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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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verfolgen, bleibt das Eine noch hervorzuheben, daß seine That selbst
theils durch einen Geist, den sie in ihm aus dem Schlummer aufreißt,
theils durch die Consequenzen, die sie fordert, ihn in neue Bahnen reißen
kann. So Macbeth, der durch Königsmord aus einem Ehrenmann zum
Wütherich wird, dann innerlich verkohlt und äußerlich untergeht. Der
Wendepunkt muß aber vorbereitet sein. Vergl. Rötscher Cyklus dram.
Charaktere Thl. 1, S. 27.

2. An sich gehört das ganze Gebiet der Ahnungen, Träume, des
Hellsehens, Wahnsinns zur Anthropologie, also für uns eigentlich an den
Anfang der Lehre von der menschlichen Schönheit, wo wir den Menschen
aus dem Naturleben erst in das sittliche heraufführten. Allein diese
Erscheinungen können weniger, als irgend eine aus dem Naturgebiete des
Geistes, anders erwähnt werden, als so, daß die Grenze ihrer Geltung
mitaufgestellt wird. Daher schien es am passendsten, sich von da zu
ihnen zu wenden, wo Brechung des Charakters durch Unfähigkeit, die
Erfahrung zu ertragen, zur Sprache kommt, als eine Form derselben
den Wahnsinn aufzuführen und von diesem einen Blick in das Traumleben
des Geistes überhaupt zu thun. Das Schöne wird nun wohl auf
Zusammenhänge geführt werden, wo überhaupt weniger der Charakter
auftritt, als Verhältnisse, menschliche Naturzustände, Familien-Eigenheiten
u. dergl. mehr, und da mag Ahnung, Traum, Idiosynkrasie, Wahnsinn,
geistige Seltsamkeit jeder Art breiter spielen; doch ist die Sache immer
bedenklich: wo Menschen handeln, wird einmal Vernunft erwartet. Diese
dunkeln Abgründe, diese Nachtseiten der Seele können zwar dem ober-
flächlichen Blick deßwegen ästhetischer scheinen, als das Tagleben des
Geistes, weil das Schöne Naturton, also auch Naturdunkel will; aber
es will vielmehr den Geist aus lichtem Mittelpunkte nur in dieß Dunkel
verzitternd, nur eine Perspektive in's Dunkel, wohl eine Dämmerung,
aber einen Tag mit einer Dämmerung. Ahnungen, Träume erfassen in
dunklem Bilde die Zukunft, können aber dem Charakter nicht Motive
werden; dem antiken eher, denn da ist alles Prophetische durch Sitte
und Religion grundsätzlich anerkannt, doch sträubt sich Hektor wie Hagen
gegen Träume und Zeichen des Vogelflugs. Das Ahnungsvolle soll her-
vortreten, aber naturgemäß als die Vorausnahme dessen in einem dunkeln,
bildlichen Schließen der Seele, was dann am hellen Tage sich ausbreitet.
Hellsehen, Schlafwandeln ist schon krankhafte Absonderlichkeit, die eher
komischen, als ernsten Stoff gibt. Wahnsinn nun, dieses habituell
gewordene Träumen im Wachen, dieses zum bleibenden Zustande gewordene
Phantasiren ist als Bruch der schwächeren Naturen, die in ein tragisches
Schicksal hineingerissen werden, wohl ein ästhetisches Schauspiel, wenigstens
so lange Sinn im Unsinn, wie Unsinn im Sinn ist; man erkennt daraus

verfolgen, bleibt das Eine noch hervorzuheben, daß ſeine That ſelbſt
theils durch einen Geiſt, den ſie in ihm aus dem Schlummer aufreißt,
theils durch die Conſequenzen, die ſie fordert, ihn in neue Bahnen reißen
kann. So Macbeth, der durch Königsmord aus einem Ehrenmann zum
Wütherich wird, dann innerlich verkohlt und äußerlich untergeht. Der
Wendepunkt muß aber vorbereitet ſein. Vergl. Rötſcher Cyklus dram.
Charaktere Thl. 1, S. 27.

