Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Gepräge des Verstandes trägt. In der weiblichen Gestalt dagegen herrscht
Gepräge des Verſtandes trägt. In der weiblichen Geſtalt dagegen herrſcht <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0182" n="170"/> Gepräge des Verſtandes trägt. In der weiblichen Geſtalt dagegen herrſcht<lb/> freiere Fülle des Stoffs. In ununterbrochener Thätigkeit der Umriſſe<lb/> ſcheint ein Theil aus dem andern gleichſam auszufließen. Das Ganze<lb/> verkündigt die Geſchlechtsbeſtimmtheit des Empfangens und die liberalere<lb/> Herrſchaft des Geiſtes in der Form des Gefühls. Die trefflichen Bemer-<lb/> kungen gehen nur zu wenig auf die einzelnen Formen ein. Die ganze<lb/> weibliche Geſtalt iſt vor Allem weſentlich durch das Becken und die<lb/> dadurch gegebene Breite der Hüfte beſtimmt. Daher müßen ſich die aus-<lb/> gebogenen Schenkel gegen das Knie hin wieder einbiegen und von da<lb/> biegt ſich das Schienbein ſanft wieder aus. Ueber der breiten Hüfte<lb/> erſcheint die Taille doppelt ſchlank; die Bruſt durfte ſich, da ſo viel Stoff<lb/> an die Hüfte abgegeben war, nicht mächtig ausbilden und die Brüſte<lb/> ſprechen die Beſtimmung zum Säugen wie die Hüfte die zum Empfangen,<lb/> Schwangergehen und Gebären aus. Die Schulter hat daher einen<lb/> ſchnelleren Fall; auf dem ſchlankeren und längeren Halſe ruht der ſanfter,<lb/> mit niedrigerer Stirn gebildete Kopf. Die ernährende Thätigkeit, beſtimmt,<lb/> in leichtem Säftelauf den empfangenen Keim zu ſpeiſen, ſetzt überall das<lb/> reichere Fett ab und vermittelt ſo jeden Uebergang durch ſanft ſchwellende<lb/> Hügel, Rundungen, Einſenkungen. Durch dieſen herrſchenden Ausdruck<lb/> der Geſchlechtsbeſtimmung iſt das Weib ungleich mehr Naturweſen, als<lb/> der Mann mit der höheren Stirn, den ſchärferen Zügen, den ſtärkeren,<lb/> eckiger abſtehenden Schultern, der breiten Bruſt, der ſchmäleren Hüfte,<lb/> den geraden Beinen; er erſcheint durch ſeine Geſchlechtstheile zum Zeugen,<lb/> durch das Gepräge ſeiner ganzen Geſtalt aber zum freien Handeln, zur<lb/> Allgemeinheit des geiſtigen Zwecks beſtimmt. Das Weib gleicht den<lb/> Element-Thieren, der Mann den freieren Landthieren. In dieſer Natur-<lb/> beſtimmtheit des Weibs gibt ſich die Form ihres geiſtigen Lebens ihren<lb/> Ausdruck; dieſe iſt Geiſt in ahnenden Inſtinct eingehüllt, geiſtiges Taſten;<lb/> die Entgegenſetzung von Subject und Object wird nicht mit vollem<lb/> Bewußtſein vollzogen, daher iſt das Weib ſubjectiver, weil ſie im wogen-<lb/> den Gefühlsleben ſich und die Dinge nicht ſtreng zu ſcheiden vermag, ſie<lb/> iſt objectiver, weil ſie ebendadurch noch zu der Natur gehört, der ſie ſich<lb/> nicht mit dem inneren Bruche der freien und kämpfenden Perſönlichkeit<lb/> gegenüberſtellt. Fragt man, welches von beiden Geſchlechtern ſchöner ſei,<lb/> ſo muß man ſich wohl hüten, den ſtoffartigen Reiz in Rechnung zu<lb/> nehmen, der jedes Geſchlecht dem andern als das ſchönere erſcheinen läßt.<lb/> W. von <hi rendition="#g">Humboldt</hi> ſagt, die männliche Bildung befriedige ſichtbarer<lb/> durch Richtigkeit der Verhältniſſe die Anforderungen der Kunſt, der<lb/> Künſtler müße damit anfangen; erſt ſpäter könne er auch die Noth-<lb/> wendigkeit im weiblichen Körper fühlen, dieſer ſei ſchwerer, denn er ſei<lb/> geſetzmäßig und doch ſei der Schein der Geſetzmäßigkeit zu vermeiden;<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [170/0182]
