Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.Weichheit an. Anders wirkt nun natürlich die aufstrebende Pyramide der Weichheit an. Anders wirkt nun natürlich die aufſtrebende Pyramide der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <pb facs="#f0110" n="98"/> <hi rendition="#et">Weichheit an. Anders wirkt nun natürlich die aufſtrebende Pyramide der<lb/> italieniſchen, anders die rundliche Krone der Silber- und Zitter-Pappel.<lb/> Die erſtere ſcheint ſchon dem Namen nach zum ſüdlichen Typus zu gehören,<lb/> allein der Baum iſt in Deutſchland wirklich häufiger als in Italien und<lb/> es iſt vorzüglich ſein ſpielendes Laub, was uns beſtimmt, ihn zum dritten<lb/> Typus zu ziehen. Dieſe ſehr hochgeſtreckte Art ſieht nun freilich ſtolz und<lb/> vornehm aus, wird aber auch, in Reihen gepflanzt, leicht langweilig,<lb/> weil die Individuen weniger Verſchiedenheit haben, als bei runden Bäumen,<lb/> und, da ſie kein ſchattiges Dach bilden, getrennt wahrgenommen werden.<lb/> Beſonders ſchön ſpielt die Silberpappel im Winde, welcher die untere<lb/> weiße Seite der Blätter umlegt. Durch das bewegte Spiel des Baum-<lb/> ſchlags nun hat die ganze Gattung das Schwebende, was das innere<lb/> Erzittern ſubjectiver Empfindung hervorruft; dieß Flüſtern des Objects<lb/> wird zu einem innern. Wehmüthig weich ſtimmt die weißrindige, hohe,<lb/> dünnkronige, mit den überhängenden Zweigen und dünngeſtielten dreieckigen<lb/> Blättern ebenfalls ſtets im Winde ſpielende Birke, noch entſchiedener die<lb/> völlig überhängende Thränen-Weide, deren graulichgrüne, lanzettförmige<lb/> Blätter an den fließenden, weichen, biegſamen Zweigen herabwallendem<lb/> Waſſer gleichen. Man denke an ſo manches Volkslied, auch an das,<lb/> welches Desdemona ſingt. Unſere gewöhnliche Weide wird leider faſt<lb/> immer durch Beſchneiden um ihre Form gebracht; ſie bildet ganz mächtige,<lb/> herrlich modellirte Bäume, aber ihr wäſſerigter Ton, die weichen, bei<lb/> großen Bäumen immer etwas überhängenden Zweige, die lanzettförmigen<lb/> Blätter, das grauliche Grün, das Hingeſtrichene im ganzen Wurfe des<lb/> Baumſchlags, das ſie mit der Thränenweide gemein hat, geben immer<lb/> einen weichen, mehr zerfließenden Stimmungston. Unſere ſchönſten Bäume<lb/> ſind Eichen und Linden. Die erſteren vorzüglich verbinden auf die im §.<lb/> genannte Weiſe das Starke und Weiche. Stamm und Aeſte der Eiche<lb/> ſind hart, knorrig, dieſe meiſt rechtwinklicht abſtehend, aber in rohen<lb/> Linien verkrümmt; ſie wächst zu mächtiger Größe auf, heißt mit Recht<lb/> der Baum der Stärke. Bei allem Eindruck urſprünglicher Kraft aber iſt<lb/> ſie nicht ſteif und herb wie die Buche, denn ihre Blätter, obwohl an<lb/> kurzen Stielen ſitzend und daher wenig bewegt, ſind von der weichen,<lb/> gebuchteten Zeichnung und ſaftig hellgrün; ſie ſammelt ferner ihre Maſſen<lb/> an den mächtigen, reichbelaubten Aeſten zu wohlgegliederten, ſtattlichen<lb/> Gruppen. In viel weniger harter Form iſt derſelbe Gegenſatz in der<lb/> Linde ausgeſprochen. Sie iſt gewaltig an Größe, wie die Eiche, aber<lb/> ihre ſpitzwinklicht vom Stamm aufſteigenden Aeſte ſind weniger rauh<lb/> gekrümmt, ihre herzförmigen Blätter ſpielen vielbewegt am dünnen Stiele<lb/> und geben dem mächtigen Ganzen zarte, weichere Empfindung erregende,<lb/> in den äußerſten Umriſſen ungewiſſer verſchwebende Ueberkleidung, während<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [98/0110]
Weichheit an. Anders wirkt nun natürlich die aufſtrebende Pyramide der
italieniſchen, anders die rundliche Krone der Silber- und Zitter-Pappel.
