Wesen über eine Wehre gehe, diese Negativität der Ueberwindung und Aneignung des ganz Fremden in sich aufnehme. Griechen und Römer dehnten ihre Macht langsam aus und ebenso langsam reifte ihre rein volksmäßige Bildung. Diese war schon an sich entschieden müheloser, vergleichungsweise selbst bei den Römern, als bei den Deutschen. An- stand, Grazie, Fluß und Maaß, Beweglichkeit und Geschicklichkeit, Gelenkigkeit und Biegsamkeit lag hier schon in der Race. Wie noch heute der deutsche Rekrut in vier Wochen kaum die Handgriffe lernt, die der Italiener in vier Tagen weg hat, so sollte alle deutsche Bildung einer rohen Natur erst abgerungen werden. Griechen und Römer nahmen fremde Formen aus Luxus auf am Schlusse ihrer Zeit, ihrer Welter- oberung; wohl auch in den frühen Anfängen ihrer Bildung verwandeln sie fremde Formen in ihr Eigenthum, aber Formen, die, an sich unreif, gerade auf Fortbildung warten, wie die orientalisch unfreien in Griechen- land. Die Deutschen dagegen treten, wie sie ihre Urwälder verlassen, alsbald als Eroberer der Welt auf und finden hier die überreife Bildung vor, welche, eine Frucht der objectiven Lebensform südlicher Völker, ihrem nordischen Naturell völlig fremdartig ist.
2. Das Christenthum wird hier noch nicht nach seinem inneren Kreise von Vorstellungen, sondern nur erst ganz allgemein nach seinem Prinzip und als geschichtliche vom Orient nach Rom, wo es die Gothen antreffen, verpflanzte Erscheinung aufgeführt. Es kam nun freilich dem innerlichen Wesen, der Anlage zur Idealität in der deutschen Natur, als etwas Verwandtes entgegen; dieß ist aber nur die Eine Seite, die andere, daß es auch für sie einen unendlichen Bruch mit den auf Heiden- thum begründeten Naturzuständen mit sich führte, ist ebenso wesentlich. Da sollte nicht mehr die Rache ihren fürchterlichen Gang gehen, nicht mehr das Greifliche und Große, sondern das Unsinnliche und was sich selbst erniedrigt, gelten. Und dabei ziehen wir noch Alles ab, was dem Prinzip Jüdisches, Indisches, Griechisches, Römisches, und so zwar sinnlich Verständlicheres, aber einer fremdartigen Sinnlichkeit Entsprossenes sich angehängt hatte. Sogleich aber mußte erwähnt werden, daß durch die Negativität, die im Christenthum und ebenso im deutschen Naturell liegt, eine Bürgschaft des sittlichen Lebens und daher der geschichtlichen Dauer- haftigkeit gegeben war, wie sie das Alterthum nicht kannte (vergl. §. 351).
3. Wie sich die in Anm. 1 erwähnten Urformen brachen, zeigt nichts besser, als die eigene Heldensage der Deutschen. Sie hatten in ihr einen gewaltigen Stoff, aber er verschob sich durch den Wirrwarr der Völkerwanderung und dann durch die Eintragung der Formen des Ritterlebens in die des Reckenlebens, verlor seine Compactheit, Ueber-
Weſen über eine Wehre gehe, dieſe Negativität der Ueberwindung und Aneignung des ganz Fremden in ſich aufnehme. Griechen und Römer dehnten ihre Macht langſam aus und ebenſo langſam reifte ihre rein volksmäßige Bildung. Dieſe war ſchon an ſich entſchieden müheloſer, vergleichungsweiſe ſelbſt bei den Römern, als bei den Deutſchen. An- ſtand, Grazie, Fluß und Maaß, Beweglichkeit und Geſchicklichkeit, Gelenkigkeit und Biegſamkeit lag hier ſchon in der Race. Wie noch heute der deutſche Rekrut in vier Wochen kaum die Handgriffe lernt, die der Italiener in vier Tagen weg hat, ſo ſollte alle deutſche Bildung einer rohen Natur erſt abgerungen werden. Griechen und Römer nahmen fremde Formen aus Luxus auf am Schluſſe ihrer Zeit, ihrer Welter- oberung; wohl auch in den frühen Anfängen ihrer Bildung verwandeln ſie fremde Formen in ihr Eigenthum, aber Formen, die, an ſich unreif, gerade auf Fortbildung warten, wie die orientaliſch unfreien in Griechen- land. Die Deutſchen dagegen treten, wie ſie ihre Urwälder verlaſſen, alsbald als Eroberer der Welt auf und finden hier die überreife Bildung vor, welche, eine Frucht der objectiven Lebensform ſüdlicher Völker, ihrem nordiſchen Naturell völlig fremdartig iſt.
2. Das Chriſtenthum wird hier noch nicht nach ſeinem inneren Kreiſe von Vorſtellungen, ſondern nur erſt ganz allgemein nach ſeinem Prinzip und als geſchichtliche vom Orient nach Rom, wo es die Gothen antreffen, verpflanzte Erſcheinung aufgeführt. Es kam nun freilich dem innerlichen Weſen, der Anlage zur Idealität in der deutſchen Natur, als etwas Verwandtes entgegen; dieß iſt aber nur die Eine Seite, die andere, daß es auch für ſie einen unendlichen Bruch mit den auf Heiden- thum begründeten Naturzuſtänden mit ſich führte, iſt ebenſo weſentlich. Da ſollte nicht mehr die Rache ihren fürchterlichen Gang gehen, nicht mehr das Greifliche und Große, ſondern das Unſinnliche und was ſich ſelbſt erniedrigt, gelten. Und dabei ziehen wir noch Alles ab, was dem Prinzip Jüdiſches, Indiſches, Griechiſches, Römiſches, und ſo zwar ſinnlich Verſtändlicheres, aber einer fremdartigen Sinnlichkeit Entſproſſenes ſich angehängt hatte. Sogleich aber mußte erwähnt werden, daß durch die Negativität, die im Chriſtenthum und ebenſo im deutſchen Naturell liegt, eine Bürgſchaft des ſittlichen Lebens und daher der geſchichtlichen Dauer- haftigkeit gegeben war, wie ſie das Alterthum nicht kannte (vergl. §. 351).
3. Wie ſich die in Anm. 1 erwähnten Urformen brachen, zeigt nichts beſſer, als die eigene Heldenſage der Deutſchen. Sie hatten in ihr einen gewaltigen Stoff, aber er verſchob ſich durch den Wirrwarr der Völkerwanderung und dann durch die Eintragung der Formen des Ritterlebens in die des Reckenlebens, verlor ſeine Compactheit, Ueber-
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Weſen über eine Wehre gehe, dieſe Negativität der Ueberwindung und
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dehnten ihre Macht langſam aus und ebenſo langſam reifte ihre rein
volksmäßige Bildung. Dieſe war ſchon an ſich entſchieden müheloſer,
vergleichungsweiſe ſelbſt bei den Römern, als bei den Deutſchen. An-
ſtand, Grazie, Fluß und Maaß, Beweglichkeit und Geſchicklichkeit,
Gelenkigkeit und Biegſamkeit lag hier ſchon in der Race. Wie noch
heute der deutſche Rekrut in vier Wochen kaum die Handgriffe lernt, die
der Italiener in vier Tagen weg hat, ſo ſollte alle deutſche Bildung
einer rohen Natur erſt abgerungen werden. Griechen und Römer nahmen
fremde Formen aus Luxus auf am Schluſſe ihrer Zeit, ihrer Welter-
oberung; wohl auch in den frühen Anfängen ihrer Bildung verwandeln
ſie fremde Formen in ihr Eigenthum, aber Formen, die, an ſich unreif,
gerade auf Fortbildung warten, wie die orientaliſch unfreien in Griechen-
land. Die Deutſchen dagegen treten, wie ſie ihre Urwälder verlaſſen,
alsbald als Eroberer der Welt auf und finden hier die überreife Bildung
vor, welche, eine Frucht der objectiven Lebensform ſüdlicher Völker, ihrem
nordiſchen Naturell völlig fremdartig iſt.
2. Das Chriſtenthum wird hier noch nicht nach ſeinem inneren
Kreiſe von Vorſtellungen, ſondern nur erſt ganz allgemein nach ſeinem
Prinzip und als geſchichtliche vom Orient nach Rom, wo es die Gothen
antreffen, verpflanzte Erſcheinung aufgeführt. Es kam nun freilich dem
innerlichen Weſen, der Anlage zur Idealität in der deutſchen Natur,
als etwas Verwandtes entgegen; dieß iſt aber nur die Eine Seite, die
andere, daß es auch für ſie einen unendlichen Bruch mit den auf Heiden-
thum begründeten Naturzuſtänden mit ſich führte, iſt ebenſo weſentlich.
Da ſollte nicht mehr die Rache ihren fürchterlichen Gang gehen, nicht
mehr das Greifliche und Große, ſondern das Unſinnliche und was ſich
ſelbſt erniedrigt, gelten. Und dabei ziehen wir noch Alles ab, was dem
Prinzip Jüdiſches, Indiſches, Griechiſches, Römiſches, und ſo zwar ſinnlich
Verſtändlicheres, aber einer fremdartigen Sinnlichkeit Entſproſſenes ſich
angehängt hatte. Sogleich aber mußte erwähnt werden, daß durch die
Negativität, die im Chriſtenthum und ebenſo im deutſchen Naturell liegt,
eine Bürgſchaft des ſittlichen Lebens und daher der geſchichtlichen Dauer-
haftigkeit gegeben war, wie ſie das Alterthum nicht kannte (vergl. §. 351).
3. Wie ſich die in Anm. 1 erwähnten Urformen brachen, zeigt
nichts beſſer, als die eigene Heldenſage der Deutſchen. Sie hatten in
ihr einen gewaltigen Stoff, aber er verſchob ſich durch den Wirrwarr
der Völkerwanderung und dann durch die Eintragung der Formen des
Ritterlebens in die des Reckenlebens, verlor ſeine Compactheit, Ueber-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/262>, abgerufen am 16.07.2024.
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