Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Geschlechtsvorzüge ist, gegenseitig für schlechthin absolut halten, so daß §. 323. Zucht und Vollendung der Liebe ist die Ehe, welche erst die einseitige1
Geſchlechtsvorzüge iſt, gegenſeitig für ſchlechthin abſolut halten, ſo daß §. 323. Zucht und Vollendung der Liebe iſt die Ehe, welche erſt die einſeitige1 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0185" n="173"/> Geſchlechtsvorzüge iſt, gegenſeitig für ſchlechthin abſolut halten, ſo daß<lb/> die andern Perſonen des Geſchlechts als Nullen erſcheinen. Freilich kann<lb/> das Gemüth ſich auch über die Zuſammengehörigkeit täuſchen und dieß iſt<lb/> ſchon eine Quelle tragiſcher (Göthe’s Wahlverwandtſchaften) oder komiſcher<lb/> Schickſale. Die Liebe wächst, wird reif, ſtößt auf die Hinderniſſe, welche<lb/> ihr die umgebende Welt entweder ungerecht durch Laune und ſinnloſen<lb/> Zufall oder im Rechte eines wichtigeren, größeren Zuſammenhangs, für<lb/> den ſie die Perſonen in Anſpruch nimmt, bereitet: die Beſiegung jener<lb/> führt zum Komiſchen, das Unterliegen unter dieſe und die Erhebung im<lb/> Untergang iſt tragiſch. Die Unſchuld und Heiligkeit der ſinnlichen Beſieglung<lb/> des Bundes iſt nirgends ſchöner ausgeſprochen, als in Juliens Monolog.<lb/> Daß aber auch ein Reichthum komiſcher Motive im ſinnlichen Momente<lb/> der Liebe liege, wurde ſchon in der Lehre vom Komiſchen vielfach berührt.<lb/> Das Komiſche fließt aus der Trennbarkeit des Sinnlichen von dem Gei-<lb/> ſtigen, deſſen Zeuge und Schluß es ſein ſoll. Die Trennung braucht,<lb/> damit komiſche Beleuchtung entſtehe, keine wirkliche zu ſein; freier Humor<lb/> kann im Bewußtſein, das Getrennte leicht wieder zuſammenzufaſſen, die<lb/> Momente der Liebe ſpielend in ſeiner Darſtellung trennen und in wider-<lb/> ſprechendes Durcheinanderſchimmern ſtellen. Das Komiſche verlangt, daß<lb/> aus dem Idealismus der Liebe ſinnliche Regung hervorſchimmere, aber<lb/> jener darf nicht als Täuſchung in platten Genuß auslaufen nach der<lb/> Philoſophie des Mephiſtopheles; umgekehrt muß die rohe Begierde ſelbſt<lb/> wenigſtens den Schein der Vergeiſtigung des Weibes bedürfen und ſuchen,<lb/> um irgend komiſcher Stoff werden zu können. Ebenſo verhält es ſich mit<lb/> Eigennutz, Ehrgeiz und andern Triebfedern, die ſich in die Liebe ein-<lb/> ſchleichen oder ihre bloße Maske anlegen. Ueberhaupt aber geht die Liebe<lb/> am Rande des Komiſchen hin aus demſelben Grunde, aus dem ſie ſich<lb/> am Abgrunde des Tragiſchen bewegt: es ſteht der ſubjectiven Unendlichkeit<lb/> eine objective Welt gegenüber, welche dem erfahrungsloſen Idealismus<lb/> dieſes jugendlichen Pathos als unberechtigte Proſa erſcheint, deren ſtrengere<lb/> Berechtigung es aber in tauſend Anſtößen zu erfahren bekommt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 323.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Zucht und Vollendung der Liebe iſt die <hi rendition="#g">Ehe</hi>, welche erſt die einſeitige<note place="right">1</note><lb/> Schönheit der Geſchlechter thätig ergänzt. Als unbewegter Zuſtand iſt ſie ein<lb/> äſthetiſch weniger günſtiger Stoff, die Störung aber, ſei ſie innere oder äußere,<lb/> bringt die ungleich mächtigere Tiefe und Stärke dieſes beruhigteren Pathos in<lb/> furchtbaren Erſchütterungen und herrlichen Thaten der Tugend zu Tage; zugleich<lb/> geht durch vielfache innere Störungen unſchädlicher Art und durch zahlloſe<lb/> Reibungen mit dem Kleinen, welche dieſe Einwohnung der Liebe in die Wirk-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [173/0185]
