzte Lust, aber doch Lust mit Unlust.
Es ist ein durchaus bewegtes Gefühl, worin Unlust in Lust, Lust in
Unlust hinüberzittert. Der Genuß wäre demnach, so bestimmt, noch kein
voller; es fehlt noch das Letzte, was diese Bewegung in Ein Gefühl
voller Lust zusammenfaßt.

§. 226.

Sowohl durch die Unruhe dieser Bewegtheit, als auch durch die be-
sondere Befriedigung der Sinne und des Verstandes, welche daraus fließt,

es nur in dieſer gegenſätzlichen Spannung ſein Gelten hat? Beides zu-
gleich: in dem Augenblick, wo es nur den negativen Werth, den ihm
dieſe Spannung gibt, zu haben ſcheint, nimmt es, was am Erhabenen
nach Abzug der Ueberſchwenglichkeit und Fremdheit Wahres iſt, in ſich
herein und hat nun, ſo durchdrungen von eigenem Werthe, die unendliche
Kraft, dieſe imponirende Anmuthung zurückzuweiſen. Aber der Vorgang
ſitzt eben in dieſem Augenblick: das unendlich Kleine iſt zwar ſelbſt un-
endlich groß, aber es iſt zugleich gegenüber dem außer es geſtellten un-
endlich Großen noch als unendlich Kleines geſetzt, denn im Momente jenes
Uebergangs liegt eben dies Widerſprechende: ſo eben iſt es noch unendlich
klein und ſo eben iſt es ſelbſt vom Inhalte des unendlich Großen durch-
drungen; die Grenze iſt nicht zu nennen. So iſt ja z. B. in einer ſehr
naiven Aeußerung die liebe Unſchuld ſo eben, da ſie Anſtand und Rückſicht
durchbrach, ganz dummlicht und queer, und ſo eben hat ſie darin das
ganze Recht der wahren, der unſchuldigen Natur, welche Anſtand und
Rückſicht als falſchen Schein durchbrechen darf, weil ſie, was an dieſem
bleibt, wenn man die falſche Kunſt wegnimmt, ganz ſelbſt beſitzt. Ließe
man aber jenes erſte „ſoeben“ weg, ſo fiele der ganze Act zuſammen und
es bliebe nicht etwa, wie es ſcheinen möchte, die ruhige Geſtalt un-
ſchuldiger Schönheit übrig, denn dazu war doch die naive Handlung zu
ſtark, fing zu ſehr mit etwas an, was anfangs einen Moment lang
als häßlich erſchien. Die Luſt iſt daher eine gewürzte und doppelte,
weil das Endliche nicht nur gilt, ſondern mit dem Nachdrucke gilt, ſeinen
Feind beſiegt zu haben; aber dieſe Würze iſt wie alle Würze, die an-
fangs durch ihre Schärfe leiſe abſtößt, denn das Endliche wäre ſo eben
noch bloſes, ſchlechtes, in ſeiner Anmaßung gegen das Erhabene häß-
liches Endliches, wenn es nicht ſo eben den Geiſt und das Aroma zur
Verſüßung jener Schärfe in ſich aufnähme. Es iſt alſo Luſt durch Un-
luſt; doppelte, weil durch Unluſt gewürzte Luſt, aber doch Luſt mit Unluſt.
Es iſt ein durchaus bewegtes Gefühl, worin Unluſt in Luſt, Luſt in
Unluſt hinüberzittert. Der Genuß wäre demnach, ſo beſtimmt, noch kein
voller; es fehlt noch das Letzte, was dieſe Bewegung in Ein Gefühl
voller Luſt zuſammenfaßt.

§. 226.

Sowohl durch die Unruhe dieſer Bewegtheit, als auch durch die be-
ſondere Befriedigung der Sinne und des Verſtandes, welche daraus fließt,

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[477/0491] es nur in dieſer gegenſätzlichen Spannung ſein Gelten hat? Beides zu- gleich: in dem Augenblick, wo es nur den negativen Werth, den ihm dieſe Spannung gibt, zu haben ſcheint, nimmt es, was am Erhabenen nach Abzug der Ueberſchwenglichkeit und Fremdheit Wahres iſt, in ſich herein und hat nun, ſo durchdrungen von eigenem Werthe, die unendliche Kraft, dieſe imponirende Anmuthung zurückzuweiſen. Aber der Vorgang ſitzt eben in dieſem Augenblick: das unendlich Kleine iſt zwar ſelbſt un- endlich groß, aber es iſt zugleich gegenüber dem außer es geſtellten un- endlich Großen noch als unendlich Kleines geſetzt, denn im Momente jenes Uebergangs liegt eben dies Widerſprechende: ſo eben iſt es noch unendlich klein und ſo eben iſt es ſelbſt vom Inhalte des unendlich Großen durch- drungen; die Grenze iſt nicht zu nennen. So iſt ja z. B. in einer ſehr naiven Aeußerung die liebe Unſchuld ſo eben, da ſie Anſtand und Rückſicht durchbrach, ganz dummlicht und queer, und ſo eben hat ſie darin das ganze Recht der wahren, der unſchuldigen Natur, welche Anſtand und Rückſicht als falſchen Schein durchbrechen darf, weil ſie, was an dieſem bleibt, wenn man die falſche Kunſt wegnimmt, ganz ſelbſt beſitzt. Ließe man aber jenes erſte „ſoeben“ weg, ſo fiele der ganze Act zuſammen und es bliebe nicht etwa, wie es ſcheinen möchte, die ruhige Geſtalt un- ſchuldiger Schönheit übrig, denn dazu war doch die naive Handlung zu ſtark, fing zu ſehr mit etwas an, was anfangs einen Moment lang als häßlich erſchien. Die Luſt iſt daher eine gewürzte und doppelte, weil das Endliche nicht nur gilt, ſondern mit dem Nachdrucke gilt, ſeinen Feind beſiegt zu haben; aber dieſe Würze iſt wie alle Würze, die an- fangs durch ihre Schärfe leiſe abſtößt, denn das Endliche wäre ſo eben noch bloſes, ſchlechtes, in ſeiner Anmaßung gegen das Erhabene häß- liches Endliches, wenn es nicht ſo eben den Geiſt und das Aroma zur Verſüßung jener Schärfe in ſich aufnähme. Es iſt alſo Luſt durch Un- luſt; doppelte, weil durch Unluſt gewürzte Luſt, aber doch Luſt mit Unluſt. Es iſt ein durchaus bewegtes Gefühl, worin Unluſt in Luſt, Luſt in Unluſt hinüberzittert. Der Genuß wäre demnach, ſo beſtimmt, noch kein voller; es fehlt noch das Letzte, was dieſe Bewegung in Ein Gefühl voller Luſt zuſammenfaßt. §. 226. Sowohl durch die Unruhe dieſer Bewegtheit, als auch durch die be- ſondere Befriedigung der Sinne und des Verſtandes, welche daraus fließt,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/491>, abgerufen am 22.11.2024.