Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
sittlichen Ganzen schon angehörig, nur in den untergeordneten Gebieten 2. Das Wort Motiv wird im ästhetischen Gebiet auf sehr vielfache
ſittlichen Ganzen ſchon angehörig, nur in den untergeordneten Gebieten 2. Das Wort Motiv wird im äſthetiſchen Gebiet auf ſehr vielfache <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0215" n="203"/> ſittlichen Ganzen ſchon angehörig, nur in den untergeordneten Gebieten<lb/> desſelben, dem Nützlichen, Geſelligen u. ſ. w. ſich zu ſchaffen macht. Im<lb/> ſtricteſten Sinne aber bedeutet Situation drittens die Lage der Dinge, die<lb/> den Stoff zum ernſten Wirken, zur entſcheidenden ſittlichen That enthält<lb/> und dazu ſpannt, auffordert. Da dieſe immer eine Colliſion hervorruft,<lb/> ſo nimmt Hegel dieſe dritte Bedeutung gleich Colliſion. Situation in<lb/> dieſem Sinne fordert alſo entweder zu ſtetigem Wirken auf, z. B. der<lb/> Zuſtand einer Staatsverfaſſung, eines Standes, einer Gemeinde u. ſ. w.<lb/> der gründlicher Umgeſtaltung bedarf, aber ſich auch gewiß gegen den<lb/> Reformator kehren wird, oder zur ſtraffen That, wo die Spitze eines<lb/> Augenblicks einen Entſchluß von durchgreifender Entſcheidung verlangt.<lb/> Ein ſolcher Moment iſt für Egmont die Stunde, da die Statthalterin ſich<lb/> entfernt, Oranien ihn gewarnt hat, Alba eingezogen iſt, für Wallenſtein<lb/> die Lage, da der argwöhniſche Hof einen Theil ſeiner Unterhandlungen<lb/> mit dem Feinde ausgekundſchaftet hat, Verſöhnung nicht mehr möglich iſt,<lb/> die Freunde drängen, der Schwede Gewißheit will, für Macbeth Duncans<lb/> Eintritt in ſein Haus, für die gegen Jul. Cäſar Verſchworenen deſſen<lb/> Erſcheinen im Senat, für Wilhelm Tell der Augenblick, wo Geßler<lb/> durch die Armgart im Hohlweg aufgehalten wird u. ſ. w.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Das Wort Motiv wird im äſthetiſchen Gebiet auf ſehr vielfache<lb/> Weiſe gebraucht; hieher gehört es blos erſt, ſoweit es, noch außerhalb<lb/> der Kunſt ſelbſt, zur Bezeichnung eines im Stoffe liegenden Moments<lb/> angewendet wird, und ſo kann es nur einen Beſtimmungsgrund zum<lb/> Handeln bedeuten. Man braucht es zwar auch von einer Vermittlung<lb/> rein objectiver Art, von den Umſtänden nämlich, welche Urſache eines<lb/> gewiſſen Sachverhalts ſind. Göthe z. B. ſagt, Schiller habe es mit der<lb/> Motivirung immer leichter genommen, als er, daher habe er nicht für<lb/> nöthig gehalten, zu motiviren, woher der Bauer im Wallenſteins Lager<lb/> die falſchen Würfel habe, er ſelbſt habe erſt die Verſe eingefügt: „ein<lb/> Hauptmann, den ein Anderer erſtach“ u. ſ. w. Dieſer Sprachgebrauch<lb/> geht uns aber hier nichts an, denn in der Wirklichkeit iſt in dieſem<lb/> Sinne Alles motivirt und erſt in der Kunſt, die uns noch nicht beſchäftigt,<lb/> fragt es ſich, wie weit der Künſtler in der Reihe der Urſachen zurückgreifen<lb/> ſolle, um den Sachbeſtand zu erklären, wie weit <hi rendition="#g">er</hi> zu motiviren habe,<lb/> In unſerem Sinn iſt alſo Motiv ein Umſtand, der einen Charakter anregt.<lb/> einen ſeiner Triebe in Bewegung ſetzt. Der Charakterloſe folgt unmittel-<lb/> bar, wie Iſolani; ſeine Thaten ſind ebendaher nicht ſein Werk, ſondern<lb/> nur Ereigniß, ein Durchgang der äußeren Verkettungen durch einen<lb/> Menſchen. Dieß iſt Kants heteronomiſche Triebfeder; die Autonomie<lb/> aber, die er fordert, iſt abſtract, der Charakter darf und ſoll dem Triebe<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [203/0215]
ſittlichen Ganzen ſchon angehörig, nur in den untergeordneten Gebieten
desſelben, dem Nützlichen, Geſelligen u. ſ. w. ſich zu ſchaffen macht. Im
ſtricteſten Sinne aber bedeutet Situation drittens die Lage der Dinge, die
den Stoff zum ernſten Wirken, zur entſcheidenden ſittlichen That enthält
und dazu ſpannt, auffordert. Da dieſe immer eine Colliſion hervorruft,
ſo nimmt Hegel dieſe dritte Bedeutung gleich Colliſion. Situation in
dieſem Sinne fordert alſo entweder zu ſtetigem Wirken auf, z. B. der
Zuſtand einer Staatsverfaſſung, eines Standes, einer Gemeinde u. ſ. w.
der gründlicher Umgeſtaltung bedarf, aber ſich auch gewiß gegen den
Reformator kehren wird, oder zur ſtraffen That, wo die Spitze eines
Augenblicks einen Entſchluß von durchgreifender Entſcheidung verlangt.
Ein ſolcher Moment iſt für Egmont die Stunde, da die Statthalterin ſich
entfernt, Oranien ihn gewarnt hat, Alba eingezogen iſt, für Wallenſtein
die Lage, da der argwöhniſche Hof einen Theil ſeiner Unterhandlungen
mit dem Feinde ausgekundſchaftet hat, Verſöhnung nicht mehr möglich iſt,
die Freunde drängen, der Schwede Gewißheit will, für Macbeth Duncans
Eintritt in ſein Haus, für die gegen Jul. Cäſar Verſchworenen deſſen
Erſcheinen im Senat, für Wilhelm Tell der Augenblick, wo Geßler
durch die Armgart im Hohlweg aufgehalten wird u. ſ. w.
2. Das Wort Motiv wird im äſthetiſchen Gebiet auf ſehr vielfache
Weiſe gebraucht; hieher gehört es blos erſt, ſoweit es, noch außerhalb
der Kunſt ſelbſt, zur Bezeichnung eines im Stoffe liegenden Moments
angewendet wird, und ſo kann es nur einen Beſtimmungsgrund zum
Handeln bedeuten. Man braucht es zwar auch von einer Vermittlung
rein objectiver Art, von den Umſtänden nämlich, welche Urſache eines
gewiſſen Sachverhalts ſind. Göthe z. B. ſagt, Schiller habe es mit der
Motivirung immer leichter genommen, als er, daher habe er nicht für
nöthig gehalten, zu motiviren, woher der Bauer im Wallenſteins Lager
die falſchen Würfel habe, er ſelbſt habe erſt die Verſe eingefügt: „ein
Hauptmann, den ein Anderer erſtach“ u. ſ. w. Dieſer Sprachgebrauch
geht uns aber hier nichts an, denn in der Wirklichkeit iſt in dieſem
Sinne Alles motivirt und erſt in der Kunſt, die uns noch nicht beſchäftigt,
fragt es ſich, wie weit der Künſtler in der Reihe der Urſachen zurückgreifen
ſolle, um den Sachbeſtand zu erklären, wie weit er zu motiviren habe,
In unſerem Sinn iſt alſo Motiv ein Umſtand, der einen Charakter anregt.
einen ſeiner Triebe in Bewegung ſetzt. Der Charakterloſe folgt unmittel-
bar, wie Iſolani; ſeine Thaten ſind ebendaher nicht ſein Werk, ſondern
nur Ereigniß, ein Durchgang der äußeren Verkettungen durch einen
Menſchen. Dieß iſt Kants heteronomiſche Triebfeder; die Autonomie
aber, die er fordert, iſt abſtract, der Charakter darf und ſoll dem Triebe
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |