Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

3. Vergleicht man die Völker des Orients unter sich, so erscheinen
freilich die Perser neben den Indiern, die Semiten neben beiden, die
Aegyptier neben den Babyloniern, die Juden neben allen übrigen Semiten
als mehr ethische Nationen, neben den Griechen und Römern aber alle
insgesammt als Völker, denen das thätige Prinzip des Fortschritts fehlt,
unter der Sonnengluth gleichsam niederschmilzt, die man daher streng
genommen noch nicht ethisch nennen kann. Vieles wird für gut oder
schlecht erklärt, was nicht sittliche Bedeutung hat, das Gute ist erst
natürlich Gutes. Sich Waschen, Pflege der Pflanzen u. s. w. ist gut,
eine Katze Tödten Verbrechen u. s. w. Neben den schönsten Zügen in
Sitte und Gesetz beengt daher durchgängig das Abgeschmackte den Menschen;
überall ersticken die reichsten sittlichen Bestimmungen unter der Last des
rein Aeußerlichen, das doch als sittlich-religiöse Pflicht gefordert wird.
Das wahrhaft Gute aber ist die Durchführung der Freiheit. Gut sein
ist nicht correct sein, sondern Fortschreiten. Der Türke, in Handel und
Wandel ehrlich, verachtet tief den Neugriechen wegen seiner Falschheit
und Betrügerei; allein jener ist dumpf und stabil, dieser elastisch und
fortschreitend, das Verhältniß ist ähnlich wie das der alten Griechen zu
den Persern und kein Zweifel, wo die eigentliche Sittlichkeit sei.

§. 344.

1

Die meist massenhaften Reiche sind despotisch und, da die Sphären des
Lebens noch ungeschieden sind, theokratisch. Gesetz und Sitte herrscht als
ungeprüfte Naturnothwendigkeit. Gebunden ist Alles, in Satzung jede Lebens-
2regung gebannt. Die Stände scheiden sich, versteinern aber zu Kasten. Das
Individuum und sein Lebenskreis in Liebe, Ehe, Familie entfaltet Züge
rührender sittlicher Schönheit, bleibt aber ein unfreier Schatten, in dessen
Schicksal jedoch gerade durch die Laune der gebietenden Mächte Buntheit
3kommt. Große Männer ragen hervor und bestimmen für immer die Form des
Volkslebens, da aber diese stets die subjective Freiheit ausschließt, so ist der
Staat eine unbewegliche, prachtvoll brütende Einheit. Aus seiner Ruhe geht
er zwar in Aufruhr und Eroberung über, aber diese Bewegung ist unfruchtbar,
sie schafft keinen Fortschritt und führt zu passivem Untergang.

1. Im Orient ist Alles una pasta, Ein Teig. Hier ist der Despot
wirklich von Gottes Gnaden, aber er ist selbst wesentlich durch die Priester
eingeschränkt. Theokratie und Despotie fallen zusammen, wiewohl es
freilich auch nicht an Reibungen zwischen Priestern und Königen fehlt.
Prachtvolle Erhabenheit ist der ästhetische Charakter dieser massenhaften
Staaten; ein Feuerball glüht und leuchtet über bunten, starren Krystallen.

