Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

Bilderzeugens zu vollführen. Im Unterschiede jedoch von dem zweckmäßigen
Thun ohne Selbstgefühl und Vorstellung sind in die Bestimmung des
thierischen Instincts wesentlich diese Momente aufzunehmen. Hätte aber
das Thier Verstand, so hätte es auch Sprache. Verstand ist Denken des
Allgemeinen und des Besonderen in ihrer Trennung und Beziehung, und
dieses ist nicht möglich ohne Nennen des Einen und des Andern, ohne
den ganzen Namen-Vorrath der Sprache. Der Verstand weiß das so
Getrennte blos zu beziehen und nicht als Unterschied in der inneren und
höchsten Einheit zu fassen. Dieß thut die Vernunft. Vernunft ist aber
nicht ohne Verstand möglich, denn nur im Unterschiedenen ist die Einheit
herzustellen, und wo Verstand ist, da ist auch Vernunft, denn der unendliche
Progreß, in den der Verstand durch bloßes Beziehen des Unterschiedenen
geführt wird, muß in den Begriff der wahren Unendlichkeit umschlagen.
Der Mensch hat Verstand und Vernunft und doch thut auch er Vieles,
wozu sie nöthig scheinen, ohne sie doch zu verwenden; auch er thut
Gedankenmäßiges, wozu Bewußtsein zu gehören scheint, auf bewußtlose
Weise. Dieß Alles erklärt die Philosophie aus der Einheit des Denkens
und Seins, aus der inneren Zweckmäßigkeit der Welt, welche die Stufen
ihres Baus höher und höher führt, bis das Sein im wirklichen Denken
sich selbst ganz in seine Macht bekommt in der Vernunft des Menschen;
keine Form des Helldunkels, worin ein verhülltes Denken in ein Sein
eingewickelt ist, kann auf irgend einer Stufe sie überraschen und zu unbe-
rechtigten Uebertragungen verleiten. Wie auffallende Anekdoten man von
thierischer List erzählen mag, sie kann Alles im Begriffe des Instinctes
befassen. Das Thier versteht die Welt, so weit es sie versteht, so, wie
der Mensch eine Pantomime versteht. Jede Bedeutung erscheint ihm so,
wie sie unmittelbar Eins ist mit dem Bilde, das sie bedeutet. Der Hund
hört aus dem Tone, womit sein Herr seinen Namen ruft, dessen Zorn
oder freundliche Stimmung heraus; spricht aber der Herr ein strafendes
Wort mit freundlichem Tone, so versteht er den Widerspruch zwischen dem
Wort und dem Tone nicht, denn er versteht nicht die Sprache als solche,
d. h. als blos conventionelle Bezeichnung; sonst könnte er eben auch
sprechen, lesen u. s. w. Die Thiere haben unter sich eine viel aus-
gedehntere Zeichensprache, als man gewöhnlich weiß, aber keines ihrer
Zeichen ist symbolisch, conventionell, sondern jedes verräth unmittelbar
sinnlich die Absicht: der Ton der zur Wache ausgestellten Krähe, Gemse
klingt warnend, die Bewegung des Hunds, der den andern einlädt, mit
ihm zu jagen, zu spielen, sieht unmittelbar einladend aus u. s. w. So
durchläuft denn das Thier auch innerlich die Reihe von Momenten, die
der Mensch begreifend und schließend durchläuft, um die Mittel zu einem
Zwecke zu finden, durch eine innere Folge von Bildern, deren jedes das

Bilderzeugens zu vollführen. Im Unterſchiede jedoch von dem zweckmäßigen
Thun ohne Selbſtgefühl und Vorſtellung ſind in die Beſtimmung des
thieriſchen Inſtincts weſentlich dieſe Momente aufzunehmen. Hätte aber
das Thier Verſtand, ſo hätte es auch Sprache. Verſtand iſt Denken des
Allgemeinen und des Beſonderen in ihrer Trennung und Beziehung, und
dieſes iſt nicht möglich ohne Nennen des Einen und des Andern, ohne
den ganzen Namen-Vorrath der Sprache. Der Verſtand weiß das ſo
Getrennte blos zu beziehen und nicht als Unterſchied in der inneren und
höchſten Einheit zu faſſen. Dieß thut die Vernunft. Vernunft iſt aber
nicht ohne Verſtand möglich, denn nur im Unterſchiedenen iſt die Einheit
herzuſtellen, und wo Verſtand iſt, da iſt auch Vernunft, denn der unendliche
Progreß, in den der Verſtand durch bloßes Beziehen des Unterſchiedenen
geführt wird, muß in den Begriff der wahren Unendlichkeit umſchlagen.
Der Menſch hat Verſtand und Vernunft und doch thut auch er Vieles,
wozu ſie nöthig ſcheinen, ohne ſie doch zu verwenden; auch er thut
Gedankenmäßiges, wozu Bewußtſein zu gehören ſcheint, auf bewußtloſe
Weiſe. Dieß Alles erklärt die Philoſophie aus der Einheit des Denkens
und Seins, aus der inneren Zweckmäßigkeit der Welt, welche die Stufen
ihres Baus höher und höher führt, bis das Sein im wirklichen Denken
ſich ſelbſt ganz in ſeine Macht bekommt in der Vernunft des Menſchen;
keine Form des Helldunkels, worin ein verhülltes Denken in ein Sein
eingewickelt iſt, kann auf irgend einer Stufe ſie überraſchen und zu unbe-
rechtigten Uebertragungen verleiten. Wie auffallende Anekdoten man von
thieriſcher Liſt erzählen mag, ſie kann Alles im Begriffe des Inſtinctes
befaſſen. Das Thier verſteht die Welt, ſo weit es ſie verſteht, ſo, wie
der Menſch eine Pantomime verſteht. Jede Bedeutung erſcheint ihm ſo,
wie ſie unmittelbar Eins iſt mit dem Bilde, das ſie bedeutet. Der Hund
hört aus dem Tone, womit ſein Herr ſeinen Namen ruft, deſſen Zorn
oder freundliche Stimmung heraus; ſpricht aber der Herr ein ſtrafendes
Wort mit freundlichem Tone, ſo verſteht er den Widerſpruch zwiſchen dem
Wort und dem Tone nicht, denn er verſteht nicht die Sprache als ſolche,
d. h. als blos conventionelle Bezeichnung; ſonſt könnte er eben auch
ſprechen, leſen u. ſ. w. Die Thiere haben unter ſich eine viel aus-
gedehntere Zeichenſprache, als man gewöhnlich weiß, aber keines ihrer
Zeichen iſt ſymboliſch, conventionell, ſondern jedes verräth unmittelbar
ſinnlich die Abſicht: der Ton der zur Wache ausgeſtellten Krähe, Gemſe
klingt warnend, die Bewegung des Hunds, der den andern einlädt, mit
ihm zu jagen, zu ſpielen, ſieht unmittelbar einladend aus u. ſ. w. So
durchläuft denn das Thier auch innerlich die Reihe von Momenten, die
der Menſch begreifend und ſchließend durchläuft, um die Mittel zu einem
Zwecke zu finden, durch eine innere Folge von Bildern, deren jedes das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0122" n="110"/>
Bilderzeugens zu vollführen. Im Unter&#x017F;chiede jedoch von dem zweckmäßigen<lb/>
Thun ohne Selb&#x017F;tgefühl und Vor&#x017F;tellung &#x017F;ind in die Be&#x017F;timmung des<lb/>
thieri&#x017F;chen In&#x017F;tincts we&#x017F;entlich die&#x017F;e Momente aufzunehmen. Hätte aber<lb/>
das Thier Ver&#x017F;tand, &#x017F;o hätte es auch Sprache. Ver&#x017F;tand i&#x017F;t Denken des<lb/>
Allgemeinen und des Be&#x017F;onderen in ihrer Trennung und Beziehung, und<lb/>
die&#x017F;es i&#x017F;t nicht möglich ohne Nennen des Einen und des Andern, ohne<lb/>
den ganzen Namen-Vorrath der Sprache. Der Ver&#x017F;tand weiß das &#x017F;o<lb/>
Getrennte blos zu beziehen und nicht als Unter&#x017F;chied in der inneren und<lb/>
höch&#x017F;ten Einheit zu fa&#x017F;&#x017F;en. Dieß thut die Vernunft. Vernunft i&#x017F;t aber<lb/>
nicht ohne Ver&#x017F;tand möglich, denn nur im Unter&#x017F;chiedenen i&#x017F;t die Einheit<lb/>