Gepräge des Verſtandes trägt. In der weiblichen Geſtalt dagegen herrſcht
freiere Fülle des Stoffs. In ununterbrochener Thätigkeit der Umriſſe
ſcheint ein Theil aus dem andern gleichſam auszufließen. Das Ganze
verkündigt die Geſchlechtsbeſtimmtheit des Empfangens und die liberalere
Herrſchaft des Geiſtes in der Form des Gefühls. Die trefflichen Bemer-
kungen gehen nur zu wenig auf die einzelnen Formen ein. Die ganze
weibliche Geſtalt iſt vor Allem weſentlich durch das Becken und die
dadurch gegebene Breite der Hüfte beſtimmt. Daher müßen ſich die aus-
gebogenen Schenkel gegen das Knie hin wieder einbiegen und von da
biegt ſich das Schienbein ſanft wieder aus. Ueber der breiten Hüfte
erſcheint die Taille doppelt ſchlank; die Bruſt durfte ſich, da ſo viel Stoff
an die Hüfte abgegeben war, nicht mächtig ausbilden und die Brüſte
ſprechen die Beſtimmung zum Säugen wie die Hüfte die zum Empfangen,
Schwangergehen und Gebären aus. Die Schulter hat daher einen
ſchnelleren Fall; auf dem ſchlankeren und längeren Halſe ruht der ſanfter,
mit niedrigerer Stirn gebildete Kopf. Die ernährende Thätigkeit, beſtimmt,
in leichtem Säftelauf den empfangenen Keim zu ſpeiſen, ſetzt überall das
reichere Fett ab und vermittelt ſo jeden Uebergang durch ſanft ſchwellende
Hügel, Rundungen, Einſenkungen. Durch dieſen herrſchenden Ausdruck
der Geſchlechtsbeſtimmung iſt das Weib ungleich mehr Naturweſen, als
der Mann mit der höheren Stirn, den ſchärferen Zügen, den ſtärkeren,
eckiger abſtehenden Schultern, der breiten Bruſt, der ſchmäleren Hüfte,
den geraden Beinen; er erſcheint durch ſeine Geſchlechtstheile zum Zeugen,
durch das Gepräge ſeiner ganzen Geſtalt aber zum freien Handeln, zur
Allgemeinheit des geiſtigen Zwecks beſtimmt. Das Weib gleicht den
Element-Thieren, der Mann den freieren Landthieren. In dieſer Natur-
beſtimmtheit des Weibs gibt ſich die Form ihres geiſtigen Lebens ihren
Ausdruck; dieſe iſt Geiſt in ahnenden Inſtinct eingehüllt, geiſtiges Taſten;
die Entgegenſetzung von Subject und Object wird nicht mit vollem
Bewußtſein vollzogen, daher iſt das Weib ſubjectiver, weil ſie im wogen-
den Gefühlsleben ſich und die Dinge nicht ſtreng zu ſcheiden vermag, ſie
iſt objectiver, weil ſie ebendadurch noch zu der Natur gehört, der ſie ſich
nicht mit dem inneren Bruche der freien und kämpfenden Perſönlichkeit
gegenüberſtellt. Fragt man, welches von beiden Geſchlechtern ſchöner ſei,
ſo muß man ſich wohl hüten, den ſtoffartigen Reiz in Rechnung zu
nehmen, der jedes Geſchlecht dem andern als das ſchönere erſcheinen läßt.
W. von Humboldt ſagt, die männliche Bildung befriedige ſichtbarer
durch Richtigkeit der Verhältniſſe die Anforderungen der Kunſt, der
Künſtler müße damit anfangen; erſt ſpäter könne er auch die Noth-
wendigkeit im weiblichen Körper fühlen, dieſer ſei ſchwerer, denn er ſei
geſetzmäßig und doch ſei der Schein der Geſetzmäßigkeit zu vermeiden;
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |