Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Natur und steter Rückfall in rohe Natur (Mittelalter), freie, mit 2. Nicht sogleich versinken alle Formen in's Leblose, aber der Anfang Vorstufe. §. 366. Das erste Symptom des geistigen Druchs mit dem Mittelalter ist die1 1. Es ist schon bemerkt, daß die Franzosen mehr germanisches Blut
Natur und ſteter Rückfall in rohe Natur (Mittelalter), freie, mit 2. Nicht ſogleich verſinken alle Formen in’s Lebloſe, aber der Anfang Vorſtufe. §. 366. Das erſte Symptom des geiſtigen Druchs mit dem Mittelalter iſt die1 1. Es iſt ſchon bemerkt, daß die Franzoſen mehr germaniſches Blut <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0281" n="269"/> Natur und ſteter Rückfall in rohe Natur (Mittelalter), freie, mit<lb/> Bewußtſein gewollte, vermittelte Rückkehr zur Natur (neue Zeit);<lb/> Naturſtaat, Willkührſtaat, Vernunft- (wahrer Rechts-) Staat, oder:<lb/> Staat, worin das Individuum und das Allgemeine unmittelbar inein-<lb/> ander aufgehen, Staat, worin das Individuum ſeine erhöhte Bedeutung<lb/> auf Koſten des Ganzen geltend macht, Staat, worin das Ganze und<lb/> Allgemeine herrſcht, aber die Geltung und freie Thätigkeit des Individuums<lb/> — ſein privatrechtlicher Werth und ſein Beruf zur politiſchen Mitwirkung<lb/> — als flüſſiges Moment erhalten iſt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Nicht ſogleich verſinken alle Formen in’s Lebloſe, aber der Anfang<lb/> iſt gemacht und unaufhaltſam tritt alsdann allgemeiner Mechaniſmus ein.<lb/> Dieſer rührt zunächſt keineswegs allein daher, daß wir noch in der Mitte<lb/> der Verwirklichung jener größeren Aufgabe ſtecken; zwar die ganze Kahl-<lb/> heit der Erſcheinung des Subjects und der lederne Philiſtercharakter iſt<lb/> eine Wirkung davon, daß die Freiheit noch nicht realiſirt iſt, aber die<lb/> Abſtractheit aller andern, äußern Culturformen geht ihren eigenen Weg<lb/> und iſt theilweiſe ſogar gerade ein ungeheures Mittel zur wahren Freiheit<lb/> (z. B. die Preſſe). Wird jedoch das Subject wieder Naturton, das<lb/> Individuum politiſches Leben haben, ſo muß ein großer Theil der Formen<lb/> ſich jedenfalls erfriſchen. Unſere erbärmliche Tracht z. B. kann dann<lb/> nicht mehr beſtehen, die Monopoliſirung der Tapferkeit in einem Stande<lb/> auch nicht, der Bürger wird Krieger und daher ſeine Erſcheinung eine<lb/> andere ſein, als jetzt. Doch von dieſem und Anderem iſt ſofort an ſeinem<lb/> Orte zu ſprechen.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Vorſtufe</hi>.</hi> </head><lb/> <div n="7"> <head>§. 366.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Das erſte Symptom des geiſtigen Druchs mit dem Mittelalter iſt die<note place="right">1</note><lb/><hi rendition="#g">Reformation</hi>. Sie iſt ein deutſches Werk, die Geſchichte rückt durch ſie<lb/> höher nach Norden und mit Ausnahme der Franzoſen treten die romaniſchen<lb/> Völker als die ganz katholiſchen nach einem letzten kurzen Aufblühen von<lb/> ihrem Schauplatz ab. Die Kirche des Mittelalters reſtaurirt ſich, entfaltet<note place="right">2</note><lb/> neue, aber ſeelenloſe Pracht und erzeugt, um ſich gegen den Fortſchritt der<lb/> Zeit zu behaupten, neue, geſpenſtiſche Formen des Böſen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Es iſt ſchon bemerkt, daß die Franzoſen mehr germaniſches Blut<lb/> haben, als die übrigen romaniſchen Völker. Ein ſtählendes Element iſt<lb/> hier namentlich das Nördliche, das Normanniſche. Die ſtark eindringende<lb/> Reformation wird zwar unterdrückt, denn romaniſch und daher unfähig,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [269/0281]
Natur und ſteter Rückfall in rohe Natur (Mittelalter), freie, mit
Bewußtſein gewollte, vermittelte Rückkehr zur Natur (neue Zeit);
Naturſtaat, Willkührſtaat, Vernunft- (wahrer Rechts-) Staat, oder:
Staat, worin das Individuum und das Allgemeine unmittelbar inein-
ander aufgehen, Staat, worin das Individuum ſeine erhöhte Bedeutung
auf Koſten des Ganzen geltend macht, Staat, worin das Ganze und
Allgemeine herrſcht, aber die Geltung und freie Thätigkeit des Individuums
— ſein privatrechtlicher Werth und ſein Beruf zur politiſchen Mitwirkung
— als flüſſiges Moment erhalten iſt.
2. Nicht ſogleich verſinken alle Formen in’s Lebloſe, aber der Anfang
iſt gemacht und unaufhaltſam tritt alsdann allgemeiner Mechaniſmus ein.
Dieſer rührt zunächſt keineswegs allein daher, daß wir noch in der Mitte
der Verwirklichung jener größeren Aufgabe ſtecken; zwar die ganze Kahl-
heit der Erſcheinung des Subjects und der lederne Philiſtercharakter iſt
eine Wirkung davon, daß die Freiheit noch nicht realiſirt iſt, aber die
Abſtractheit aller andern, äußern Culturformen geht ihren eigenen Weg
und iſt theilweiſe ſogar gerade ein ungeheures Mittel zur wahren Freiheit
(z. B. die Preſſe). Wird jedoch das Subject wieder Naturton, das
Individuum politiſches Leben haben, ſo muß ein großer Theil der Formen
ſich jedenfalls erfriſchen. Unſere erbärmliche Tracht z. B. kann dann
nicht mehr beſtehen, die Monopoliſirung der Tapferkeit in einem Stande
auch nicht, der Bürger wird Krieger und daher ſeine Erſcheinung eine
andere ſein, als jetzt. Doch von dieſem und Anderem iſt ſofort an ſeinem
Orte zu ſprechen.
Vorſtufe.
§. 366.
Das erſte Symptom des geiſtigen Druchs mit dem Mittelalter iſt die
Reformation. Sie iſt ein deutſches Werk, die Geſchichte rückt durch ſie
höher nach Norden und mit Ausnahme der Franzoſen treten die romaniſchen
Völker als die ganz katholiſchen nach einem letzten kurzen Aufblühen von
ihrem Schauplatz ab. Die Kirche des Mittelalters reſtaurirt ſich, entfaltet
neue, aber ſeelenloſe Pracht und erzeugt, um ſich gegen den Fortſchritt der
Zeit zu behaupten, neue, geſpenſtiſche Formen des Böſen.
1. Es iſt ſchon bemerkt, daß die Franzoſen mehr germaniſches Blut
haben, als die übrigen romaniſchen Völker. Ein ſtählendes Element iſt
hier namentlich das Nördliche, das Normanniſche. Die ſtark eindringende
Reformation wird zwar unterdrückt, denn romaniſch und daher unfähig,
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