2. An ſich gehört das ganze Gebiet der Ahnungen, Träume, des
Hellſehens, Wahnſinns zur Anthropologie, alſo für uns eigentlich an den
Anfang der Lehre von der menſchlichen Schönheit, wo wir den Menſchen
aus dem Naturleben erſt in das ſittliche heraufführten. Allein dieſe
Erſcheinungen können weniger, als irgend eine aus dem Naturgebiete des
Geiſtes, anders erwähnt werden, als ſo, daß die Grenze ihrer Geltung
mitaufgeſtellt wird. Daher ſchien es am paſſendſten, ſich von da zu
ihnen zu wenden, wo Brechung des Charakters durch Unfähigkeit, die
Erfahrung zu ertragen, zur Sprache kommt, als eine Form derſelben
den Wahnſinn aufzuführen und von dieſem einen Blick in das Traumleben
des Geiſtes überhaupt zu thun. Das Schöne wird nun wohl auf
Zuſammenhänge geführt werden, wo überhaupt weniger der Charakter
auftritt, als Verhältniſſe, menſchliche Naturzuſtände, Familien-Eigenheiten
u. dergl. mehr, und da mag Ahnung, Traum, Idioſynkraſie, Wahnſinn,
geiſtige Seltſamkeit jeder Art breiter ſpielen; doch iſt die Sache immer
bedenklich: wo Menſchen handeln, wird einmal Vernunft erwartet. Dieſe
dunkeln Abgründe, dieſe Nachtſeiten der Seele können zwar dem ober-
flächlichen Blick deßwegen äſthetiſcher ſcheinen, als das Tagleben des
Geiſtes, weil das Schöne Naturton, alſo auch Naturdunkel will; aber
es will vielmehr den Geiſt aus lichtem Mittelpunkte nur in dieß Dunkel
verzitternd, nur eine Perſpektive in’s Dunkel, wohl eine Dämmerung,
aber einen Tag mit einer Dämmerung. Ahnungen, Träume erfaſſen in
dunklem Bilde die Zukunft, können aber dem Charakter nicht Motive
werden; dem antiken eher, denn da iſt alles Prophetiſche durch Sitte
und Religion grundſätzlich anerkannt, doch ſträubt ſich Hektor wie Hagen
gegen Träume und Zeichen des Vogelflugs. Das Ahnungsvolle ſoll her-
vortreten, aber naturgemäß als die Vorausnahme deſſen in einem dunkeln,
bildlichen Schließen der Seele, was dann am hellen Tage ſich ausbreitet.
Hellſehen, Schlafwandeln iſt ſchon krankhafte Abſonderlichkeit, die eher
komiſchen, als ernſten Stoff gibt. Wahnſinn nun, dieſes habituell
gewordene Träumen im Wachen, dieſes zum bleibenden Zuſtande gewordene
Phantaſiren iſt als Bruch der ſchwächeren Naturen, die in ein tragiſches
Schickſal hineingeriſſen werden, wohl ein äſthetiſches Schauſpiel, wenigſtens
ſo lange Sinn im Unſinn, wie Unſinn im Sinn iſt; man erkennt daraus

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[205/0217] verfolgen, bleibt das Eine noch hervorzuheben, daß ſeine That ſelbſt theils durch einen Geiſt, den ſie in ihm aus dem Schlummer aufreißt, theils durch die Conſequenzen, die ſie fordert, ihn in neue Bahnen reißen kann. So Macbeth, der durch Königsmord aus einem Ehrenmann zum Wütherich wird, dann innerlich verkohlt und äußerlich untergeht. Der Wendepunkt muß aber vorbereitet ſein. Vergl. Rötſcher Cyklus dram. Charaktere Thl. 1, S. 27. 2. An ſich gehört das ganze Gebiet der Ahnungen, Träume, des Hellſehens, Wahnſinns zur Anthropologie, alſo für uns eigentlich an den Anfang der Lehre von der menſchlichen Schönheit, wo wir den Menſchen aus dem Naturleben erſt in das ſittliche heraufführten. Allein dieſe Erſcheinungen können weniger, als irgend eine aus dem Naturgebiete des Geiſtes, anders erwähnt werden, als ſo, daß die Grenze ihrer Geltung mitaufgeſtellt wird. Daher ſchien es am paſſendſten, ſich von da zu ihnen zu wenden, wo Brechung des Charakters durch Unfähigkeit, die Erfahrung zu ertragen, zur Sprache kommt, als eine Form derſelben den Wahnſinn aufzuführen und von dieſem einen Blick in das Traumleben des Geiſtes überhaupt zu thun. Das Schöne wird nun wohl auf Zuſammenhänge geführt werden, wo überhaupt weniger der Charakter auftritt, als Verhältniſſe, menſchliche Naturzuſtände, Familien-Eigenheiten u. dergl. mehr, und da mag Ahnung, Traum, Idioſynkraſie, Wahnſinn, geiſtige Seltſamkeit jeder Art breiter ſpielen; doch iſt die Sache immer bedenklich: wo Menſchen handeln, wird einmal Vernunft erwartet. Dieſe dunkeln Abgründe, dieſe Nachtſeiten der Seele können zwar dem ober- flächlichen Blick deßwegen äſthetiſcher ſcheinen, als das Tagleben des Geiſtes, weil das Schöne Naturton, alſo auch Naturdunkel will; aber es will vielmehr den Geiſt aus lichtem Mittelpunkte nur in dieß Dunkel verzitternd, nur eine Perſpektive in’s Dunkel, wohl eine Dämmerung, aber einen Tag mit einer Dämmerung. Ahnungen, Träume erfaſſen in dunklem Bilde die Zukunft, können aber dem Charakter nicht Motive werden; dem antiken eher, denn da iſt alles Prophetiſche durch Sitte und Religion grundſätzlich anerkannt, doch ſträubt ſich Hektor wie Hagen gegen Träume und Zeichen des Vogelflugs. Das Ahnungsvolle ſoll her- vortreten, aber naturgemäß als die Vorausnahme deſſen in einem dunkeln, bildlichen Schließen der Seele, was dann am hellen Tage ſich ausbreitet. Hellſehen, Schlafwandeln iſt ſchon krankhafte Abſonderlichkeit, die eher komiſchen, als ernſten Stoff gibt. Wahnſinn nun, dieſes habituell gewordene Träumen im Wachen, dieſes zum bleibenden Zuſtande gewordene Phantaſiren iſt als Bruch der ſchwächeren Naturen, die in ein tragiſches Schickſal hineingeriſſen werden, wohl ein äſthetiſches Schauſpiel, wenigſtens ſo lange Sinn im Unſinn, wie Unſinn im Sinn iſt; man erkennt daraus

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/217>, abgerufen am 23.11.2024.