Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

doch ihre äußerst reiche Fülle sich zu so schönen, kräftig gesonderten, von
energischen Schatten durchschnittenen Massen sammelt, daß diesem Baume die
herrlichste Krone unter allen Laubhölzern zuzuerkennen ist; keiner der Bäume,
die zu dem vorliegenden Typus gehörten, vereinigt Würde so schön mit süßer,
gemüthvoller Anmuth.

§. 281.

Wo Bäume zu Gruppen zusammentreten, erwartet das Auge eine1
Einheit von Gegensätzen in Zusammenwirkung der Pflanzenschönheit nach
ihren verschiedenen Momenten, wobei natürlich der Boden und Hintergrund
von wesentlicher Bedeutung ist. Das Starke soll sich mit dem Weichen, das
Zerfließende mit dem Bestimmten, das Finstere mit dem Hellen zu einem
Ganzen zusammenbauen, dessen äußerer Umriß eine beruhigende Wechselergänzung
von Linien mit einem abschließenden Gipfel darbietet. In großem Maßstabe2
wiederholt die Ueberkleidung des Erdreichs durch geselliges Gras und Kraut
der Wald. Sein Ueberblick ist einförmig, wenn er nicht mit Gebirgsformen
als ihr krauses Gewand zusammengefaßt wird. Im Innern erscheint er als eine
selbständige, in ungestörter Ursprünglichkeit webende Pflanzenwelt und erzeugt in
heimlichen Schauern am vollständigsten die in §. 271, 2. bezeichnete Stimmung.

1. Stellen sich Gruppen aus Bäumen Einer Art zusammen, so wird
der Zufall nur dann günstig genannt werden können, wenn sie von ver-
schiedenem Alter, Größe, Bau, Farbe, Stellung sind, daher sich durch
Gegensätze ergänzen. Handelt es sich von Gruppen aus Bäumen ver-
schiedener Art, so wird sich der vom Auge geforderte Gegensatz und seine
Vermittlung leichter einstellen. Hier ist nun namentlich zu erwähnen, daß
die aufgeführten Typen nicht mit strenger Grenze an Eine Zone vertheilt
sind. So hat nicht nur die heiße Zone in höheren Gegenden auch Nadelholz,
neben streng gebildeten Monokotyledonen verästetes, weicheres Laubholz,
sondern namentlich ist der wärmeren und der kälteren gemäßigten Zone
Laubholz mit gefiedertem Baumschlage, der immer an die tropische Mimosen-
form erinnert, gemeinsam. Neben den harten Tannen, den vollen Linden
fehlen uns die durchsichtigen, zart gefiederten Acazien nicht und die eben-
falls gefiederte, doch reichere, derbere Esche, der gelappte Ahorn ist ein
in den deutschen Gebirgswäldern sogar sehr häufiger Baum. Zu dem
massigen, aber unbestimmter umrissenen Baumschlag unserer Linden, zu der
herben balligen Buche geben sie die gesondertere, durchsichtige, symmetrischer
gezeichnete Form. Zart hebt sich die helle, dünne Birke auf dem Grunde
harter Buchen; im Vordergrunde steht sie nicht schön, denn dieser braucht
einen starken, energischen, in der Farbe satten Baum, um zurückzutreiben.
Die unendliche Möglichkeit von Wechsel-Erhöhung der Farben und Formen

7*

doch ihre äußerſt reiche Fülle ſich zu ſo ſchönen, kräftig geſonderten, von
energiſchen Schatten durchſchnittenen Maſſen ſammelt, daß dieſem Baume die
herrlichſte Krone unter allen Laubhölzern zuzuerkennen iſt; keiner der Bäume,
die zu dem vorliegenden Typus gehörten, vereinigt Würde ſo ſchön mit ſüßer,
gemüthvoller Anmuth.

§. 281.

