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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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2. Das Aufblühen der Städte geht noch tief in die Zeit der Kämpfe
zwischen Papst und Kaiser zurück, und zwar werden sie besonders in
Italien bedeutend. Das Mittelalter soll sich aber nicht direct auf diesem
Wege zu vernünftiger Staatsbildung fortbewegen. Die Einigen, die frei
sind, sollen erst in Einen zusammengehen, die vernünftige Einheit und
Allgemeinheit soll erst in die Hand einer übergreifenden sinnlichen Einheit
kommen. Die Hohenstaufen sind Vorkämpfer des Staats und der Ver-
nunft in ihrer weltlichen Freiheit, aber ganz nur im Sinne der Monarchie,
und ihr Kampf gegen die geistliche Tyrannei Italiens ist zugleich wesentlich
ein Kampf gegen die Anfänge des republikanischen Lebens, gegen die
Städte. Doch nicht das deutsche Kaiserthum war bestimmt, eine große
monarchische Einheit durchzuführen; zwar sind die Kaiser seit Rudolf von
Habsburg bestrebt, durch kräftigere Handhabung rechtlicher und polizeilicher
Ordnung wirklich zu herrschen, schon dieser Kaiser stellt den Landfrieden
her, Maximilian I. macht wirklich dem Faustrecht ein Ende (Götz von
Berlichingen); wahrhafte Herrn aber sind sie nur in ihrer kleinen Haus-
macht. Die Kurfürsten werden Landesherrn, die kleineren Herrn zu
Ständen, Staatsbeamten herabgesetzt, es bildet sich die Vielheit kleiner
Souveräne, die Monarchie entsteht zerstreut auf einzelnen Punkten.
Energisch wird der Vasallentrotz in Frankreich und England bekämpft;
am meisten belehrend, aber auch am meisten anschaulich und ästhetisch
fruchtbar ist der blutige Auflösungskampf der Feudalform in England, der
Krieg der rothen und weißen Rose. Hier bricht, wie in den letzten Zeiten
Roms, in ungeheurer Gestalt wieder das Böse hervor. Dieses Böse hat
nicht die objective Basis, athmet nicht die politische Großheit, wie in den
römischen Kaisern, es ist der eigensinnige Trotz des isolirten Individuums,
roh und bärenhaft in Formen und Thaten; aber dieses Individuum ist
christlich, hat Gewissen, ohne es zu wollen, und eine geistige Selbst-
zerstörung, von der das Alterthum keine Ahnung hatte, ist das Ende
abgefeimter Heuchelei. Inzwischen hat die, zwar zeitweise wieder in
feudalistische Kämpfe sich auflösende, monarchische Einheit solchen
Staaten, welche nicht in eine so zersplitterte Vielheit von kleinen Monarchen
zerfallen, wie Deutschland, Gefühl und Schwung des Vaterlands gegeben:
Frankreich und England, beide monarchisch sich centralisirend, reiben sich
in langen Kriegen und werden groß durch Rivalität. In Italien und in
Spanien zum Theil unter wilder Zerrissenheit und blutigen Greueln führen
sich ebenfalls Dynastieen durch. Ueberall nun sitzt die Kraft der Monarchen
in der Ordnung, die sie schaffen. Shakespeare konnte ohne Lüge den
Schluß der Bürgerkriege durch die verständige, polizeiliche Monarchie als
höchste Wohlthat begrüßen. Freilich ließ sie in England der Individualität
noch Raum genug, im Ganzen aber beginnt mit dieser Ordnung, weil sie

2. Das Aufblühen der Städte geht noch tief in die Zeit der Kämpfe
zwiſchen Papſt und Kaiſer zurück, und zwar werden ſie beſonders in
Italien bedeutend. Das Mittelalter ſoll ſich aber nicht direct auf dieſem
Wege zu vernünftiger Staatsbildung fortbewegen. Die Einigen, die frei
ſind, ſollen erſt in Einen zuſammengehen, die vernünftige Einheit und
Allgemeinheit ſoll erſt in die Hand einer übergreifenden ſinnlichen Einheit
kommen. Die Hohenſtaufen ſind Vorkämpfer des Staats und der Ver-
nunft in ihrer weltlichen Freiheit, aber ganz nur im Sinne der Monarchie,
und ihr Kampf gegen die geiſtliche Tyrannei Italiens iſt zugleich weſentlich
ein Kampf gegen die Anfänge des republikaniſchen Lebens, gegen die
Städte. Doch nicht das deutſche Kaiſerthum war beſtimmt, eine große
monarchiſche Einheit durchzuführen; zwar ſind die Kaiſer ſeit Rudolf von
Habsburg beſtrebt, durch kräftigere Handhabung rechtlicher und polizeilicher
Ordnung wirklich zu herrſchen, ſchon dieſer Kaiſer ſtellt den Landfrieden
her, Maximilian I. macht wirklich dem Fauſtrecht ein Ende (Götz von
Berlichingen); wahrhafte Herrn aber ſind ſie nur in ihrer kleinen Haus-
macht. Die Kurfürſten werden Landesherrn, die kleineren Herrn zu
Ständen, Staatsbeamten herabgeſetzt, es bildet ſich die Vielheit kleiner
Souveräne, die Monarchie entſteht zerſtreut auf einzelnen Punkten.
Energiſch wird der Vaſallentrotz in Frankreich und England bekämpft;
am meiſten belehrend, aber auch am meiſten anſchaulich und äſthetiſch
fruchtbar iſt der blutige Auflöſungskampf der Feudalform in England, der
Krieg der rothen und weißen Roſe. Hier bricht, wie in den letzten Zeiten
Roms, in ungeheurer Geſtalt wieder das Böſe hervor. Dieſes Böſe hat
nicht die objective Baſis, athmet nicht die politiſche Großheit, wie in den
römiſchen Kaiſern, es iſt der eigenſinnige Trotz des iſolirten Individuums,
roh und bärenhaft in Formen und Thaten; aber dieſes Individuum iſt
chriſtlich, hat Gewiſſen, ohne es zu wollen, und eine geiſtige Selbſt-
zerſtörung, von der das Alterthum keine Ahnung hatte, iſt das Ende
abgefeimter Heuchelei. Inzwiſchen hat die, zwar zeitweiſe wieder in
feudaliſtiſche Kämpfe ſich auflöſende, monarchiſche Einheit ſolchen
Staaten, welche nicht in eine ſo zerſplitterte Vielheit von kleinen Monarchen
zerfallen, wie Deutſchland, Gefühl und Schwung des Vaterlands gegeben:
Frankreich und England, beide monarchiſch ſich centraliſirend, reiben ſich
in langen Kriegen und werden groß durch Rivalität. In Italien und in
Spanien zum Theil unter wilder Zerriſſenheit und blutigen Greueln führen
ſich ebenfalls Dynaſtieen durch. Ueberall nun ſitzt die Kraft der Monarchen
in der Ordnung, die ſie ſchaffen. Shakespeare konnte ohne Lüge den
Schluß der Bürgerkriege durch die verſtändige, polizeiliche Monarchie als
höchſte Wohlthat begrüßen. Freilich ließ ſie in England der Individualität
noch Raum genug, im Ganzen aber beginnt mit dieſer Ordnung, weil ſie