3. Vergleicht man die Völker des Orients unter ſich, ſo erſcheinen
freilich die Perſer neben den Indiern, die Semiten neben beiden, die
Aegyptier neben den Babyloniern, die Juden neben allen übrigen Semiten
als mehr ethiſche Nationen, neben den Griechen und Römern aber alle
insgeſammt als Völker, denen das thätige Prinzip des Fortſchritts fehlt,
unter der Sonnengluth gleichſam niederſchmilzt, die man daher ſtreng
genommen noch nicht ethiſch nennen kann. Vieles wird für gut oder
ſchlecht erklärt, was nicht ſittliche Bedeutung hat, das Gute iſt erſt
natürlich Gutes. Sich Waſchen, Pflege der Pflanzen u. ſ. w. iſt gut,
eine Katze Tödten Verbrechen u. ſ. w. Neben den ſchönſten Zügen in
Sitte und Geſetz beengt daher durchgängig das Abgeſchmackte den Menſchen;
überall erſticken die reichſten ſittlichen Beſtimmungen unter der Laſt des
rein Aeußerlichen, das doch als ſittlich-religiöſe Pflicht gefordert wird.
Das wahrhaft Gute aber iſt die Durchführung der Freiheit. Gut ſein
iſt nicht correct ſein, ſondern Fortſchreiten. Der Türke, in Handel und
Wandel ehrlich, verachtet tief den Neugriechen wegen ſeiner Falſchheit
und Betrügerei; allein jener iſt dumpf und ſtabil, dieſer elaſtiſch und
fortſchreitend, das Verhältniß iſt ähnlich wie das der alten Griechen zu
den Perſern und kein Zweifel, wo die eigentliche Sittlichkeit ſei.

§. 344.

1

Die meiſt maſſenhaften Reiche ſind deſpotiſch und, da die Sphären des
Lebens noch ungeſchieden ſind, theokratiſch. Geſetz und Sitte herrſcht als
ungeprüfte Naturnothwendigkeit. Gebunden iſt Alles, in Satzung jede Lebens-
2regung gebannt. Die Stände ſcheiden ſich, verſteinern aber zu Kaſten. Das
Individuum und ſein Lebenskreis in Liebe, Ehe, Familie entfaltet Züge
rührender ſittlicher Schönheit, bleibt aber ein unfreier Schatten, in deſſen
Schickſal jedoch gerade durch die Laune der gebietenden Mächte Buntheit
3kommt. Große Männer ragen hervor und beſtimmen für immer die Form des
Volkslebens, da aber dieſe ſtets die ſubjective Freiheit ausſchließt, ſo iſt der
Staat eine unbewegliche, prachtvoll brütende Einheit. Aus ſeiner Ruhe geht
er zwar in Aufruhr und Eroberung über, aber dieſe Bewegung iſt unfruchtbar,
ſie ſchafft keinen Fortſchritt und führt zu paſſivem Untergang.

1. Im Orient iſt Alles una pasta, Ein Teig. Hier iſt der Deſpot
wirklich von Gottes Gnaden, aber er iſt ſelbſt weſentlich durch die Prieſter
eingeſchränkt. Theokratie und Deſpotie fallen zuſammen, wiewohl es
freilich auch nicht an Reibungen zwiſchen Prieſtern und Königen fehlt.
Prachtvolle Erhabenheit iſt der äſthetiſche Charakter dieſer maſſenhaften
Staaten; ein Feuerball glüht und leuchtet über bunten, ſtarren Kryſtallen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <pb facs="#f0238" n="226"/>
                    <p> <hi rendition="#et">3. Vergleicht man die Völker des Orients unter &#x017F;ich, &#x017F;o er&#x017F;cheinen<lb/>
freilich die Per&#x017F;er neben den Indiern, die Semiten neben beiden, die<lb/>
Aegyptier neben den Babyloniern, die Juden neben allen übrigen Semiten<lb/>
als mehr ethi&#x017F;che Nationen, neben den Griechen und Römern aber alle<lb/>
insge&#x017F;ammt als Völker, denen das thätige Prinzip des Fort&#x017F;chritts fehlt,<lb/>
unter der Sonnengluth gleich&#x017F;am nieder&#x017F;chmilzt, die man daher &#x017F;treng<lb/>
genommen noch nicht ethi&#x017F;ch nennen kann. Vieles wird für gut oder<lb/>
&#x017F;chlecht erklärt, was nicht &#x017F;ittliche Bedeutung hat, das Gute i&#x017F;t er&#x017F;t<lb/>
natürlich Gutes. Sich Wa&#x017F;chen, Pflege der Pflanzen u. &#x017F;. w. i&#x017F;t gut,<lb/>
eine Katze Tödten Verbrechen u. &#x017F;. w. Neben den &#x017F;chön&#x017F;ten Zügen in<lb/>
Sitte und Ge&#x017F;etz beengt daher durchgängig das Abge&#x017F;chmackte den Men&#x017F;chen;<lb/>
überall er&#x017F;ticken die reich&#x017F;ten &#x017F;ittlichen Be&#x017F;timmungen unter der La&#x017F;t des<lb/>
rein Aeußerlichen, das doch als &#x017F;ittlich-religiö&#x017F;e Pflicht gefordert wird.<lb/>
Das wahrhaft Gute aber i&#x017F;t die Durchführung der Freiheit. Gut &#x017F;ein<lb/>
i&#x017F;t nicht correct &#x017F;ein, &#x017F;ondern Fort&#x017F;chreiten. Der Türke, in Handel und<lb/>
Wandel ehrlich, verachtet tief den Neugriechen wegen &#x017F;einer Fal&#x017F;chheit<lb/>
und Betrügerei; allein jener i&#x017F;t dumpf und &#x017F;tabil, die&#x017F;er ela&#x017F;ti&#x017F;ch und<lb/>
fort&#x017F;chreitend, das Verhältniß i&#x017F;t ähnlich wie das der alten Griechen zu<lb/>
den Per&#x017F;ern und kein Zweifel, wo die eigentliche Sittlichkeit &#x017F;ei.</hi> </p>
                  </div><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>§. 344.</head><lb/>
                    <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note>
                    <p> <hi rendition="#fr">Die mei&#x017F;t ma&#x017F;&#x017F;enhaften Reiche &#x017F;ind de&#x017F;poti&#x017F;ch und, da die Sphären des<lb/>
Lebens noch unge&#x017F;chieden &#x017F;ind, theokrati&#x017F;ch. Ge&#x017F;etz und Sitte herr&#x017F;cht als<lb/>
ungeprüfte Naturnothwendigkeit. Gebunden i&#x017F;t Alles, in Satzung jede Lebens-<lb/><note place="left">2</note>regung gebannt. Die Stände &#x017F;cheiden &#x017F;ich, ver&#x017F;teinern aber zu Ka&#x017F;ten. Das<lb/>
Individuum und &#x017F;ein Lebenskreis in Liebe, Ehe, Familie entfaltet Züge<lb/>
rührender &#x017F;ittlicher Schönheit, bleibt aber ein unfreier Schatten, in de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Schick&#x017F;al jedoch gerade durch die Laune der gebietenden Mächte Buntheit<lb/><note place="left">3</note>kommt. Große Männer ragen hervor und be&#x017F;timmen für immer die Form des<lb/>
Volkslebens, da aber die&#x017F;e &#x017F;tets die &#x017F;ubjective Freiheit aus&#x017F;chließt, &#x017F;o i&#x017F;t der<lb/>
Staat eine unbewegliche, prachtvoll brütende Einheit. Aus &#x017F;einer Ruhe geht<lb/>
