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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Natur mit den noch unausgebildeten Gattungsformen Umbildungen vor,
als deren Analogie der menschliche Fötus betrachtet werden kann, der die
Hauptformen des Thierreichs in seinen Metamorphosen darstellt. Diese
Frage gehört aber nicht hieher; wir haben es mit der ausgebildeten
jetzigen Welt zu thun. Nur Spielarten sind neue Formen, welche aus
Impfung, Zeugung entstehen; alle andern Unterschiede sind constant
und bleiben bei ihrem Typus. In den allgemeinen Linien des Unterschieds
treten als die schärfsten Grenzen hervor die der Reiche. Darauf folgt
die abgrenzende Linie der Hauptstufen, unter welchen man z. B. im
Thierreich die von Cüvier eingeführten vier Typen (Wirbelthiere u. s. w.),
dann die sogenannten Classen auf rein naturwissenschaftlichem Boden zu be-
fassen hätte; die Aesthetik wird aber hierin, wenn sie im zweiten Theile sich
auf das Bestimmte einläßt, einen andern Weg zu nehmen haben und sich
vorzüglich an die Unterschiede halten, die durch das Element bedingt
sind. So stehen denn z. B. die Vögel als Art unter der Gattung
Thier, zunächst über ihnen die Säugethiere des Landes. Diese
beiden Formen sind nicht coordinirt, sondern die eine steht als
Stufe über der andern; die Linie ist aber so fest gezogen, daß diese
sich niemals zu jenen als Gattung zur Art verhalten können. Nun
zeigen sich zwar auf allen Grenzpunkten sowohl der Reiche als der Haupt-
stufen Uebergangsformen als lebendiger Beweis, daß es dieselbe Natur
ist, welche eines wie das andere gebildet hat, aber sie sind durch das
auffallend Verworrene ihrer Bildung, das sich aufdrängt, sobald man sie
nicht nur mit sich selbst, sondern mit den klaren Hauptstufen vergleicht,
gerade die Bestätigung der Grenze. Davon mehr im folg. §. -- Grobe
Empiriker bezweifeln übrigens nicht nur die Möglichkeit einer Eintheilung,
sondern noch mehr die Stufenfolge in der Natur. Es kann aber nicht die
Pflicht der Aesthetik seyn, die Wahrheit dieser Anschauungsweise, ohne
welche die Betrachtung der Natur alles höhere Interesse verliert, zu
beweisen; den bekannten Schwierigkeiten der Durchführung dieser Idee im
Kleinen und Einzelnen, wie sie theils durch die lückenhafte Kenntniß der Natur,
theils durch die unendliche Vielfältigkeit der Formen, theils dadurch ent-
stehen, daß neben der Stufenordnung die horizontale Linie verschiedener
localer, klimatischer und anderer Bedingungen zu berücksichtigen ist, kann
sie jedoch belehrende Beispiele aus ihrem eigenen Gebiete gegenüberstellen.
So hat die lyrische Dichtkunst unzählige Formen, die so schwer einzu-
theilen sind, als die Insekten; trotzdem stellen ihre Hauptformen eine
ganz deutliche Stufenfolge dar.


Natur mit den noch unausgebildeten Gattungsformen Umbildungen vor,
als deren Analogie der menſchliche Fötus betrachtet werden kann, der die
Hauptformen des Thierreichs in ſeinen Metamorphoſen darſtellt. Dieſe
Frage gehört aber nicht hieher; wir haben es mit der ausgebildeten
jetzigen Welt zu thun. Nur Spielarten ſind neue Formen, welche aus
Impfung, Zeugung entſtehen; alle andern Unterſchiede ſind conſtant
und bleiben bei ihrem Typus. In den allgemeinen Linien des Unterſchieds
treten als die ſchärfſten Grenzen hervor die der Reiche. Darauf folgt
die abgrenzende Linie der Hauptſtufen, unter welchen man z. B. im
Thierreich die von Cüvier eingeführten vier Typen (Wirbelthiere u. ſ. w.),
dann die ſogenannten Claſſen auf rein naturwiſſenſchaftlichem Boden zu be-
faſſen hätte; die Aeſthetik wird aber hierin, wenn ſie im zweiten Theile ſich
auf das Beſtimmte einläßt, einen andern Weg zu nehmen haben und ſich
vorzüglich an die Unterſchiede halten, die durch das Element bedingt
ſind. So ſtehen denn z. B. die Vögel als Art unter der Gattung
Thier, zunächſt über ihnen die Säugethiere des Landes. Dieſe
beiden Formen ſind nicht coordinirt, ſondern die eine ſteht als
Stufe über der andern; die Linie iſt aber ſo feſt gezogen, daß dieſe
ſich niemals zu jenen als Gattung zur Art verhalten können. Nun
zeigen ſich zwar auf allen Grenzpunkten ſowohl der Reiche als der Haupt-
ſtufen Uebergangsformen als lebendiger Beweis, daß es dieſelbe Natur
iſt, welche eines wie das andere gebildet hat, aber ſie ſind durch das
auffallend Verworrene ihrer Bildung, das ſich aufdrängt, ſobald man ſie
nicht nur mit ſich ſelbſt, ſondern mit den klaren Hauptſtufen vergleicht,
gerade die Beſtätigung der Grenze. Davon mehr im folg. §. — Grobe
Empiriker bezweifeln übrigens nicht nur die Möglichkeit einer Eintheilung,
ſondern noch mehr die Stufenfolge in der Natur. Es kann aber nicht die
Pflicht der Aeſthetik ſeyn, die Wahrheit dieſer Anſchauungsweiſe, ohne
welche die Betrachtung der Natur alles höhere Intereſſe verliert, zu
beweiſen; den bekannten Schwierigkeiten der Durchführung dieſer Idee im
Kleinen und Einzelnen, wie ſie theils durch die lückenhafte Kenntniß der Natur,
theils durch die unendliche Vielfältigkeit der Formen, theils dadurch ent-
ſtehen, daß neben der Stufenordnung die horizontale Linie verſchiedener
localer, klimatiſcher und anderer Bedingungen zu berückſichtigen iſt, kann
ſie jedoch belehrende Beiſpiele aus ihrem eigenen Gebiete gegenüberſtellen.
So hat die lyriſche Dichtkunſt unzählige Formen, die ſo ſchwer einzu-
theilen ſind, als die Inſekten; trotzdem ſtellen ihre Hauptformen eine
ganz deutliche Stufenfolge dar.


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[69/0083] Natur mit den noch unausgebildeten Gattungsformen Umbildungen vor, als deren Analogie der menſchliche Fötus betrachtet werden kann, der die Hauptformen des Thierreichs in ſeinen Metamorphoſen darſtellt. Dieſe Frage gehört aber nicht hieher; wir haben es mit der ausgebildeten jetzigen Welt zu thun. Nur Spielarten ſind neue Formen, welche aus Impfung, Zeugung entſtehen; alle andern Unterſchiede ſind conſtant und bleiben bei ihrem Typus. In den allgemeinen Linien des Unterſchieds treten als die ſchärfſten Grenzen hervor die der Reiche. Darauf folgt die abgrenzende Linie der Hauptſtufen, unter welchen man z. B. im Thierreich die von Cüvier eingeführten vier Typen (Wirbelthiere u. ſ. w.), dann die ſogenannten Claſſen auf rein naturwiſſenſchaftlichem Boden zu be- faſſen hätte; die Aeſthetik wird aber hierin, wenn ſie im zweiten Theile ſich auf das Beſtimmte einläßt, einen andern Weg zu nehmen haben und ſich vorzüglich an die Unterſchiede halten, die durch das Element bedingt ſind. So ſtehen denn z. B. die Vögel als Art unter der Gattung Thier, zunächſt über ihnen die Säugethiere des Landes. Dieſe beiden Formen ſind nicht coordinirt, ſondern die eine ſteht als Stufe über der andern; die Linie iſt aber ſo feſt gezogen, daß dieſe ſich niemals zu jenen als Gattung zur Art verhalten können. Nun zeigen ſich zwar auf allen Grenzpunkten ſowohl der Reiche als der Haupt- ſtufen Uebergangsformen als lebendiger Beweis, daß es dieſelbe Natur iſt, welche eines wie das andere gebildet hat, aber ſie ſind durch das auffallend Verworrene ihrer Bildung, das ſich aufdrängt, ſobald man ſie nicht nur mit ſich ſelbſt, ſondern mit den klaren Hauptſtufen vergleicht, gerade die Beſtätigung der Grenze. Davon mehr im folg. §. — Grobe Empiriker bezweifeln übrigens nicht nur die Möglichkeit einer Eintheilung, ſondern noch mehr die Stufenfolge in der Natur. Es kann aber nicht die Pflicht der Aeſthetik ſeyn, die Wahrheit dieſer Anſchauungsweiſe, ohne welche die Betrachtung der Natur alles höhere Intereſſe verliert, zu beweiſen; den bekannten Schwierigkeiten der Durchführung dieſer Idee im Kleinen und Einzelnen, wie ſie theils durch die lückenhafte Kenntniß der Natur, theils durch die unendliche Vielfältigkeit der Formen, theils dadurch ent- ſtehen, daß neben der Stufenordnung die horizontale Linie verſchiedener localer, klimatiſcher und anderer Bedingungen zu berückſichtigen iſt, kann ſie jedoch belehrende Beiſpiele aus ihrem eigenen Gebiete gegenüberſtellen. So hat die lyriſche Dichtkunſt unzählige Formen, die ſo ſchwer einzu- theilen ſind, als die Inſekten; trotzdem ſtellen ihre Hauptformen eine ganz deutliche Stufenfolge dar.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/83>, abgerufen am 21.11.2024.