Wo Bäume zu Gruppen zuſammentreten, erwartet das Auge eine1
Einheit von Gegenſätzen in Zuſammenwirkung der Pflanzenſchönheit nach
ihren verſchiedenen Momenten, wobei natürlich der Boden und Hintergrund
von weſentlicher Bedeutung iſt. Das Starke ſoll ſich mit dem Weichen, das
Zerfließende mit dem Beſtimmten, das Finſtere mit dem Hellen zu einem
Ganzen zuſammenbauen, deſſen äußerer Umriß eine beruhigende Wechſelergänzung
von Linien mit einem abſchließenden Gipfel darbietet. In großem Maßſtabe2
wiederholt die Ueberkleidung des Erdreichs durch geſelliges Gras und Kraut
der Wald. Sein Ueberblick iſt einförmig, wenn er nicht mit Gebirgsformen
als ihr krauſes Gewand zuſammengefaßt wird. Im Innern erſcheint er als eine
ſelbſtändige, in ungeſtörter Urſprünglichkeit webende Pflanzenwelt und erzeugt in
heimlichen Schauern am vollſtändigſten die in §. 271, 2. bezeichnete Stimmung.

1. Stellen ſich Gruppen aus Bäumen Einer Art zuſammen, ſo wird
der Zufall nur dann günſtig genannt werden können, wenn ſie von ver-
ſchiedenem Alter, Größe, Bau, Farbe, Stellung ſind, daher ſich durch
Gegenſätze ergänzen. Handelt es ſich von Gruppen aus Bäumen ver-
ſchiedener Art, ſo wird ſich der vom Auge geforderte Gegenſatz und ſeine
Vermittlung leichter einſtellen. Hier iſt nun namentlich zu erwähnen, daß
die aufgeführten Typen nicht mit ſtrenger Grenze an Eine Zone vertheilt
ſind. So hat nicht nur die heiße Zone in höheren Gegenden auch Nadelholz,
neben ſtreng gebildeten Monokotyledonen veräſtetes, weicheres Laubholz,
ſondern namentlich iſt der wärmeren und der kälteren gemäßigten Zone
Laubholz mit gefiedertem Baumſchlage, der immer an die tropiſche Mimoſen-
form erinnert, gemeinſam. Neben den harten Tannen, den vollen Linden
fehlen uns die durchſichtigen, zart gefiederten Acazien nicht und die eben-
falls gefiederte, doch reichere, derbere Eſche, der gelappte Ahorn iſt ein
in den deutſchen Gebirgswäldern ſogar ſehr häufiger Baum. Zu dem
maſſigen, aber unbeſtimmter umriſſenen Baumſchlag unſerer Linden, zu der
herben balligen Buche geben ſie die geſondertere, durchſichtige, ſymmetriſcher
gezeichnete Form. Zart hebt ſich die helle, dünne Birke auf dem Grunde
harter Buchen; im Vordergrunde ſteht ſie nicht ſchön, denn dieſer braucht
einen ſtarken, energiſchen, in der Farbe ſatten Baum, um zurückzutreiben.
Die unendliche Möglichkeit von Wechſel-Erhöhung der Farben und Formen

