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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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da aber Freiheit von allem Zwang die Seele der Schönheit sei, so sei
er, da kein Theil in straffer Bestimmtheit sich vordränge, schöner. Allein
diese Zwanglosigkeit ist auch zu unbestimmt, zu zerfloßen, verschwommen,
wie im Manne umgekehrt zu bestimmt und scharf die Regel herrscht.
Man muß den Bau und die Geistesform, die er ausdrückt, zusammen-
nehmen und so stellt sich auf beide Seiten ein ganzes Schönes, eine
Einheit von Idee und Bild, Geist und Natur. Diese Einheit ist im
Weibe unmittelbarer, liberaler, sie ist durch keinen Kampf gegangen; im
Manne strenger, denn sie ist Einheit aus und durch Scheidung. Allein
die Idee, die noch nicht in Scheidung getreten, ist wirklich auch in ihrer
Tiefe und Kraft noch nicht da, der Ausdruck des Denkens und der Frei-
heit ist mit jener harmlosen Anmuth nicht vereinbar. Es fehlt dem
Körperbau, dem Ausdruck, dem Thun der letzte Druck, die rechte Schneide;
das Weib ist undeutlich wie halbverwischte Schrift an Leib und Seele.
Im Manne ist Bestimmtheit und geht freilich auf Kosten der Zufälligkeit,
aber es ist doch die ganze Idee da, die in dieser walten und herrschen soll.
Ein bedeutendes Kunstwerk, dessen Gehalt immer eine große sittliche Idee
sein muß, kann seinen Gehalt nur durch eine Vereinigung von Männern,
nie von Weibern darstellen, diese können nur einzeln darin auftreten.
Also: wie weder der Mann noch das Weib der Mensch ist, sondern nur
der Mann und das Weib, so sind auch nur beide zusammen die ganze
menschliche Schönheit; wie aber der Mann eher allein stehen kann und
Männer zusammen etwas ausführen können, was groß ist, nicht aber
Weiber zusammen ohne Männer, so hat der Mann bei der Vertheilung
der Schönheit an beide Geschlechter zwar nicht das Ganze, aber einen
größeren Theil des Ganzen erhalten. Die verschiedenen Stadien männ-
licher und weiblicher Schönheit hat die antike Plastik reichlich angebaut.
W. v. Humboldt nennt die bedeutendsten Werke. Ein Versuch, die
ganze Schönheit, die unsichtbar zwischen beiden Geschlechtern schwebt, in
einem Dritten zu vereinigen, war der Hermaphrodit: trotz allem Reize
der Ausführung widerlich.

2. Es muß uns hier frei stehen, in das anthropologische Gebiet
mehr aufzunehmen, als sonst gestattet wäre, die fertige, sittliche Welt
vorauszusetzen und so das Verhältniß der Geschlechter in seiner ganzen
Bedeutung aufzufassen. Jedes Geschlecht muß sich durch das andere
wirklich ergänzen; das Weib mehr, als der Mann. Wie jenes leiblich
zum Empfangen bestimmt ist, so geistig; Erziehung und Bildung durch
Männer gibt ihr zur Anmuth die Würde, denn sie gibt ihr Charakter.
Das Weib hat ihren Schwerpunkt, ihr Ich außer sich, sie wird erst durch
den Mann persönlich und frei. Fehlt ihr die Zucht, so stürzt sie haltlos
in das Böse und wird häßlicher, als der rohe Mann. Der Mann aber

da aber Freiheit von allem Zwang die Seele der Schönheit ſei, ſo ſei
er, da kein Theil in ſtraffer Beſtimmtheit ſich vordränge, ſchöner. Allein
dieſe Zwangloſigkeit iſt auch zu unbeſtimmt, zu zerfloßen, verſchwommen,
wie im Manne umgekehrt zu beſtimmt und ſcharf die Regel herrſcht.
Man muß den Bau und die Geiſtesform, die er ausdrückt, zuſammen-
nehmen und ſo ſtellt ſich auf beide Seiten ein ganzes Schönes, eine
Einheit von Idee und Bild, Geiſt und Natur. Dieſe Einheit iſt im
Weibe unmittelbarer, liberaler, ſie iſt durch keinen Kampf gegangen; im
Manne ſtrenger, denn ſie iſt Einheit aus und durch Scheidung. Allein
die Idee, die noch nicht in Scheidung getreten, iſt wirklich auch in ihrer
Tiefe und Kraft noch nicht da, der Ausdruck des Denkens und der Frei-
heit iſt mit jener harmloſen Anmuth nicht vereinbar. Es fehlt dem
Körperbau, dem Ausdruck, dem Thun der letzte Druck, die rechte Schneide;
das Weib iſt undeutlich wie halbverwiſchte Schrift an Leib und Seele.
Im Manne iſt Beſtimmtheit und geht freilich auf Koſten der Zufälligkeit,
aber es iſt doch die ganze Idee da, die in dieſer walten und herrſchen ſoll.
Ein bedeutendes Kunſtwerk, deſſen Gehalt immer eine große ſittliche Idee
ſein muß, kann ſeinen Gehalt nur durch eine Vereinigung von Männern,
nie von Weibern darſtellen, dieſe können nur einzeln darin auftreten.
Alſo: wie weder der Mann noch das Weib der Menſch iſt, ſondern nur
der Mann und das Weib, ſo ſind auch nur beide zuſammen die ganze
menſchliche Schönheit; wie aber der Mann eher allein ſtehen kann und
Männer zuſammen etwas ausführen können, was groß iſt, nicht aber
Weiber zuſammen ohne Männer, ſo hat der Mann bei der Vertheilung
der Schönheit an beide Geſchlechter zwar nicht das Ganze, aber einen
größeren Theil des Ganzen erhalten. Die verſchiedenen Stadien männ-
licher und weiblicher Schönheit hat die antike Plaſtik reichlich angebaut.
W. v. Humboldt nennt die bedeutendſten Werke. Ein Verſuch, die
ganze Schönheit, die unſichtbar zwiſchen beiden Geſchlechtern ſchwebt, in
einem Dritten zu vereinigen, war der Hermaphrodit: trotz allem Reize
der Ausführung widerlich.