Die erſtere ſcheint ſchon dem Namen nach zum ſüdlichen Typus zu gehören,
allein der Baum iſt in Deutſchland wirklich häufiger als in Italien und
es iſt vorzüglich ſein ſpielendes Laub, was uns beſtimmt, ihn zum dritten
Typus zu ziehen. Dieſe ſehr hochgeſtreckte Art ſieht nun freilich ſtolz und
vornehm aus, wird aber auch, in Reihen gepflanzt, leicht langweilig,
weil die Individuen weniger Verſchiedenheit haben, als bei runden Bäumen,
und, da ſie kein ſchattiges Dach bilden, getrennt wahrgenommen werden.
Beſonders ſchön ſpielt die Silberpappel im Winde, welcher die untere
weiße Seite der Blätter umlegt. Durch das bewegte Spiel des Baum-
ſchlags nun hat die ganze Gattung das Schwebende, was das innere
Erzittern ſubjectiver Empfindung hervorruft; dieß Flüſtern des Objects
wird zu einem innern. Wehmüthig weich ſtimmt die weißrindige, hohe,
dünnkronige, mit den überhängenden Zweigen und dünngeſtielten dreieckigen
Blättern ebenfalls ſtets im Winde ſpielende Birke, noch entſchiedener die
völlig überhängende Thränen-Weide, deren graulichgrüne, lanzettförmige
Blätter an den fließenden, weichen, biegſamen Zweigen herabwallendem
Waſſer gleichen. Man denke an ſo manches Volkslied, auch an das,
welches Desdemona ſingt. Unſere gewöhnliche Weide wird leider faſt
immer durch Beſchneiden um ihre Form gebracht; ſie bildet ganz mächtige,
herrlich modellirte Bäume, aber ihr wäſſerigter Ton, die weichen, bei
großen Bäumen immer etwas überhängenden Zweige, die lanzettförmigen
Blätter, das grauliche Grün, das Hingeſtrichene im ganzen Wurfe des
Baumſchlags, das ſie mit der Thränenweide gemein hat, geben immer
einen weichen, mehr zerfließenden Stimmungston. Unſere ſchönſten Bäume
ſind Eichen und Linden. Die erſteren vorzüglich verbinden auf die im §.
genannte Weiſe das Starke und Weiche. Stamm und Aeſte der Eiche
ſind hart, knorrig, dieſe meiſt rechtwinklicht abſtehend, aber in rohen
Linien verkrümmt; ſie wächst zu mächtiger Größe auf, heißt mit Recht
der Baum der Stärke. Bei allem Eindruck urſprünglicher Kraft aber iſt
ſie nicht ſteif und herb wie die Buche, denn ihre Blätter, obwohl an
kurzen Stielen ſitzend und daher wenig bewegt, ſind von der weichen,
gebuchteten Zeichnung und ſaftig hellgrün; ſie ſammelt ferner ihre Maſſen
an den mächtigen, reichbelaubten Aeſten zu wohlgegliederten, ſtattlichen
Gruppen. In viel weniger harter Form iſt derſelbe Gegenſatz in der
Linde ausgeſprochen. Sie iſt gewaltig an Größe, wie die Eiche, aber
ihre ſpitzwinklicht vom Stamm aufſteigenden Aeſte ſind weniger rauh
gekrümmt, ihre herzförmigen Blätter ſpielen vielbewegt am dünnen Stiele
und geben dem mächtigen Ganzen zarte, weichere Empfindung erregende,
in den äußerſten Umriſſen ungewiſſer verſchwebende Ueberkleidung, während
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |