Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Geschichte, groß und drastisch, wie sie überall ist, besitzt, hat freilich in
Geſchichte, groß und draſtiſch, wie ſie überall iſt, beſitzt, hat freilich in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0257" n="245"/> Geſchichte, groß und draſtiſch, wie ſie überall iſt, beſitzt, hat freilich in<lb/> ſeinem Coriolan das Volk falſch behandelt. Dem Kaiſerreich gehen nun<lb/> die blutigen Bürgerkriege, die großen Dictatoren-Naturen im Kampfe mit<lb/> den letzten edlen Republikanern voran, während nach außen das furchtbare<lb/> Rad des Staates Ein Volk um’s Andere unerbittlich in ſeine Speichen<lb/> hereinzieht und zermalmt. Marius, Sulla, Pompejus, Cäſar, Brutus<lb/> und Caſſius, Antonius: Erſcheinungen von rieſenhafter Größe, tragiſchem<lb/> Adel, glänzender Pracht, ein Würfelſpiel um die Welt, ein Kampf von<lb/> Coloſſen, blutige Proſcriptionen, worin ein Menſchenleben eine Null iſt,<lb/> Weltſchlachten wie bei Pharſalus, Philippi, Actium. Im Kaiſerreich nun,<lb/> in dieſer ungeheuern Auflöſung des ſittlichen Lebens treten auf dem Throne<lb/> die Ungeheuer der Geſchichte, die ſittlichen Scheuſale auf, die entarteten<lb/> Weiber, eine Meſſalina, eine Agrippina an ihrer Seite. Dieſe Geſtalt<lb/> des Böſen iſt erſt in der Entfeſſelung des objectiven Bandes, das die<lb/> antike Welt zuſammenhält, möglich, und doch iſt ſie noch wohl zu unter-<lb/> ſcheiden von dem modernen Böſen. Sie hat noch den Charakter einer<lb/> ungeheuern Naturkraft, ſie hat kein Gewiſſen, ſie iſt ſelbſt naiv, die<lb/> Macht über eine Welt gibt ihr eine fürchterliche Realität, es fehlt ihr bei<lb/> aller Beſchönigung und Liſt noch das ſubjectiv Zerfreſſene und Zerfreſſende,<lb/> die geſpenſtiſche Romantik des innerer Schönthuns. Edel und glänzend<lb/> treten dann ſegensreiche Herrſcher, ein Veſpaſian, Titus, Trajan, Hadrian,<lb/> Antonin, Marc. Aurelius auf: iſolirte Trefflichkeiten, groß für ſich, aber<lb/> auf hohlem Grunde. Die Helden geſunder und freier Völker ſind ganz<lb/> andere äſthetiſche Stoffe, als die zufälligen Tugenden der Fürſten ohne<lb/> Volk. In der ſchmerzbelaſteten Welt ſucht der freie Geiſt ein Aſyl in<lb/> ſeiner innern Unendlichkeit, ſtoiſcher Tod und Selbſtmord zeigt an, daß<lb/> die ſubjective abſtracte Freiheit nun an der Zeit iſt. Aber auch dieſe<lb/> Erſcheinungen ſind von moderner Subjectivität noch wohl zu unterſcheiden;<lb/> ſie haben noch nicht dieſe Innerlichkeit, die Zurückziehung auf das Sub-<lb/> jective ſelbſt hat noch objectiven Charakter, claſſiſche, unreflectirte Einfach-<lb/> heit, gediegenen Guß der Nothwendigkeit. Daneben breitet ſich maßloſe<lb/> Pracht und Wolluſt aus, die Liebe wird ſubjectiver, raffinirter, ohne<lb/> ſich noch zur Gemüthstiefe auszubilden, zum griechiſchen Luxus kommt der<lb/> aſiatiſche, alle Reize der Sinnlichkeit werden durchwühlt, um zu erfahren,<lb/> daß im Genuſſe kein Letztes, kein Kern iſt, die Formen und Religionen<lb/> aller Völker vermiſchen ſich, die compacte Gewißheit des Volksglaubens<lb/> iſt daher zu Ende; Zauberei nimmt geſpenſtiſch überhand, der Geiſt iſt<lb/> heimathlos. — Die lange Verweſung des byzantiniſchen Reichs iſt zu<lb/> häßlich, um tüchtige Stoffe zu geben.</hi> </p> </div> </div> </div><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [245/0257]
Geſchichte, groß und draſtiſch, wie ſie überall iſt, beſitzt, hat freilich in
ſeinem Coriolan das Volk falſch behandelt. Dem Kaiſerreich gehen nun
die blutigen Bürgerkriege, die großen Dictatoren-Naturen im Kampfe mit
den letzten edlen Republikanern voran, während nach außen das furchtbare
Rad des Staates Ein Volk um’s Andere unerbittlich in ſeine Speichen
hereinzieht und zermalmt. Marius, Sulla, Pompejus, Cäſar, Brutus
und Caſſius, Antonius: Erſcheinungen von rieſenhafter Größe, tragiſchem
Adel, glänzender Pracht, ein Würfelſpiel um die Welt, ein Kampf von
Coloſſen, blutige Proſcriptionen, worin ein Menſchenleben eine Null iſt,
Weltſchlachten wie bei Pharſalus, Philippi, Actium. Im Kaiſerreich nun,
in dieſer ungeheuern Auflöſung des ſittlichen Lebens treten auf dem Throne
die Ungeheuer der Geſchichte, die ſittlichen Scheuſale auf, die entarteten
Weiber, eine Meſſalina, eine Agrippina an ihrer Seite. Dieſe Geſtalt
des Böſen iſt erſt in der Entfeſſelung des objectiven Bandes, das die
antike Welt zuſammenhält, möglich, und doch iſt ſie noch wohl zu unter-
ſcheiden von dem modernen Böſen. Sie hat noch den Charakter einer
ungeheuern Naturkraft, ſie hat kein Gewiſſen, ſie iſt ſelbſt naiv, die
Macht über eine Welt gibt ihr eine fürchterliche Realität, es fehlt ihr bei
aller Beſchönigung und Liſt noch das ſubjectiv Zerfreſſene und Zerfreſſende,
die geſpenſtiſche Romantik des innerer Schönthuns. Edel und glänzend
treten dann ſegensreiche Herrſcher, ein Veſpaſian, Titus, Trajan, Hadrian,
Antonin, Marc. Aurelius auf: iſolirte Trefflichkeiten, groß für ſich, aber
auf hohlem Grunde. Die Helden geſunder und freier Völker ſind ganz
andere äſthetiſche Stoffe, als die zufälligen Tugenden der Fürſten ohne
Volk. In der ſchmerzbelaſteten Welt ſucht der freie Geiſt ein Aſyl in
ſeiner innern Unendlichkeit, ſtoiſcher Tod und Selbſtmord zeigt an, daß
die ſubjective abſtracte Freiheit nun an der Zeit iſt. Aber auch dieſe
Erſcheinungen ſind von moderner Subjectivität noch wohl zu unterſcheiden;
ſie haben noch nicht dieſe Innerlichkeit, die Zurückziehung auf das Sub-
jective ſelbſt hat noch objectiven Charakter, claſſiſche, unreflectirte Einfach-
heit, gediegenen Guß der Nothwendigkeit. Daneben breitet ſich maßloſe
Pracht und Wolluſt aus, die Liebe wird ſubjectiver, raffinirter, ohne
ſich noch zur Gemüthstiefe auszubilden, zum griechiſchen Luxus kommt der
aſiatiſche, alle Reize der Sinnlichkeit werden durchwühlt, um zu erfahren,
daß im Genuſſe kein Letztes, kein Kern iſt, die Formen und Religionen
aller Völker vermiſchen ſich, die compacte Gewißheit des Volksglaubens
iſt daher zu Ende; Zauberei nimmt geſpenſtiſch überhand, der Geiſt iſt
heimathlos. — Die lange Verweſung des byzantiniſchen Reichs iſt zu
häßlich, um tüchtige Stoffe zu geben.
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