Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite
g
Die individuellen Formen.
§. 331.

Aus den verschlungenen Wurzeln dieses Bodens wächst das Individuum.1
Von der einen Seite faßt sich in ihm die Naturseite dieses ganzen Bodens,
nämlich die leibliche Bildung und die Seelen-Anlage des Volks, des Stamms,
der Familie zu der unendlichen, keinem Thiere so zukommenden Eigenheit einer
angeborenen Körperbildung und Sinnesweise zusammen. Die letztere webt in
dem Dunkel der natürlichen Grundstimmung; diese oder das Temperament und
mit ihm das Naturell überhaupt tritt nun erst in seiner ganzen Bedeutung für
die Aesthetik hervor. Die vier Temperamente, welche man richtig unterscheidet,2
verwickeln sich in jedem Einzelnen, während das Volkstemperament (§. 326)
die Unterlage bildet, zu einem unberechenbaren Ganzen, in welchem eines
derselben hervorsticht.

1. Wir haben nun die Momente zu sammeln, deren Concretion
der Charakter ist. Am meisten scheint uns einer erschöpfenden Ent-
wicklung dieses complicirten Begriffs Rötscher durch s. Abh. über das
Wesen der dramat. Charaktergestaltung (Cyclus dramat. Charaktere oder
die Kunst der dramat. Darst. Thl. 2.) vorgearbeitet zu haben. Wir
unterscheiden, von seiner Anordnung übrigens abweichend, zwei Reihen
von Momenten der Allgemeinheit und Besonderheit, die sich zur Spitze
der Individualität zusammenfassen; zuerst im gegenwärtigen §. die Reihe
der Momente auf der Naturseite. Unter diesen ist außer Volk, Stamm
namentlich die Familie wichtig; man kennt die eingewurzelt vererbende
Körperbildung und seelische Richtung einzelner Familien. Selbst in der
alten Tragödie ist der wilde Sinn, der sich in einzelnen Häusern vererbt,
ein Hebel; engere Disposition für gewisse Lebenssphären, schärfere
Eigenheit einzelner Familien ist natürlich moderner: ein Punkt, wovon
an seinem Ort mehr. Alles nun, was durch Fortpflanzung in den
Einzelnen übergeht, faßt sich in jedem zu unendlich neuer und eigener
Mischung zusammen. Er ist nur sich selbst gleich. Dieß mußte in der
metaphysischen Begründung schon ausgesprochen werden, vergl. §. 31 ff.
In wem die Eigenheit so schwach ist, daß man sie kaum wahrnimmt,
der ist kein ästhetischer, oder ein nur sehr untergeordneter Stoff.

2. Die Temperamente zu zählen, zu schildern, zu begründen und zu
erklären, ist die Aesthetik nicht schuldig, sie nimmt dieß aus der Anthro-
pologie auf. Man mag mit Kant zwei Temperamente des Gefühls

Vischer's Aesthetik. 2. Band. 13
γ
Die individuellen Formen.
§. 331.

Aus den verſchlungenen Wurzeln dieſes Bodens wächst das Individuum.1
Von der einen Seite faßt ſich in ihm die Naturſeite dieſes ganzen Bodens,
nämlich die leibliche Bildung und die Seelen-Anlage des Volks, des Stamms,
der Familie zu der unendlichen, keinem Thiere ſo zukommenden Eigenheit einer
angeborenen Körperbildung und Sinnesweiſe zuſammen. Die letztere webt in
dem Dunkel der natürlichen Grundſtimmung; dieſe oder das Temperament und
mit ihm das Naturell überhaupt tritt nun erſt in ſeiner ganzen Bedeutung für
die Aeſthetik hervor. Die vier Temperamente, welche man richtig unterſcheidet,2
verwickeln ſich in jedem Einzelnen, während das Volkstemperament (§. 326)
die Unterlage bildet, zu einem unberechenbaren Ganzen, in welchem eines
derſelben hervorſticht.

1. Wir haben nun die Momente zu ſammeln, deren Concretion
der Charakter iſt. Am meiſten ſcheint uns einer erſchöpfenden Ent-
wicklung dieſes complicirten Begriffs Rötſcher durch ſ. Abh. über das
Weſen der dramat. Charaktergeſtaltung (Cyclus dramat. Charaktere oder
die Kunſt der dramat. Darſt. Thl. 2.) vorgearbeitet zu haben. Wir
unterſcheiden, von ſeiner Anordnung übrigens abweichend, zwei Reihen
von Momenten der Allgemeinheit und Beſonderheit, die ſich zur Spitze
der Individualität zuſammenfaſſen; zuerſt im gegenwärtigen §. die Reihe
der Momente auf der Naturſeite. Unter dieſen iſt außer Volk, Stamm
namentlich die Familie wichtig; man kennt die eingewurzelt vererbende
Körperbildung und ſeeliſche Richtung einzelner Familien. Selbſt in der
alten Tragödie iſt der wilde Sinn, der ſich in einzelnen Häuſern vererbt,
ein Hebel; engere Diſpoſition für gewiſſe Lebensſphären, ſchärfere
Eigenheit einzelner Familien iſt natürlich moderner: ein Punkt, wovon
an ſeinem Ort mehr. Alles nun, was durch Fortpflanzung in den
Einzelnen übergeht, faßt ſich in jedem zu unendlich neuer und eigener
Miſchung zuſammen. Er iſt nur ſich ſelbſt gleich. Dieß mußte in der
metaphyſiſchen Begründung ſchon ausgeſprochen werden, vergl. §. 31 ff.
In wem die Eigenheit ſo ſchwach iſt, daß man ſie kaum wahrnimmt,
der iſt kein äſthetiſcher, oder ein nur ſehr untergeordneter Stoff.

2. Die Temperamente zu zählen, zu ſchildern, zu begründen und zu
erklären, iſt die Aeſthetik nicht ſchuldig, ſie nimmt dieß aus der Anthro-
pologie auf. Man mag mit Kant zwei Temperamente des Gefühls

