Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Die Kastenscheidung ist bekanntlich am strengsten in Indien, ein absolutes 2. Der orientalische Staat ist überhaupt noch nicht völlig aus dem 3. Die großen Männer des Orients, die Gesetzgeber, die Propheten, 15*
Die Kaſtenſcheidung iſt bekanntlich am ſtrengſten in Indien, ein abſolutes 2. Der orientaliſche Staat iſt überhaupt noch nicht völlig aus dem 3. Die großen Männer des Orients, die Geſetzgeber, die Propheten, 15*
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Die Kaſtenſcheidung iſt bekanntlich am ſtrengſten in Indien, ein abſolutes
Naturgeſetz und hierin die Bannung alles Lebens, die den Orient bezeichnet,
auf’s Schärfſte ausgeſprochen. So naturlos, wie durch die moderne
Theilung des Geſchäfts, werden dadurch die Stände zwar nicht, eben
weil die Scheidung ſelbſt Naturgeſetz iſt, aber freie Humanität und ihr
Ausdruck iſt unmöglich.
2. Der orientaliſche Staat iſt überhaupt noch nicht völlig aus dem
patriarchaliſchen herausgetreten, an ſchönen idylliſchen Zügen fehlt es
daher im engeren Kreiſe des Individuums nirgends. Liebe, Ehe, Familie
erſcheint innig und rührend. Man denke nur an die Geſchichte der jüdiſchen
Erzväter, Buch Nuth, an die Sakontala, Nal und Damajanti, die perſiſchen
Familiengeſchichten — überall eine Fundgrube lieblicher Stoffe, freundlicher
Scenen in reiner Luft des Morgenlands, im ſchattigen Haine, am Brunnen,
beim Nomadenzelte. Die Polygamie iſt freilich gegen das Weſen der
Ehe, doch ſchneidet ſie nicht alle zarteren Züge ab, die Eingeſchloſſenheit
der Weiber gibt bei allem Nachtheil manchen geheimnißvollen Reiz, Intrike
und Züge von Schalkheit. Zu geſchloſſener Perſönlichkeit aber bringt es
das Individuum nicht. Was von Naturvölkern und von Culturvölkern,
deren Bildung Natur bleibt, überhaupt gilt, das gilt beſonders von den
Orientalen: die Individuen haben wenig Unterſchied, ſehen ſich auch im
äußern Typus überraſchend gleich, unterſcheiden ſich mehr nach Tempera-
mentsſphären, als durch den auf unendliche Eigenheit begründeten Charakter.
So ſchafft ſich auch das Individuum nicht ſein Schickſal; bannende Sitte,
Geſetz, Prieſterwille und Deſpotenlaune ſchmettern nieder oder beglücken die
Menſchen ungezählt zu Tauſenden; der Einzelne wiegt nicht. Er iſt aber
nicht unzufrieden, denn er ſieht ſeine Freiheit im Herrſcher, in den bevor-
zugten Kaſten. Sein Wille kommt als fremder über ihn, völlig unfrei
zu ſein iſt die erſte und kindliche Art der Freiheit. Es tritt aber doch
dadurch wieder ein äſthetiſcher Reiz in das Leben des Einzelnen, den
das gute Glück jetzt erhöht, mit Wolluſt und Zauber der Anmuth über-
ſchüttet, jetzt das böſe mit der ſeidenen Schnur überraſcht. Da liegt das
Mährchenhafte nahe; in dieſer willenloſen Schickſalslaune hat das Buch
Tauſend und eine Nacht ſeine Region. Zu erwähnen iſt noch, daß in
dieſer orientaliſchen Form des Geiſtes nothwendig der Traum und die
Zuſtände des wachen Traumes, Ahnung, Viſion, Hellſehen (§. 337) eine
große Rolle ſpielen. Dieß iſt zwar auch bei den Griechen und Römern
noch der Fall, aber dieſes Reich des Außerſichſeins iſt hier von der freien
Menſchlichkeit überdeckt, es ſchickt ſeine Dämpfe noch aus dem Abgrund,
aber ſie ſpielen als leichtere Wolken am Tageslichte der Beſinnung.
3. Die großen Männer des Orients, die Geſetzgeber, die Propheten,
die Helden ſind Urgeſtalten von gewaltiger Erhabenheit, gehören zu den
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