er zwar in Aufruhr und Eroberung über, aber die&#x017F;e Bewegung i&#x017F;t unfruchtbar,<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;chafft keinen Fort&#x017F;chritt und führt zu pa&#x017F;&#x017F;ivem Untergang.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">1. Im Orient i&#x017F;t Alles <hi rendition="#aq">una pasta,</hi> Ein Teig. Hier i&#x017F;t der De&#x017F;pot<lb/>
wirklich von Gottes Gnaden, aber er i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t we&#x017F;entlich durch die Prie&#x017F;ter<lb/>
einge&#x017F;chränkt. Theokratie und De&#x017F;potie fallen zu&#x017F;ammen, wiewohl es<lb/>
freilich auch nicht an Reibungen zwi&#x017F;chen Prie&#x017F;tern und Königen fehlt.<lb/>
Prachtvolle Erhabenheit i&#x017F;t der ä&#x017F;theti&#x017F;che Charakter die&#x017F;er ma&#x017F;&#x017F;enhaften<lb/>
Staaten; ein Feuerball glüht und leuchtet über bunten, &#x017F;tarren Kry&#x017F;tallen.<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[226/0238] 3. Vergleicht man die Völker des Orients unter ſich, ſo erſcheinen freilich die Perſer neben den Indiern, die Semiten neben beiden, die Aegyptier neben den Babyloniern, die Juden neben allen übrigen Semiten als mehr ethiſche Nationen, neben den Griechen und Römern aber alle insgeſammt als Völker, denen das thätige Prinzip des Fortſchritts fehlt, unter der Sonnengluth gleichſam niederſchmilzt, die man daher ſtreng genommen noch nicht ethiſch nennen kann. Vieles wird für gut oder ſchlecht erklärt, was nicht ſittliche Bedeutung hat, das Gute iſt erſt natürlich Gutes. Sich Waſchen, Pflege der Pflanzen u. ſ. w. iſt gut, eine Katze Tödten Verbrechen u. ſ. w. Neben den ſchönſten Zügen in Sitte und Geſetz beengt daher durchgängig das Abgeſchmackte den Menſchen; überall erſticken die reichſten ſittlichen Beſtimmungen unter der Laſt des rein Aeußerlichen, das doch als ſittlich-religiöſe Pflicht gefordert wird. Das wahrhaft Gute aber iſt die Durchführung der Freiheit. Gut ſein iſt nicht correct ſein, ſondern Fortſchreiten. Der Türke, in Handel und Wandel ehrlich, verachtet tief den Neugriechen wegen ſeiner Falſchheit und Betrügerei; allein jener iſt dumpf und ſtabil, dieſer elaſtiſch und fortſchreitend, das Verhältniß iſt ähnlich wie das der alten Griechen zu den Perſern und kein Zweifel, wo die eigentliche Sittlichkeit ſei. §. 344. Die meiſt maſſenhaften Reiche ſind deſpotiſch und, da die Sphären des Lebens noch ungeſchieden ſind, theokratiſch. Geſetz und Sitte herrſcht als ungeprüfte Naturnothwendigkeit. Gebunden iſt Alles, in Satzung jede Lebens- regung gebannt. Die Stände ſcheiden ſich, verſteinern aber zu Kaſten. Das Individuum und ſein Lebenskreis in Liebe, Ehe, Familie entfaltet Züge rührender ſittlicher Schönheit, bleibt aber ein unfreier Schatten, in deſſen Schickſal jedoch gerade durch die Laune der gebietenden Mächte Buntheit kommt. Große Männer ragen hervor und beſtimmen für immer die Form des Volkslebens, da aber dieſe ſtets die ſubjective Freiheit ausſchließt, ſo iſt der Staat eine unbewegliche, prachtvoll brütende Einheit. Aus ſeiner Ruhe geht er zwar in Aufruhr und Eroberung über, aber dieſe Bewegung iſt unfruchtbar, ſie ſchafft keinen Fortſchritt und führt zu paſſivem Untergang. 1. Im Orient iſt Alles una pasta, Ein Teig. Hier iſt der Deſpot wirklich von Gottes Gnaden, aber er iſt ſelbſt weſentlich durch die Prieſter eingeſchränkt. Theokratie und Deſpotie fallen zuſammen, wiewohl es freilich auch nicht an Reibungen zwiſchen Prieſtern und Königen fehlt. Prachtvolle Erhabenheit iſt der äſthetiſche Charakter dieſer maſſenhaften Staaten; ein Feuerball glüht und leuchtet über bunten, ſtarren Kryſtallen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/238
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/238>, abgerufen am 27.11.2024.