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 13
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0205" n="193"/>
              <div n="5">
                <head><hi rendition="#i">&#x03B3;</hi><lb/>
Die individuellen Formen.</head><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 331.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Aus den ver&#x017F;chlungenen Wurzeln die&#x017F;es Bodens wächst das <hi rendition="#g">Individuum</hi>.<note place="right">1</note><lb/>
Von der einen Seite faßt &#x017F;ich in ihm die Natur&#x017F;eite die&#x017F;es ganzen Bodens,<lb/>
nämlich die leibliche Bildung und die Seelen-Anlage des Volks, des Stamms,<lb/>
der Familie zu der unendlichen, keinem Thiere &#x017F;o zukommenden Eigenheit einer<lb/>
angeborenen Körperbildung und Sinneswei&#x017F;e zu&#x017F;ammen. Die letztere webt in<lb/>
dem Dunkel der natürlichen Grund&#x017F;timmung; die&#x017F;e oder das Temperament und<lb/>
mit ihm das Naturell überhaupt tritt nun er&#x017F;t in &#x017F;einer ganzen Bedeutung für<lb/>
die Ae&#x017F;thetik hervor. Die vier Temperamente, welche man richtig unter&#x017F;cheidet,<note place="right">2</note><lb/>
verwickeln &#x017F;ich in jedem Einzelnen, während das Volkstemperament (§. 326)<lb/>
die Unterlage bildet, zu einem unberechenbaren Ganzen, in welchem eines<lb/>
der&#x017F;elben hervor&#x017F;ticht.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">1. Wir haben nun die Momente zu &#x017F;ammeln, deren Concretion<lb/>
der <hi rendition="#g">Charakter</hi> i&#x017F;t. Am mei&#x017F;ten &#x017F;cheint uns einer er&#x017F;chöpfenden Ent-<lb/>
wicklung die&#x017F;es complicirten Begriffs <hi rendition="#g">Röt&#x017F;cher</hi> durch &#x017F;. Abh. über das<lb/>
We&#x017F;en der dramat. Charakterge&#x017F;taltung (Cyclus dramat. Charaktere oder<lb/>
die Kun&#x017F;t der dramat. Dar&#x017F;t. Thl. 2.) vorgearbeitet zu haben. Wir<lb/>
unter&#x017F;cheiden, von &#x017F;einer Anordnung übrigens abweichend, zwei Reihen<lb/>
von Momenten der Allgemeinheit und Be&#x017F;onderheit, die &#x017F;ich zur Spitze<lb/>
der Individualität zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;en; zuer&#x017F;t im gegenwärtigen §. die Reihe<lb/>
der Momente auf der Natur&#x017F;eite. Unter die&#x017F;en i&#x017F;t außer Volk, Stamm<lb/>
namentlich die Familie wichtig; man kennt die eingewurzelt vererbende<lb/>
Körperbildung und &#x017F;eeli&#x017F;che Richtung einzelner Familien. Selb&#x017F;t in der<lb/>
alten Tragödie i&#x017F;t der wilde Sinn, der &#x017F;ich in einzelnen Häu&#x017F;ern vererbt,<lb/>
ein Hebel; engere Di&#x017F;po&#x017F;ition für gewi&#x017F;&#x017F;e Lebens&#x017F;phären, &#x017F;chärfere<lb/>
Eigenheit einzelner Familien i&#x017F;t natürlich moderner: ein Punkt, wovon<lb/>
an &#x017F;einem Ort mehr. Alles nun, was durch Fortpflanzung in den<lb/>
Einzelnen übergeht, faßt &#x017F;ich in jedem zu unendlich neuer und eigener<lb/>
Mi&#x017F;chung zu&#x017F;ammen. Er i&#x017F;t nur &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t gleich. Dieß mußte in der<lb/>
metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Begründung &#x017F;chon ausge&#x017F;prochen werden, vergl. §. 31 ff.<lb/>
In wem die Eigenheit &#x017F;o &#x017F;chwach i&#x017F;t, daß man &#x017F;ie kaum wahrnimmt,<lb/>
der i&#x017F;t kein ä&#x017F;theti&#x017F;cher, oder ein nur &#x017F;ehr untergeordneter Stoff.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Die Temperamente zu zählen, zu &#x017F;childern, zu begründen und zu<lb/>
erklären, i&#x017F;t die Ae&#x017F;thetik nicht &#x017F;chuldig, &#x017F;ie nimmt dieß aus der Anthro-<lb/>
pologie auf. Man mag mit <hi rendition="#g">Kant</hi> zwei Temperamente des Gefühls</hi><lb/>
                    <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Vi&#x017F;cher&#x2019;s</hi> Ae&#x017F;thetik. 2. Band. 13</fw><lb/>
                  </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[193/0205] γ Die individuellen Formen. §. 331. Aus den verſchlungenen Wurzeln dieſes Bodens wächst das Individuum. Von der einen Seite faßt ſich in ihm die Naturſeite dieſes ganzen Bodens, nämlich die leibliche Bildung und die Seelen-Anlage des Volks, des Stamms, der Familie zu der unendlichen, keinem Thiere ſo zukommenden Eigenheit einer angeborenen Körperbildung und Sinnesweiſe zuſammen. Die letztere webt in dem Dunkel der natürlichen Grundſtimmung; dieſe oder das Temperament und mit ihm das Naturell überhaupt tritt nun erſt in ſeiner ganzen Bedeutung für die Aeſthetik hervor. Die vier Temperamente, welche man richtig unterſcheidet, verwickeln ſich in jedem Einzelnen, während das Volkstemperament (§. 326) die Unterlage bildet, zu einem unberechenbaren Ganzen, in welchem eines derſelben hervorſticht. 1. Wir haben nun die Momente zu ſammeln, deren Concretion der Charakter iſt. Am meiſten ſcheint uns einer erſchöpfenden Ent- wicklung dieſes complicirten Begriffs Rötſcher durch ſ. Abh. über das Weſen der dramat. Charaktergeſtaltung (Cyclus dramat. Charaktere oder die Kunſt der dramat. Darſt. Thl. 2.) vorgearbeitet zu haben. Wir unterſcheiden, von ſeiner Anordnung übrigens abweichend, zwei Reihen von Momenten der Allgemeinheit und Beſonderheit, die ſich zur Spitze der Individualität zuſammenfaſſen; zuerſt im gegenwärtigen §. die Reihe der Momente auf der Naturſeite. Unter dieſen iſt außer Volk, Stamm namentlich die Familie wichtig; man kennt die eingewurzelt vererbende Körperbildung und ſeeliſche Richtung einzelner Familien. Selbſt in der alten Tragödie iſt der wilde Sinn, der ſich in einzelnen Häuſern vererbt, ein Hebel; engere Diſpoſition für gewiſſe Lebensſphären, ſchärfere Eigenheit einzelner Familien iſt natürlich moderner: ein Punkt, wovon an ſeinem Ort mehr. Alles nun, was durch Fortpflanzung in den Einzelnen übergeht, faßt ſich in jedem zu unendlich neuer und eigener Miſchung zuſammen. Er iſt nur ſich ſelbſt gleich. Dieß mußte in der metaphyſiſchen Begründung ſchon ausgeſprochen werden, vergl. §. 31 ff. In wem die Eigenheit ſo ſchwach iſt, daß man ſie kaum wahrnimmt, der iſt kein äſthetiſcher, oder ein nur ſehr untergeordneter Stoff. 2. Die Temperamente zu zählen, zu ſchildern, zu begründen und zu erklären, iſt die Aeſthetik nicht ſchuldig, ſie nimmt dieß aus der Anthro- pologie auf. Man mag mit Kant zwei Temperamente des Gefühls Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 13

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/205
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/205>, abgerufen am 27.11.2024.