2. Es muß uns hier frei ſtehen, in das anthropologiſche Gebiet
mehr aufzunehmen, als ſonſt geſtattet wäre, die fertige, ſittliche Welt
vorauszuſetzen und ſo das Verhältniß der Geſchlechter in ſeiner ganzen
Bedeutung aufzufaſſen. Jedes Geſchlecht muß ſich durch das andere
wirklich ergänzen; das Weib mehr, als der Mann. Wie jenes leiblich
zum Empfangen beſtimmt iſt, ſo geiſtig; Erziehung und Bildung durch
Männer gibt ihr zur Anmuth die Würde, denn ſie gibt ihr Charakter.
Das Weib hat ihren Schwerpunkt, ihr Ich außer ſich, ſie wird erſt durch
den Mann perſönlich und frei. Fehlt ihr die Zucht, ſo ſtürzt ſie haltlos
in das Böſe und wird häßlicher, als der rohe Mann. Der Mann aber

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[171/0183] da aber Freiheit von allem Zwang die Seele der Schönheit ſei, ſo ſei er, da kein Theil in ſtraffer Beſtimmtheit ſich vordränge, ſchöner. Allein dieſe Zwangloſigkeit iſt auch zu unbeſtimmt, zu zerfloßen, verſchwommen, wie im Manne umgekehrt zu beſtimmt und ſcharf die Regel herrſcht. Man muß den Bau und die Geiſtesform, die er ausdrückt, zuſammen- nehmen und ſo ſtellt ſich auf beide Seiten ein ganzes Schönes, eine Einheit von Idee und Bild, Geiſt und Natur. Dieſe Einheit iſt im Weibe unmittelbarer, liberaler, ſie iſt durch keinen Kampf gegangen; im Manne ſtrenger, denn ſie iſt Einheit aus und durch Scheidung. Allein die Idee, die noch nicht in Scheidung getreten, iſt wirklich auch in ihrer Tiefe und Kraft noch nicht da, der Ausdruck des Denkens und der Frei- heit iſt mit jener harmloſen Anmuth nicht vereinbar. Es fehlt dem Körperbau, dem Ausdruck, dem Thun der letzte Druck, die rechte Schneide; das Weib iſt undeutlich wie halbverwiſchte Schrift an Leib und Seele. Im Manne iſt Beſtimmtheit und geht freilich auf Koſten der Zufälligkeit, aber es iſt doch die ganze Idee da, die in dieſer walten und herrſchen ſoll. Ein bedeutendes Kunſtwerk, deſſen Gehalt immer eine große ſittliche Idee ſein muß, kann ſeinen Gehalt nur durch eine Vereinigung von Männern, nie von Weibern darſtellen, dieſe können nur einzeln darin auftreten. Alſo: wie weder der Mann noch das Weib der Menſch iſt, ſondern nur der Mann und das Weib, ſo ſind auch nur beide zuſammen die ganze menſchliche Schönheit; wie aber der Mann eher allein ſtehen kann und Männer zuſammen etwas ausführen können, was groß iſt, nicht aber Weiber zuſammen ohne Männer, ſo hat der Mann bei der Vertheilung der Schönheit an beide Geſchlechter zwar nicht das Ganze, aber einen größeren Theil des Ganzen erhalten. Die verſchiedenen Stadien männ- licher und weiblicher Schönheit hat die antike Plaſtik reichlich angebaut. W. v. Humboldt nennt die bedeutendſten Werke. Ein Verſuch, die ganze Schönheit, die unſichtbar zwiſchen beiden Geſchlechtern ſchwebt, in einem Dritten zu vereinigen, war der Hermaphrodit: trotz allem Reize der Ausführung widerlich. 2. Es muß uns hier frei ſtehen, in das anthropologiſche Gebiet mehr aufzunehmen, als ſonſt geſtattet wäre, die fertige, ſittliche Welt vorauszuſetzen und ſo das Verhältniß der Geſchlechter in ſeiner ganzen Bedeutung aufzufaſſen. Jedes Geſchlecht muß ſich durch das andere wirklich ergänzen; das Weib mehr, als der Mann. Wie jenes leiblich zum Empfangen beſtimmt iſt, ſo geiſtig; Erziehung und Bildung durch Männer gibt ihr zur Anmuth die Würde, denn ſie gibt ihr Charakter. Das Weib hat ihren Schwerpunkt, ihr Ich außer ſich, ſie wird erſt durch den Mann perſönlich und frei. Fehlt ihr die Zucht, ſo ſtürzt ſie haltlos in das Böſe und wird häßlicher, als der rohe Mann. Der Mann aber

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/183>, abgerufen am 23.11.2024.