Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

Mittelalter in seinem eigentlichen Wesen eingetreten. Mit dieser That
ist das harte Herz der nordischen Menschheit erweicht, das Innige und
Mystische, das ursprünglich in der germanischen Natur liegt, entbunden
und insbesondere die Seite des Lebens, worin diese Epoche im strengsten
Gegensatze gegen das gesammte Alterthum steht, das Verhältniß zum
Weibe, die Ehe, die Familie entwickelt sich zur Schönheit. Achtung des
Weibes war von jeher den Germanen eigen; nun, da die Naturrohheit
im Innersten (wiewohl ohne wahre Durchführung des neuen Lebens durch
das Ganze der Persönlichkeit) gebrochen ist, da die innere Unendlichkeit
aufblüht, duftet auch die Liebe. Der sociale Ausdruck des Bewußtseins
der Unendlichkeit ist die Ehre; es ist die Wachsamkeit des Einzelnen, daß
er den unendlichen Werth der Person, den er in sich fühlt, nicht beschmutze,
daß er nur für die Kirche, die Frauen, die Unschuld fechte, durch Milde,
Freigebigkeit, Gastfreundschaft, seine Erhabenheit über das Aeußerliche
zeige, aber auch, daß alle Andern diese Geltung schlechtweg und ohne
weitere Rücksicht auf den näheren Werth des Einzelnen als eine ideale
formell anerkennen. Diese transcendentale Skrupulosität, welche die
Sitte des Zweikampfs erzeugte, kannte das gesammte Alterthum nicht,
denn es dachte sächlich. -- Auch die Araber, denen der Religionskampf
gilt, mit welchem dieß neue Leben sich entwickelt, sind hier als Stoff zu
erwähnen. Die abstracte geistige Reinheit des Muhamedanismus hat in
diesem Volke ein reiches inneres Leben -- das wir aber solches hier nicht
zu verfolgen haben -- entbunden und trotz der Polygamie ebenfalls dem
Gefühl der Liebe einen hohen Schwung gegeben; die Berührung mit den
Sarazenen wirkt daher ebenso auch positiv zur Ausbildung des Ritter-
lichen; der Adel eines Saladin war ein erhebendes Bild; die Kämpfe
in Sicilien und Spanien, ein Seitenbild zu den Kreuzzügen, haben der
Phantasie farbenreiche Stoffe zugeführt, wir dürfen nur an den Cid
erinnern.

2. Die in Sitten und Sprache schon getrennten romanischen Völker
mischen sich auf diesen Zügen mit den Deutschen, die fremde, feinere,
buntere, formgewandtere Bildung reizt und wenn zuerst die Germanen
überhaupt römische Bildung sich anzueignen hatten, so eignen sie sich jetzt
als Deutsche romanische Formen an. Abermals also nimmt der Begriff
der Bildung für die Deutschen diese negative Bedeutung an. Nun aber
treten neue Quellen dazu. Schon Theophano und Irene brachten griechische
Formen, im Großen sah man auch diese auf den Kreuzzügen, dann aber
die bunte Pracht, welche die Araber mit dem Glanze orientalischer Phantasie
aus den vorgefundenen des Alterthums entwickelt hatten. Wie dieß für
die höheren Künste wesentlich war, werden wir in der Kunstlehre sehen,
wiewohl wir z. B. an die Baukunst auch hier schon erinnern dürfen, denn

17*

Mittelalter in ſeinem eigentlichen Weſen eingetreten. Mit dieſer That
iſt das harte Herz der nordiſchen Menſchheit erweicht, das Innige und
Myſtiſche, das urſprünglich in der germaniſchen Natur liegt, entbunden
und insbeſondere die Seite des Lebens, worin dieſe Epoche im ſtrengſten
