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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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beginnen, kann man freilich nicht mit dem Zollstabe geographisch auf-
suchen. Der Skandinavier ist noch ästhetisch, der gequetschte Lappe nicht
mehr; der dunkelbraune Beduine ist es noch, der affenähnliche Neger
nicht mehr.

Zum vorh. §. (1.) wurde bemerkt, daß die Völker ihre Wohnsitze
frei verändern, aber auch sogleich hinzugesetzt, daß diese Verschiebungen
in der kaukasischen Race nicht bedeutend seien. Wären sie nämlich so
stark, daß wir ein Volk in einer Natur-Umgebung fänden, die seinem
Habitus offenbar widerspricht, so wäre dieß freilich eine Ohrfeige für die
ästhetische Betrachtung. Der Mensch bezwingt die Erde, allein diese
abstracte Freiheit der Bildung ist nicht ästhetisch. Im Gebiete des Schönen
wollen wir den Bezwinger selbst von dem Bezwungenen eine gewisse
Naturfärbung annehmen sehen. So bezwingt der Seemann den Ozean,
aber ebendaher bekommt seine ganze Erscheinung einen Meerton. Wirklich
ist nun aber auch das Verhältniß völliger Inconvenienz entweder
ein vorübergehendes und vereinzeltes, wie bei Reisenden, die wir in
einer fremden Naturumgebung finden, und da liegt eben in der
Fremdheit wieder ein anderweitiger ästhetischer Reiz, oder es sind
Niederlassungen wie von Pflanzern, und Niemand nöthigt uns, dieß
ästhetisch zu finden; es sind Eroberungen wie die der Römer in Gallien,
in Deutschland, der rothhaarigen Engländer in Indien und China, der
stämmigen blonden Holländer auf dem Kap, und da können tapfere
Kämpfe dem Widerspruche des ersten Anblicks eine besondere ästhetische
Wendung geben u. s. w. Viele Versetzungen aber führten die Völker
in eine ihrer heimischen verwandte Natur, so daß sie sich ihr anbequemen
konnten, ihren Typus nach ihren Bedingungen nur mäßig zu modificiren
brauchten; so siedelten Griechen in dem um ein Mäßiges heißeren Jonien,
in der verwandten Natur Siciliens und Italiens an, Spanier in Süd-
Amerika, Engländer aber in Nord-Amerika, Sachsen und Normannen in
dem nebligen England, Bretonen auf der Nordwestküste Frankreichs, und
da ist nirgends ein wesentlicher Widerspruch zwischen der Natur und den
Ansiedlern. Endlich besiegt aber auch die Natur neuer Wohnsitze einen
anfänglich stärkeren Widerspruch; die Gothen und Longobarden haben sich
mit den Lateinern verschmelzt und sind Italiener geworden, ebenso Gothen,
Sueven, auch Araber mit den Spaniern, Franken mit den Galliern u. s. w.

§. 326.

Der Unterschied der Völker ist zunächst ein Unterschied der körperlichen
Bildung: diese aber gibt einen inneren Unterschied der geistigen Organisation
kund, welche sich in dem dunkeln Grunde des nun erst concreter in seine Gegen-

beginnen, kann man freilich nicht mit dem Zollſtabe geographiſch auf-
ſuchen. Der Skandinavier iſt noch äſthetiſch, der gequetſchte Lappe nicht
mehr; der dunkelbraune Beduine iſt es noch, der affenähnliche Neger
nicht mehr.

Zum vorh. §. (1.) wurde bemerkt, daß die Völker ihre Wohnſitze
frei verändern, aber auch ſogleich hinzugeſetzt, daß dieſe Verſchiebungen
in der kaukaſiſchen Race nicht bedeutend ſeien. Wären ſie nämlich ſo
ſtark, daß wir ein Volk in einer Natur-Umgebung fänden, die ſeinem
Habitus offenbar widerſpricht, ſo wäre dieß freilich eine Ohrfeige für die
äſthetiſche Betrachtung. Der Menſch bezwingt die Erde, allein dieſe
abſtracte Freiheit der Bildung iſt nicht äſthetiſch. Im Gebiete des Schönen
wollen wir den Bezwinger ſelbſt von dem Bezwungenen eine gewiſſe
Naturfärbung annehmen ſehen. So bezwingt der Seemann den Ozean,
aber ebendaher bekommt ſeine ganze Erſcheinung einen Meerton. Wirklich
iſt nun aber auch das Verhältniß völliger Inconvenienz entweder
ein vorübergehendes und vereinzeltes, wie bei Reiſenden, die wir in
einer fremden Naturumgebung finden, und da liegt eben in der
Fremdheit wieder ein anderweitiger äſthetiſcher Reiz, oder es ſind
Niederlaſſungen wie von Pflanzern, und Niemand nöthigt uns, dieß
äſthetiſch zu finden; es ſind Eroberungen wie die der Römer in Gallien,
in Deutſchland, der rothhaarigen Engländer in Indien und China, der
ſtämmigen blonden Holländer auf dem Kap, und da können tapfere
Kämpfe dem Widerſpruche des erſten Anblicks eine beſondere äſthetiſche
Wendung geben u. ſ. w. Viele Verſetzungen aber führten die Völker
in eine ihrer heimiſchen verwandte Natur, ſo daß ſie ſich ihr anbequemen
konnten, ihren Typus nach ihren Bedingungen nur mäßig zu modificiren
brauchten; ſo ſiedelten Griechen in dem um ein Mäßiges heißeren Jonien,
in der verwandten Natur Siciliens und Italiens an, Spanier in Süd-
Amerika, Engländer aber in Nord-Amerika, Sachſen und Normannen in
dem nebligen England, Bretonen auf der Nordweſtküſte Frankreichs, und
da iſt nirgends ein weſentlicher Widerſpruch zwiſchen der Natur und den
Anſiedlern. Endlich beſiegt aber auch die Natur neuer Wohnſitze einen
anfänglich ſtärkeren Widerſpruch; die Gothen und Longobarden haben ſich
mit den Lateinern verſchmelzt und ſind Italiener geworden, ebenſo Gothen,
Sueven, auch Araber mit den Spaniern, Franken mit den Galliern u. ſ. w.