herzu&#x017F;tellen, und wo Ver&#x017F;tand i&#x017F;t, da i&#x017F;t auch Vernunft, denn der unendliche<lb/>
Progreß, in den der Ver&#x017F;tand durch bloßes Beziehen des Unter&#x017F;chiedenen<lb/>
geführt wird, muß in den Begriff der wahren Unendlichkeit um&#x017F;chlagen.<lb/>
Der Men&#x017F;ch hat Ver&#x017F;tand und Vernunft und doch thut auch er Vieles,<lb/>
wozu &#x017F;ie nöthig &#x017F;cheinen, ohne &#x017F;ie doch zu verwenden; auch er thut<lb/>
Gedankenmäßiges, wozu Bewußt&#x017F;ein zu gehören &#x017F;cheint, auf bewußtlo&#x017F;e<lb/>
Wei&#x017F;e. Dieß Alles erklärt die Philo&#x017F;ophie aus der Einheit des Denkens<lb/>
und Seins, aus der inneren Zweckmäßigkeit der Welt, welche die Stufen<lb/>
ihres Baus höher und höher führt, bis das Sein im wirklichen Denken<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ganz in &#x017F;eine Macht bekommt in der Vernunft des Men&#x017F;chen;<lb/>
keine Form des Helldunkels, worin ein verhülltes Denken in ein Sein<lb/>
eingewickelt i&#x017F;t, kann auf irgend einer Stufe &#x017F;ie überra&#x017F;chen und zu unbe-<lb/>
rechtigten Uebertragungen verleiten. Wie auffallende Anekdoten man von<lb/>
thieri&#x017F;cher Li&#x017F;t erzählen mag, &#x017F;ie kann Alles im Begriffe des In&#x017F;tinctes<lb/>
befa&#x017F;&#x017F;en. Das Thier ver&#x017F;teht die Welt, &#x017F;o weit es &#x017F;ie ver&#x017F;teht, &#x017F;o, wie<lb/>
der Men&#x017F;ch eine Pantomime ver&#x017F;teht. Jede Bedeutung er&#x017F;cheint ihm &#x017F;o,<lb/>
wie &#x017F;ie unmittelbar Eins i&#x017F;t mit dem Bilde, das &#x017F;ie bedeutet. Der Hund<lb/>
hört aus dem Tone, womit &#x017F;ein Herr &#x017F;einen Namen ruft, de&#x017F;&#x017F;en Zorn<lb/>
oder freundliche Stimmung heraus; &#x017F;pricht aber der Herr ein &#x017F;trafendes<lb/>
Wort mit freundlichem Tone, &#x017F;o ver&#x017F;teht er den Wider&#x017F;pruch zwi&#x017F;chen dem<lb/>
Wort und dem Tone nicht, denn er ver&#x017F;teht nicht die Sprache als &#x017F;olche,<lb/>
d. h. als blos conventionelle Bezeichnung; &#x017F;on&#x017F;t könnte er eben auch<lb/>
&#x017F;prechen, le&#x017F;en u. &#x017F;. w. Die Thiere haben unter &#x017F;ich eine viel aus-<lb/>
gedehntere Zeichen&#x017F;prache, als man gewöhnlich weiß, aber keines ihrer<lb/>
Zeichen i&#x017F;t &#x017F;ymboli&#x017F;ch, conventionell, &#x017F;ondern jedes verräth unmittelbar<lb/>
&#x017F;innlich die Ab&#x017F;icht: der Ton der zur Wache ausge&#x017F;tellten Krähe, Gem&#x017F;e<lb/>
klingt warnend, die Bewegung des Hunds, der den andern einlädt, mit<lb/>
ihm zu jagen, zu &#x017F;pielen, &#x017F;ieht unmittelbar einladend aus u. &#x017F;. w. So<lb/>
durchläuft denn das Thier auch innerlich die Reihe von Momenten, die<lb/>
der Men&#x017F;ch begreifend und &#x017F;chließend durchläuft, um die Mittel zu einem<lb/>
Zwecke zu finden, durch eine innere Folge von Bildern, deren jedes das<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[110/0122] Bilderzeugens zu vollführen. Im Unterſchiede jedoch von dem zweckmäßigen Thun ohne Selbſtgefühl und Vorſtellung ſind in die Beſtimmung des thieriſchen Inſtincts weſentlich dieſe Momente aufzunehmen. Hätte aber das Thier Verſtand, ſo hätte es auch Sprache. Verſtand iſt Denken des Allgemeinen und des Beſonderen in ihrer Trennung und Beziehung, und dieſes iſt nicht möglich ohne Nennen des Einen und des Andern, ohne den ganzen Namen-Vorrath der Sprache. Der Verſtand weiß das ſo Getrennte blos zu beziehen und nicht als Unterſchied in der inneren und höchſten Einheit zu faſſen. Dieß thut die Vernunft. Vernunft iſt aber nicht ohne Verſtand möglich, denn nur im Unterſchiedenen iſt die Einheit herzuſtellen, und wo Verſtand iſt, da iſt auch Vernunft, denn der unendliche Progreß, in den der Verſtand durch bloßes Beziehen des Unterſchiedenen geführt wird, muß in den Begriff der wahren Unendlichkeit umſchlagen. Der Menſch hat Verſtand und Vernunft und doch thut auch er Vieles, wozu ſie nöthig ſcheinen, ohne ſie doch zu verwenden; auch er thut Gedankenmäßiges, wozu Bewußtſein zu gehören ſcheint, auf bewußtloſe Weiſe. Dieß Alles erklärt die Philoſophie aus der Einheit des Denkens und Seins, aus der inneren Zweckmäßigkeit der Welt, welche die Stufen ihres Baus höher und höher führt, bis das Sein im wirklichen Denken ſich ſelbſt ganz in ſeine Macht bekommt in der Vernunft des Menſchen; keine Form des Helldunkels, worin ein verhülltes Denken in ein Sein eingewickelt iſt, kann auf irgend einer Stufe ſie überraſchen und zu unbe- rechtigten Uebertragungen verleiten. Wie auffallende Anekdoten man von thieriſcher Liſt erzählen mag, ſie kann Alles im Begriffe des Inſtinctes befaſſen. Das Thier verſteht die Welt, ſo weit es ſie verſteht, ſo, wie der Menſch eine Pantomime verſteht. Jede Bedeutung erſcheint ihm ſo, wie ſie unmittelbar Eins iſt mit dem Bilde, das ſie bedeutet. Der Hund hört aus dem Tone, womit ſein Herr ſeinen Namen ruft, deſſen Zorn oder freundliche Stimmung heraus; ſpricht aber der Herr ein ſtrafendes Wort mit freundlichem Tone, ſo verſteht er den Widerſpruch zwiſchen dem Wort und dem Tone nicht, denn er verſteht nicht die Sprache als ſolche, d. h. als blos conventionelle Bezeichnung; ſonſt könnte er eben auch ſprechen, leſen u. ſ. w. Die Thiere haben unter ſich eine viel aus- gedehntere Zeichenſprache, als man gewöhnlich weiß, aber keines ihrer Zeichen iſt ſymboliſch, conventionell, ſondern jedes verräth unmittelbar ſinnlich die Abſicht: der Ton der zur Wache ausgeſtellten Krähe, Gemſe klingt warnend, die Bewegung des Hunds, der den andern einlädt, mit ihm zu jagen, zu ſpielen, ſieht unmittelbar einladend aus u. ſ. w. So durchläuft denn das Thier auch innerlich die Reihe von Momenten, die der Menſch begreifend und ſchließend durchläuft, um die Mittel zu einem Zwecke zu finden, durch eine innere Folge von Bildern, deren jedes das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/122
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/122>, abgerufen am 21.11.2024.