Gegenſatze gegen das geſammte Alterthum ſteht, das Verhältniß zum
Weibe, die Ehe, die Familie entwickelt ſich zur Schönheit. Achtung des
Weibes war von jeher den Germanen eigen; nun, da die Naturrohheit
im Innerſten (wiewohl ohne wahre Durchführung des neuen Lebens durch
das Ganze der Perſönlichkeit) gebrochen iſt, da die innere Unendlichkeit
aufblüht, duftet auch die Liebe. Der ſociale Ausdruck des Bewußtſeins
der Unendlichkeit iſt die Ehre; es iſt die Wachſamkeit des Einzelnen, daß
er den unendlichen Werth der Perſon, den er in ſich fühlt, nicht beſchmutze,
daß er nur für die Kirche, die Frauen, die Unſchuld fechte, durch Milde,
Freigebigkeit, Gaſtfreundſchaft, ſeine Erhabenheit über das Aeußerliche
zeige, aber auch, daß alle Andern dieſe Geltung ſchlechtweg und ohne
weitere Rückſicht auf den näheren Werth des Einzelnen als eine ideale
formell anerkennen. Dieſe tranſcendentale Skrupuloſität, welche die
Sitte des Zweikampfs erzeugte, kannte das geſammte Alterthum nicht,
denn es dachte ſächlich. — Auch die Araber, denen der Religionskampf
gilt, mit welchem dieß neue Leben ſich entwickelt, ſind hier als Stoff zu
erwähnen. Die abſtracte geiſtige Reinheit des Muhamedaniſmus hat in
dieſem Volke ein reiches inneres Leben — das wir aber ſolches hier nicht
zu verfolgen haben — entbunden und trotz der Polygamie ebenfalls dem
Gefühl der Liebe einen hohen Schwung gegeben; die Berührung mit den
Sarazenen wirkt daher ebenſo auch poſitiv zur Ausbildung des Ritter-
lichen; der Adel eines Saladin war ein erhebendes Bild; die Kämpfe
in Sicilien und Spanien, ein Seitenbild zu den Kreuzzügen, haben der
Phantaſie farbenreiche Stoffe zugeführt, wir dürfen nur an den Cid
erinnern.

2. Die in Sitten und Sprache ſchon getrennten romaniſchen Völker
miſchen ſich auf dieſen Zügen mit den Deutſchen, die fremde, feinere,
buntere, formgewandtere Bildung reizt und wenn zuerſt die Germanen
überhaupt römiſche Bildung ſich anzueignen hatten, ſo eignen ſie ſich jetzt
als Deutſche romaniſche Formen an. Abermals alſo nimmt der Begriff
der Bildung für die Deutſchen dieſe negative Bedeutung an. Nun aber
treten neue Quellen dazu. Schon Theophano und Irene brachten griechiſche
Formen, im Großen ſah man auch dieſe auf den Kreuzzügen, dann aber
die bunte Pracht, welche die Araber mit dem Glanze orientaliſcher Phantaſie
aus den vorgefundenen des Alterthums entwickelt hatten. Wie dieß für
die höheren Künſte weſentlich war, werden wir in der Kunſtlehre ſehen,
wiewohl wir z. B. an die Baukunſt auch hier ſchon erinnern dürfen, denn

17*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0271" n="259"/>
Mittelalter in &#x017F;einem eigentlichen We&#x017F;en eingetreten. Mit die&#x017F;er That<lb/>
i&#x017F;t das harte Herz der nordi&#x017F;chen Men&#x017F;chheit erweicht, das Innige und<lb/>
My&#x017F;ti&#x017F;che, das ur&#x017F;prünglich in der germani&#x017F;chen Natur liegt, entbunden<lb/>
und insbe&#x017F;ondere die Seite des Lebens, worin die&#x017F;e Epoche im &#x017F;treng&#x017F;ten<lb/>
Gegen&#x017F;atze gegen das ge&#x017F;ammte Alterthum &#x017F;teht, das Verhältniß zum<lb/>
Weibe, die Ehe, die Familie entwickelt &#x017F;ich zur Schönheit. Achtung des<lb/>
Weibes war von jeher den Germanen eigen; nun, da die Naturrohheit<lb/>
im Inner&#x017F;ten (wiewohl ohne wahre Durchführung des neuen Lebens durch<lb/>
das Ganze der Per&#x017F;önlichkeit) gebrochen i&#x017F;t, da die innere Unendlichkeit<lb/>
aufblüht, duftet auch die Liebe. Der &#x017F;ociale Ausdruck des Bewußt&#x017F;eins<lb/>
der Unendlichkeit i&#x017F;t die Ehre; es i&#x017F;t die Wach&#x017F;amkeit des Einzelnen, daß<lb/>
er den unendlichen Werth der Per&#x017F;on, den er in &#x017F;ich fühlt, nicht be&#x017F;chmutze,<lb/>
daß er nur für die Kirche, die Frauen, die Un&#x017F;chuld fechte, durch Milde,<lb/>
Freigebigkeit, Ga&#x017F;tfreund&#x017F;chaft, &#x017F;eine Erhabenheit über das Aeußerliche<lb/>
zeige, aber auch, daß alle Andern die&#x017F;e Geltung &#x017F;chlechtweg und ohne<lb/>
weitere Rück&#x017F;icht auf den näheren Werth des Einzelnen als eine ideale<lb/>
formell anerkennen. Die&#x017F;e tran&#x017F;cendentale Skrupulo&#x017F;ität, welche die<lb/>
Sitte des Zweikampfs erzeugte, kannte das ge&#x017F;ammte Alterthum nicht,<lb/>
denn es dachte &#x017F;ächlich. &#x2014; Auch die <hi rendition="#g">Araber</hi>, denen der Religionskampf<lb/>
gilt, mit welchem dieß neue Leben &#x017F;ich entwickelt, &#x017F;ind hier als Stoff zu<lb/>
erwähnen. Die ab&#x017F;tracte gei&#x017F;tige Reinheit des Muhamedani&#x017F;mus hat in<lb/>
die&#x017F;em Volke ein reiches inneres Leben &#x2014; das wir aber &#x017F;olches hier nicht<lb/>
zu verfolgen haben &#x2014; entbunden und trotz der Polygamie ebenfalls dem<lb/>
Gefühl der Liebe einen hohen Schwung gegeben; die Berührung mit den<lb/>
Sarazenen wirkt daher eben&#x017F;o auch po&#x017F;itiv zur Ausbildung des Ritter-<lb/>
lichen; der Adel eines Saladin war ein erhebendes Bild; die Kämpfe<lb/>
in Sicilien und Spanien, ein Seitenbild zu den Kreuzzügen, haben der<lb/>
Phanta&#x017F;ie farbenreiche Stoffe zugeführt, wir dürfen nur an den Cid<lb/>
erinnern.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">2. Die in Sitten und Sprache &#x017F;chon getrennten romani&#x017F;chen Völker<lb/>
mi&#x017F;chen &#x017F;ich auf die&#x017F;en Zügen mit den Deut&#x017F;chen, die fremde, feinere,<lb/>
buntere, formgewandtere Bildung reizt und wenn zuer&#x017F;t die Germanen<lb/>
überhaupt römi&#x017F;che Bildung &#x017F;ich anzueignen hatten, &#x017F;o eignen &#x017F;ie &#x017F;ich jetzt<lb/>
als Deut&#x017F;che romani&#x017F;che Formen an. Abermals al&#x017F;o nimmt der Begriff<lb/>
der Bildung für die Deut&#x017F;chen die&#x017F;e negative Bedeutung an. Nun aber<lb/>
treten neue Quellen dazu. Schon Theophano und Irene brachten griechi&#x017F;che<lb/>
Formen, im Großen &#x017F;ah man auch die&#x017F;e auf den Kreuzzügen, dann aber<lb/>
die bunte Pracht, welche die Araber mit dem Glanze orientali&#x017F;cher Phanta&#x017F;ie<lb/>
aus den vorgefundenen des Alterthums entwickelt hatten. Wie dieß für<lb/>
die höheren Kün&#x017F;te we&#x017F;entlich war, werden wir in der Kun&#x017F;tlehre &#x017F;ehen,<lb/>
wiewohl wir z. B. an die Baukun&#x017F;t auch hier &#x017F;chon erinnern dürfen, denn</hi><lb/>
                      <fw place="bottom" type="sig">17*</fw><lb/>
                    </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[259/0271] Mittelalter in ſeinem eigentlichen Weſen eingetreten. Mit dieſer That iſt das harte Herz der nordiſchen Menſchheit erweicht, das Innige und Myſtiſche, das urſprünglich in der germaniſchen Natur liegt, entbunden und insbeſondere die Seite des Lebens, worin dieſe Epoche im ſtrengſten Gegenſatze gegen das geſammte Alterthum ſteht, das Verhältniß zum Weibe, die Ehe, die Familie entwickelt ſich zur Schönheit. Achtung des Weibes war von jeher den Germanen eigen; nun, da die Naturrohheit im Innerſten (wiewohl ohne wahre Durchführung des neuen Lebens durch das Ganze der Perſönlichkeit) gebrochen iſt, da die innere Unendlichkeit aufblüht, duftet auch die Liebe. Der ſociale Ausdruck des Bewußtſeins der Unendlichkeit iſt die Ehre; es iſt die Wachſamkeit des Einzelnen, daß er den unendlichen Werth der Perſon, den er in ſich fühlt, nicht beſchmutze, daß er nur für die Kirche, die Frauen, die Unſchuld fechte, durch Milde, Freigebigkeit, Gaſtfreundſchaft, ſeine Erhabenheit über das Aeußerliche zeige, aber auch, daß alle Andern dieſe Geltung ſchlechtweg und ohne weitere Rückſicht auf den näheren Werth des Einzelnen als eine ideale formell anerkennen. Dieſe tranſcendentale Skrupuloſität, welche die Sitte des Zweikampfs erzeugte, kannte das geſammte Alterthum nicht, denn es dachte ſächlich. — Auch die Araber, denen der Religionskampf gilt, mit welchem dieß neue Leben ſich entwickelt, ſind hier als Stoff zu erwähnen. Die abſtracte geiſtige Reinheit des Muhamedaniſmus hat in dieſem Volke ein reiches inneres Leben — das wir aber ſolches hier nicht zu verfolgen haben — entbunden und trotz der Polygamie ebenfalls dem Gefühl der Liebe einen hohen Schwung gegeben; die Berührung mit den Sarazenen wirkt daher ebenſo auch poſitiv zur Ausbildung des Ritter- lichen; der Adel eines Saladin war ein erhebendes Bild; die Kämpfe in Sicilien und Spanien, ein Seitenbild zu den Kreuzzügen, haben der Phantaſie farbenreiche Stoffe zugeführt, wir dürfen nur an den Cid erinnern. 2. Die in Sitten und Sprache ſchon getrennten romaniſchen Völker miſchen ſich auf dieſen Zügen mit den Deutſchen, die fremde, feinere, buntere, formgewandtere Bildung reizt und wenn zuerſt die Germanen überhaupt römiſche Bildung ſich anzueignen hatten, ſo eignen ſie ſich jetzt als Deutſche romaniſche Formen an. Abermals alſo nimmt der Begriff der Bildung für die Deutſchen dieſe negative Bedeutung an. Nun aber treten neue Quellen dazu. Schon Theophano und Irene brachten griechiſche Formen, im Großen ſah man auch dieſe auf den Kreuzzügen, dann aber die bunte Pracht, welche die Araber mit dem Glanze orientaliſcher Phantaſie aus den vorgefundenen des Alterthums entwickelt hatten. Wie dieß für die höheren Künſte weſentlich war, werden wir in der Kunſtlehre ſehen, wiewohl wir z. B. an die Baukunſt auch hier ſchon erinnern dürfen, denn 17*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/271
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/271>, abgerufen am 22.11.2024.