7*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0111" n="99"/>
doch ihre äußer&#x017F;t reiche Fülle &#x017F;ich zu &#x017F;o &#x017F;chönen, kräftig ge&#x017F;onderten, von<lb/>
energi&#x017F;chen Schatten durch&#x017F;chnittenen Ma&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ammelt, daß die&#x017F;em Baume die<lb/>
herrlich&#x017F;te Krone unter allen Laubhölzern zuzuerkennen i&#x017F;t; keiner der Bäume,<lb/>
die zu dem vorliegenden Typus gehörten, vereinigt Würde &#x017F;o &#x017F;chön mit &#x017F;üßer,<lb/>
gemüthvoller Anmuth.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 281.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Wo Bäume zu <hi rendition="#g">Gruppen</hi> zu&#x017F;ammentreten, erwartet das Auge eine<note place="right">1</note><lb/>
Einheit von Gegen&#x017F;ätzen in Zu&#x017F;ammenwirkung der Pflanzen&#x017F;chönheit nach<lb/>
ihren ver&#x017F;chiedenen Momenten, wobei natürlich der Boden und Hintergrund<lb/>
von we&#x017F;entlicher Bedeutung i&#x017F;t. Das Starke &#x017F;oll &#x017F;ich mit dem Weichen, das<lb/>
Zerfließende mit dem Be&#x017F;timmten, das Fin&#x017F;tere mit dem Hellen zu einem<lb/>
Ganzen zu&#x017F;ammenbauen, de&#x017F;&#x017F;en äußerer Umriß eine beruhigende Wech&#x017F;elergänzung<lb/>
von Linien mit einem ab&#x017F;chließenden Gipfel darbietet. In großem Maß&#x017F;tabe<note place="right">2</note><lb/>
wiederholt die Ueberkleidung des Erdreichs durch ge&#x017F;elliges Gras und Kraut<lb/>
der <hi rendition="#g">Wald</hi>. Sein Ueberblick i&#x017F;t einförmig, wenn er nicht mit Gebirgsformen<lb/>
als ihr krau&#x017F;es Gewand zu&#x017F;ammengefaßt wird. Im Innern er&#x017F;cheint er als eine<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tändige, in unge&#x017F;törter Ur&#x017F;prünglichkeit webende Pflanzenwelt und erzeugt in<lb/>
heimlichen Schauern am voll&#x017F;tändig&#x017F;ten die in §. 271, <hi rendition="#sub">2.</hi> bezeichnete Stimmung.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">1. Stellen &#x017F;ich Gruppen aus Bäumen Einer Art zu&#x017F;ammen, &#x017F;o wird<lb/>
der Zufall nur dann gün&#x017F;tig genannt werden können, wenn &#x017F;ie von ver-<lb/>
&#x017F;chiedenem Alter, Größe, Bau, Farbe, Stellung &#x017F;ind, daher &#x017F;ich durch<lb/>
Gegen&#x017F;ätze ergänzen. Handelt es &#x017F;ich von Gruppen aus Bäumen ver-<lb/>
&#x017F;chiedener Art, &#x017F;o wird &#x017F;ich der vom Auge geforderte Gegen&#x017F;atz und &#x017F;eine<lb/>
Vermittlung leichter ein&#x017F;tellen. Hier i&#x017F;t nun namentlich zu erwähnen, daß<lb/>
die aufgeführten Typen nicht mit &#x017F;trenger Grenze an Eine Zone vertheilt<lb/>
&#x017F;ind. So hat nicht nur die heiße Zone in höheren Gegenden auch Nadelholz,<lb/>
neben &#x017F;treng gebildeten Monokotyledonen verä&#x017F;tetes, weicheres Laubholz,<lb/>
&#x017F;ondern namentlich i&#x017F;t der wärmeren und der kälteren gemäßigten Zone<lb/>
Laubholz mit gefiedertem Baum&#x017F;chlage, der immer an die tropi&#x017F;che Mimo&#x017F;en-<lb/>
form erinnert, gemein&#x017F;am. Neben den harten Tannen, den vollen Linden<lb/>
fehlen uns die durch&#x017F;ichtigen, zart gefiederten Acazien nicht und die eben-<lb/>
falls gefiederte, doch reichere, derbere E&#x017F;che, der gelappte Ahorn i&#x017F;t ein<lb/>
in den deut&#x017F;chen Gebirgswäldern &#x017F;ogar &#x017F;ehr häufiger Baum. Zu dem<lb/>
ma&#x017F;&#x017F;igen, aber unbe&#x017F;timmter umri&#x017F;&#x017F;enen Baum&#x017F;chlag un&#x017F;erer Linden, zu der<lb/>