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[263/0275] 2. Das Aufblühen der Städte geht noch tief in die Zeit der Kämpfe zwiſchen Papſt und Kaiſer zurück, und zwar werden ſie beſonders in Italien bedeutend. Das Mittelalter ſoll ſich aber nicht direct auf dieſem Wege zu vernünftiger Staatsbildung fortbewegen. Die Einigen, die frei ſind, ſollen erſt in Einen zuſammengehen, die vernünftige Einheit und Allgemeinheit ſoll erſt in die Hand einer übergreifenden ſinnlichen Einheit kommen. Die Hohenſtaufen ſind Vorkämpfer des Staats und der Ver- nunft in ihrer weltlichen Freiheit, aber ganz nur im Sinne der Monarchie, und ihr Kampf gegen die geiſtliche Tyrannei Italiens iſt zugleich weſentlich ein Kampf gegen die Anfänge des republikaniſchen Lebens, gegen die Städte. Doch nicht das deutſche Kaiſerthum war beſtimmt, eine große monarchiſche Einheit durchzuführen; zwar ſind die Kaiſer ſeit Rudolf von Habsburg beſtrebt, durch kräftigere Handhabung rechtlicher und polizeilicher Ordnung wirklich zu herrſchen, ſchon dieſer Kaiſer ſtellt den Landfrieden her, Maximilian I. macht wirklich dem Fauſtrecht ein Ende (Götz von Berlichingen); wahrhafte Herrn aber ſind ſie nur in ihrer kleinen Haus- macht. Die Kurfürſten werden Landesherrn, die kleineren Herrn zu Ständen, Staatsbeamten herabgeſetzt, es bildet ſich die Vielheit kleiner Souveräne, die Monarchie entſteht zerſtreut auf einzelnen Punkten. Energiſch wird der Vaſallentrotz in Frankreich und England bekämpft; am meiſten belehrend, aber auch am meiſten anſchaulich und äſthetiſch fruchtbar iſt der blutige Auflöſungskampf der Feudalform in England, der Krieg der rothen und weißen Roſe. Hier bricht, wie in den letzten Zeiten Roms, in ungeheurer Geſtalt wieder das Böſe hervor. Dieſes Böſe hat nicht die objective Baſis, athmet nicht die politiſche Großheit, wie in den römiſchen Kaiſern, es iſt der eigenſinnige Trotz des iſolirten Individuums, roh und bärenhaft in Formen und Thaten; aber dieſes Individuum iſt chriſtlich, hat Gewiſſen, ohne es zu wollen, und eine geiſtige Selbſt- zerſtörung, von der das Alterthum keine Ahnung hatte, iſt das Ende abgefeimter Heuchelei. Inzwiſchen hat die, zwar zeitweiſe wieder in feudaliſtiſche Kämpfe ſich auflöſende, monarchiſche Einheit ſolchen Staaten, welche nicht in eine ſo zerſplitterte Vielheit von kleinen Monarchen zerfallen, wie Deutſchland, Gefühl und Schwung des Vaterlands gegeben: Frankreich und England, beide monarchiſch ſich centraliſirend, reiben ſich in langen Kriegen und werden groß durch Rivalität. In Italien und in Spanien zum Theil unter wilder Zerriſſenheit und blutigen Greueln führen ſich ebenfalls Dynaſtieen durch. Ueberall nun ſitzt die Kraft der Monarchen in der Ordnung, die ſie ſchaffen. Shakespeare konnte ohne Lüge den Schluß der Bürgerkriege durch die verſtändige, polizeiliche Monarchie als höchſte Wohlthat begrüßen. Freilich ließ ſie in England der Individualität noch Raum genug, im Ganzen aber beginnt mit dieſer Ordnung, weil ſie

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/275>, abgerufen am 22.11.2024.