§. 326.

Der Unterſchied der Völker iſt zunächſt ein Unterſchied der körperlichen
Bildung: dieſe aber gibt einen inneren Unterſchied der geiſtigen Organiſation
kund, welche ſich in dem dunkeln Grunde des nun erſt concreter in ſeine Gegen-

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[180/0192] beginnen, kann man freilich nicht mit dem Zollſtabe geographiſch auf- ſuchen. Der Skandinavier iſt noch äſthetiſch, der gequetſchte Lappe nicht mehr; der dunkelbraune Beduine iſt es noch, der affenähnliche Neger nicht mehr. Zum vorh. §. (1.) wurde bemerkt, daß die Völker ihre Wohnſitze frei verändern, aber auch ſogleich hinzugeſetzt, daß dieſe Verſchiebungen in der kaukaſiſchen Race nicht bedeutend ſeien. Wären ſie nämlich ſo ſtark, daß wir ein Volk in einer Natur-Umgebung fänden, die ſeinem Habitus offenbar widerſpricht, ſo wäre dieß freilich eine Ohrfeige für die äſthetiſche Betrachtung. Der Menſch bezwingt die Erde, allein dieſe abſtracte Freiheit der Bildung iſt nicht äſthetiſch. Im Gebiete des Schönen wollen wir den Bezwinger ſelbſt von dem Bezwungenen eine gewiſſe Naturfärbung annehmen ſehen. So bezwingt der Seemann den Ozean, aber ebendaher bekommt ſeine ganze Erſcheinung einen Meerton. Wirklich iſt nun aber auch das Verhältniß völliger Inconvenienz entweder ein vorübergehendes und vereinzeltes, wie bei Reiſenden, die wir in einer fremden Naturumgebung finden, und da liegt eben in der Fremdheit wieder ein anderweitiger äſthetiſcher Reiz, oder es ſind Niederlaſſungen wie von Pflanzern, und Niemand nöthigt uns, dieß äſthetiſch zu finden; es ſind Eroberungen wie die der Römer in Gallien, in Deutſchland, der rothhaarigen Engländer in Indien und China, der ſtämmigen blonden Holländer auf dem Kap, und da können tapfere Kämpfe dem Widerſpruche des erſten Anblicks eine beſondere äſthetiſche Wendung geben u. ſ. w. Viele Verſetzungen aber führten die Völker in eine ihrer heimiſchen verwandte Natur, ſo daß ſie ſich ihr anbequemen konnten, ihren Typus nach ihren Bedingungen nur mäßig zu modificiren brauchten; ſo ſiedelten Griechen in dem um ein Mäßiges heißeren Jonien, in der verwandten Natur Siciliens und Italiens an, Spanier in Süd- Amerika, Engländer aber in Nord-Amerika, Sachſen und Normannen in dem nebligen England, Bretonen auf der Nordweſtküſte Frankreichs, und da iſt nirgends ein weſentlicher Widerſpruch zwiſchen der Natur und den Anſiedlern. Endlich beſiegt aber auch die Natur neuer Wohnſitze einen anfänglich ſtärkeren Widerſpruch; die Gothen und Longobarden haben ſich mit den Lateinern verſchmelzt und ſind Italiener geworden, ebenſo Gothen, Sueven, auch Araber mit den Spaniern, Franken mit den Galliern u. ſ. w. §. 326. Der Unterſchied der Völker iſt zunächſt ein Unterſchied der körperlichen Bildung: dieſe aber gibt einen inneren Unterſchied der geiſtigen Organiſation kund, welche ſich in dem dunkeln Grunde des nun erſt concreter in ſeine Gegen-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/192>, abgerufen am 23.11.2024.