Geſchlechtsvorzüge iſt, gegenſeitig für ſchlechthin abſolut halten, ſo daß
die andern Perſonen des Geſchlechts als Nullen erſcheinen. Freilich kann
das Gemüth ſich auch über die Zuſammengehörigkeit täuſchen und dieß iſt
ſchon eine Quelle tragiſcher (Göthe’s Wahlverwandtſchaften) oder komiſcher
Schickſale. Die Liebe wächst, wird reif, ſtößt auf die Hinderniſſe, welche
ihr die umgebende Welt entweder ungerecht durch Laune und ſinnloſen
Zufall oder im Rechte eines wichtigeren, größeren Zuſammenhangs, für
den ſie die Perſonen in Anſpruch nimmt, bereitet: die Beſiegung jener
führt zum Komiſchen, das Unterliegen unter dieſe und die Erhebung im
Untergang iſt tragiſch. Die Unſchuld und Heiligkeit der ſinnlichen Beſieglung
des Bundes iſt nirgends ſchöner ausgeſprochen, als in Juliens Monolog.
Daß aber auch ein Reichthum komiſcher Motive im ſinnlichen Momente
der Liebe liege, wurde ſchon in der Lehre vom Komiſchen vielfach berührt.
Das Komiſche fließt aus der Trennbarkeit des Sinnlichen von dem Gei-
ſtigen, deſſen Zeuge und Schluß es ſein ſoll. Die Trennung braucht,
damit komiſche Beleuchtung entſtehe, keine wirkliche zu ſein; freier Humor
kann im Bewußtſein, das Getrennte leicht wieder zuſammenzufaſſen, die
Momente der Liebe ſpielend in ſeiner Darſtellung trennen und in wider-
ſprechendes Durcheinanderſchimmern ſtellen. Das Komiſche verlangt, daß
aus dem Idealismus der Liebe ſinnliche Regung hervorſchimmere, aber
jener darf nicht als Täuſchung in platten Genuß auslaufen nach der
Philoſophie des Mephiſtopheles; umgekehrt muß die rohe Begierde ſelbſt
wenigſtens den Schein der Vergeiſtigung des Weibes bedürfen und ſuchen,
um irgend komiſcher Stoff werden zu können. Ebenſo verhält es ſich mit
Eigennutz, Ehrgeiz und andern Triebfedern, die ſich in die Liebe ein-
ſchleichen oder ihre bloße Maske anlegen. Ueberhaupt aber geht die Liebe
am Rande des Komiſchen hin aus demſelben Grunde, aus dem ſie ſich
am Abgrunde des Tragiſchen bewegt: es ſteht der ſubjectiven Unendlichkeit
eine objective Welt gegenüber, welche dem erfahrungsloſen Idealismus
dieſes jugendlichen Pathos als unberechtigte Proſa erſcheint, deren ſtrengere
Berechtigung es aber in tauſend Anſtößen zu erfahren bekommt.
§. 323.
Zucht und Vollendung der Liebe iſt die Ehe, welche erſt die einſeitige
Schönheit der Geſchlechter thätig ergänzt. Als unbewegter Zuſtand iſt ſie ein
äſthetiſch weniger günſtiger Stoff, die Störung aber, ſei ſie innere oder äußere,
bringt die ungleich mächtigere Tiefe und Stärke dieſes beruhigteren Pathos in
furchtbaren Erſchütterungen und herrlichen Thaten der Tugend zu Tage; zugleich
geht durch vielfache innere Störungen unſchädlicher Art und durch zahlloſe
Reibungen mit dem Kleinen, welche dieſe Einwohnung der Liebe in die Wirk-
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