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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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§. 329.

Hat sich aus diesen Anfängen die strengere Ordnung entwickelt, doch so,1
daß sie die Naturlebendigkeit noch nicht zerstört, sondern die unmittelbare
Betheiligung des Einzelnen am Allgemeinen festhält, so wird sich dieß auch
dadurch zeigen, daß die allgemeinen Thätigkeiten selbst sich in öffentlichen
Handlungen eine bedeutungsvolle, nicht gemachte, sondern in ehrwürdiger
Gewohnheit festgewurzelte sinnliche Darstellung geben. Das naturfreudige Volk2
wird sich in Festen, Aufzügen, Spielen ein Bild seiner Schönheit bereiten und
diese an einen Gottesdienst knüpfen, der einen Reichthum anschaulicher Formen
mit sich führt.

1. Der reifere Staat ist noch nicht der naturlos abstracte, von dem
zu §. 328 die Rede war; die künstliche Ordnung hebt noch nicht die
Lebendigkeit der Form auf. Das beste Beispiel ist die prosaische, abstracte
Grundlage des Staats, das Recht. Dieses ist in seiner ursprünglichen,
jedoch über die heroischen Zustände bereits hinausliegenden Form noch
mündlich überliefertes, in Versen, Reimen, Sprichwörtern ausgedrücktes,
durch Alter ehrwürdiges Gewohnheitsrecht und bezeichnet die wichtigeren
Acte durch sinnbildliche Bräuche und Gegenstände. Oeffentlich, auf dem
Marktplatze, unter Linden wird Recht gesprochen und der Prozeß ist ein
belebtes Drama. Vergl. bes. J. Grimm von der Poesie im Rechte
(Zeitschr. f. geschichtl. Rechtswiss. v. Savigny, Eichhorn, Göschen B. 2.).
Aber auch das geschriebene Recht kann und soll solche Formen beibehalten
oder theilweise zu ihnen zurückkehren und was das Wohl der Völker fordert,
ist zugleich auch Gewinn für das Schöne. In der Sphäre der Gesetz-
gebung und Verwaltung bezeichnet eine naturvolle Bildung ebenfalls jeden
bedeutenderen Act, Promulgation von Gesetzen, Eröffnung von Versamm-
lungen, Einsetzung von Würden u. s. w. durch bedeutende öffentliche Scenen.
Selbst Erziehung und Unterricht halten ihre Feste, der italienische Dorf-
schulmeister lehrt noch heute im Freien, sitzt mit einem langen Rohrstabe
im Kreise seiner muthwilligen Schüler. Handwerk und Zunft haben ihre
Bräuche. Man kann die Sache überhaupt so bestimmen, daß das Schöne
im öffentlichen Leben den Brauch liebe und in dem Grade an Stoff
verliere, in welchem reflectirte Willkühr in die Bräuche einreiße, flacher
Sinn sie gar zerstöre.

2. Olympische Spiele, Turniere, Schützenfeste, Schifferstechen u. s. w.
Den Mittelpunkt aller ächten Feste haben von jeher kriegerische, selbst
gefahrvolle Spiele gebildet; die scherzhafteren, Tanz, Gesang, Gelage u. s. w.
knüpfen sich daran. Wir werden später sehen, wie arm und freudlos

§. 329.

Hat ſich aus dieſen Anfängen die ſtrengere Ordnung entwickelt, doch ſo,1
daß ſie die Naturlebendigkeit noch nicht zerſtört, ſondern die unmittelbare
Betheiligung des Einzelnen am Allgemeinen feſthält, ſo wird ſich dieß auch
dadurch zeigen, daß die allgemeinen Thätigkeiten ſelbſt ſich in öffentlichen
Handlungen eine bedeutungsvolle, nicht gemachte, ſondern in ehrwürdiger
Gewohnheit feſtgewurzelte ſinnliche Darſtellung geben. Das naturfreudige Volk2
wird ſich in Feſten, Aufzügen, Spielen ein Bild ſeiner Schönheit bereiten und
dieſe an einen Gottesdienſt knüpfen, der einen Reichthum anſchaulicher Formen
mit ſich führt.