herben balligen Buche geben &#x017F;ie die ge&#x017F;ondertere, durch&#x017F;ichtige, &#x017F;ymmetri&#x017F;cher<lb/>
gezeichnete Form. Zart hebt &#x017F;ich die helle, dünne Birke auf dem Grunde<lb/>
harter Buchen; im Vordergrunde &#x017F;teht &#x017F;ie nicht &#x017F;chön, denn die&#x017F;er braucht<lb/>
einen &#x017F;tarken, energi&#x017F;chen, in der Farbe &#x017F;atten Baum, um zurückzutreiben.<lb/>
Die unendliche Möglichkeit von Wech&#x017F;el-Erhöhung der Farben und Formen</hi><lb/>
                  <fw place="bottom" type="sig">7*</fw><lb/>
                </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99/0111] doch ihre äußerſt reiche Fülle ſich zu ſo ſchönen, kräftig geſonderten, von energiſchen Schatten durchſchnittenen Maſſen ſammelt, daß dieſem Baume die herrlichſte Krone unter allen Laubhölzern zuzuerkennen iſt; keiner der Bäume, die zu dem vorliegenden Typus gehörten, vereinigt Würde ſo ſchön mit ſüßer, gemüthvoller Anmuth. §. 281. Wo Bäume zu Gruppen zuſammentreten, erwartet das Auge eine Einheit von Gegenſätzen in Zuſammenwirkung der Pflanzenſchönheit nach ihren verſchiedenen Momenten, wobei natürlich der Boden und Hintergrund von weſentlicher Bedeutung iſt. Das Starke ſoll ſich mit dem Weichen, das Zerfließende mit dem Beſtimmten, das Finſtere mit dem Hellen zu einem Ganzen zuſammenbauen, deſſen äußerer Umriß eine beruhigende Wechſelergänzung von Linien mit einem abſchließenden Gipfel darbietet. In großem Maßſtabe wiederholt die Ueberkleidung des Erdreichs durch geſelliges Gras und Kraut der Wald. Sein Ueberblick iſt einförmig, wenn er nicht mit Gebirgsformen als ihr krauſes Gewand zuſammengefaßt wird. Im Innern erſcheint er als eine ſelbſtändige, in ungeſtörter Urſprünglichkeit webende Pflanzenwelt und erzeugt in heimlichen Schauern am vollſtändigſten die in §. 271, 2. bezeichnete Stimmung. 1. Stellen ſich Gruppen aus Bäumen Einer Art zuſammen, ſo wird der Zufall nur dann günſtig genannt werden können, wenn ſie von ver- ſchiedenem Alter, Größe, Bau, Farbe, Stellung ſind, daher ſich durch Gegenſätze ergänzen. Handelt es ſich von Gruppen aus Bäumen ver- ſchiedener Art, ſo wird ſich der vom Auge geforderte Gegenſatz und ſeine Vermittlung leichter einſtellen. Hier iſt nun namentlich zu erwähnen, daß die aufgeführten Typen nicht mit ſtrenger Grenze an Eine Zone vertheilt ſind. So hat nicht nur die heiße Zone in höheren Gegenden auch Nadelholz, neben ſtreng gebildeten Monokotyledonen veräſtetes, weicheres Laubholz, ſondern namentlich iſt der wärmeren und der kälteren gemäßigten Zone Laubholz mit gefiedertem Baumſchlage, der immer an die tropiſche Mimoſen- form erinnert, gemeinſam. Neben den harten Tannen, den vollen Linden fehlen uns die durchſichtigen, zart gefiederten Acazien nicht und die eben- falls gefiederte, doch reichere, derbere Eſche, der gelappte Ahorn iſt ein in den deutſchen Gebirgswäldern ſogar ſehr häufiger Baum. Zu dem maſſigen, aber unbeſtimmter umriſſenen Baumſchlag unſerer Linden, zu der herben balligen Buche geben ſie die geſondertere, durchſichtige, ſymmetriſcher gezeichnete Form. Zart hebt ſich die helle, dünne Birke auf dem Grunde harter Buchen; im Vordergrunde ſteht ſie nicht ſchön, denn dieſer braucht einen ſtarken, energiſchen, in der Farbe ſatten Baum, um zurückzutreiben. Die unendliche Möglichkeit von Wechſel-Erhöhung der Farben und Formen 7*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/111
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/111>, abgerufen am 24.11.2024.