1. Der reifere Staat iſt noch nicht der naturlos abſtracte, von dem
zu §. 328 die Rede war; die künſtliche Ordnung hebt noch nicht die
Lebendigkeit der Form auf. Das beſte Beiſpiel iſt die proſaiſche, abſtracte
Grundlage des Staats, das Recht. Dieſes iſt in ſeiner urſprünglichen,
jedoch über die heroiſchen Zuſtände bereits hinausliegenden Form noch
mündlich überliefertes, in Verſen, Reimen, Sprichwörtern ausgedrücktes,
durch Alter ehrwürdiges Gewohnheitsrecht und bezeichnet die wichtigeren
Acte durch ſinnbildliche Bräuche und Gegenſtände. Oeffentlich, auf dem
Marktplatze, unter Linden wird Recht geſprochen und der Prozeß iſt ein
belebtes Drama. Vergl. beſ. J. Grimm von der Poeſie im Rechte
(Zeitſchr. f. geſchichtl. Rechtswiſſ. v. Savigny, Eichhorn, Göſchen B. 2.).
Aber auch das geſchriebene Recht kann und ſoll ſolche Formen beibehalten
oder theilweiſe zu ihnen zurückkehren und was das Wohl der Völker fordert,
iſt zugleich auch Gewinn für das Schöne. In der Sphäre der Geſetz-
gebung und Verwaltung bezeichnet eine naturvolle Bildung ebenfalls jeden
bedeutenderen Act, Promulgation von Geſetzen, Eröffnung von Verſamm-
lungen, Einſetzung von Würden u. ſ. w. durch bedeutende öffentliche Scenen.
Selbſt Erziehung und Unterricht halten ihre Feſte, der italieniſche Dorf-
ſchulmeiſter lehrt noch heute im Freien, ſitzt mit einem langen Rohrſtabe
im Kreiſe ſeiner muthwilligen Schüler. Handwerk und Zunft haben ihre
Bräuche. Man kann die Sache überhaupt ſo beſtimmen, daß das Schöne
im öffentlichen Leben den Brauch liebe und in dem Grade an Stoff
verliere, in welchem reflectirte Willkühr in die Bräuche einreiße, flacher
Sinn ſie gar zerſtöre.

2. Olympiſche Spiele, Turniere, Schützenfeſte, Schifferſtechen u. ſ. w.
Den Mittelpunkt aller ächten Feſte haben von jeher kriegeriſche, ſelbſt
gefahrvolle Spiele gebildet; die ſcherzhafteren, Tanz, Geſang, Gelage u. ſ. w.
knüpfen ſich daran. Wir werden ſpäter ſehen, wie arm und freudlos

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[189/0201] §. 329. Hat ſich aus dieſen Anfängen die ſtrengere Ordnung entwickelt, doch ſo, daß ſie die Naturlebendigkeit noch nicht zerſtört, ſondern die unmittelbare Betheiligung des Einzelnen am Allgemeinen feſthält, ſo wird ſich dieß auch dadurch zeigen, daß die allgemeinen Thätigkeiten ſelbſt ſich in öffentlichen Handlungen eine bedeutungsvolle, nicht gemachte, ſondern in ehrwürdiger Gewohnheit feſtgewurzelte ſinnliche Darſtellung geben. Das naturfreudige Volk wird ſich in Feſten, Aufzügen, Spielen ein Bild ſeiner Schönheit bereiten und dieſe an einen Gottesdienſt knüpfen, der einen Reichthum anſchaulicher Formen mit ſich führt. 1. Der reifere Staat iſt noch nicht der naturlos abſtracte, von dem zu §. 328 die Rede war; die künſtliche Ordnung hebt noch nicht die Lebendigkeit der Form auf. Das beſte Beiſpiel iſt die proſaiſche, abſtracte Grundlage des Staats, das Recht. Dieſes iſt in ſeiner urſprünglichen, jedoch über die heroiſchen Zuſtände bereits hinausliegenden Form noch mündlich überliefertes, in Verſen, Reimen, Sprichwörtern ausgedrücktes, durch Alter ehrwürdiges Gewohnheitsrecht und bezeichnet die wichtigeren Acte durch ſinnbildliche Bräuche und Gegenſtände. Oeffentlich, auf dem Marktplatze, unter Linden wird Recht geſprochen und der Prozeß iſt ein belebtes Drama. Vergl. beſ. J. Grimm von der Poeſie im Rechte (Zeitſchr. f. geſchichtl. Rechtswiſſ. v. Savigny, Eichhorn, Göſchen B. 2.). Aber auch das geſchriebene Recht kann und ſoll ſolche Formen beibehalten oder theilweiſe zu ihnen zurückkehren und was das Wohl der Völker fordert, iſt zugleich auch Gewinn für das Schöne. In der Sphäre der Geſetz- gebung und Verwaltung bezeichnet eine naturvolle Bildung ebenfalls jeden bedeutenderen Act, Promulgation von Geſetzen, Eröffnung von Verſamm- lungen, Einſetzung von Würden u. ſ. w. durch bedeutende öffentliche Scenen. Selbſt Erziehung und Unterricht halten ihre Feſte, der italieniſche Dorf- ſchulmeiſter lehrt noch heute im Freien, ſitzt mit einem langen Rohrſtabe im Kreiſe ſeiner muthwilligen Schüler. Handwerk und Zunft haben ihre Bräuche. Man kann die Sache überhaupt ſo beſtimmen, daß das Schöne im öffentlichen Leben den Brauch liebe und in dem Grade an Stoff verliere, in welchem reflectirte Willkühr in die Bräuche einreiße, flacher Sinn ſie gar zerſtöre. 2. Olympiſche Spiele, Turniere, Schützenfeſte, Schifferſtechen u. ſ. w. Den Mittelpunkt aller ächten Feſte haben von jeher kriegeriſche, ſelbſt gefahrvolle Spiele gebildet; die ſcherzhafteren, Tanz, Geſang, Gelage u. ſ. w. knüpfen ſich daran. Wir werden ſpäter ſehen, wie arm und freudlos

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/201>, abgerufen am 23.11.2024.