Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
das tiefste Geistige als rein innere, nicht palpable Bewegung zu fassen,
das tiefſte Geiſtige als rein innere, nicht palpable Bewegung zu faſſen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0282" n="270"/> das tiefſte Geiſtige als rein innere, nicht palpable Bewegung zu faſſen,<lb/> bleibt das franzöſiſche Volk, aber ſeine fortſchreitende und elaſtiſche Natur<lb/> ſchafft ſich, wie ſich zeigen wird, ein Aequivalent für die Reformation.<lb/> Spanien und Portugall blüht auf durch die Entdeckung Amerika’s und<lb/> des Seewegs nach Oſtindien, Begebenheiten, welche in den Charakteren<lb/> und Schickſalen der kühnen Entdecker, des Columbus namentlich, herrliche<lb/> Stoffe geben, dann wird Spanien auf kurze Zeit groß als erſtes Land,<lb/> worin ſich die abſolute Monarchie ausbildet, Mittelpunkt des Reichs Carls <hi rendition="#aq">V.</hi><lb/> Allein die Blüthe iſt kurz, die Völker arten durch die neuentdeckten Quellen<lb/> des Reichthums aus, die abſolute Monarchie iſt untrennbar vom ſtabilen<lb/> Prinzip des Katholiciſmus, daher der Fortſchritt unmöglich. In neuerer<lb/> Zeit kämpft Spanien mit unglücklichen Kriſen; es macht Verſuche, in<lb/> die moderne Welt einzutreten, aber die abſtracten Ideen des Modernen<lb/> und das feſtgewurzelte Mittelalter können zu keiner geſunden Bewegung<lb/> zuſammentreten. Neben tüchtigen Naturkräften im Volke Frivolität, Ent-<lb/> ſittlichung, Treuloſigkeit aller Art, Lumperei überall. Italien blüht noch<lb/> einmal, jedoch nur formell, auf in der Reſtauration des Katholiciſmus,<lb/> um dann als Leichnam liegen zu bleiben. In der modernen Zeit können<lb/> nur Völker geſchichtlich ſein, welche die Autorität wegzuſchleudern ver-<lb/> mochten; denn Umbau der Wirklichkeit aus dem freien Gedanken iſt ihr<lb/> Weſen. Die Reformation iſt das abſolut kritiſche Symptom, daß dieſe<lb/> Kriſis eingetreten iſt. Man kann auch ſagen, ſie ſei die Kriſis ſelbſt,<lb/> aber ſie iſt nicht die ganze Kriſis, ſie iſt Durchbruch eines Prinzips auf<lb/> einem Punkte, das noch unzählige andere Wege wählt. Die Religion<lb/> iſt überhaupt der Hauptort der geſchichtlichen Symptome, der Nilmeſſer<lb/> des Geiſtes. In ihr geben ſich neue Weltperioden zuerſt Ausdruck. Aber<lb/> die neue Religion <hi rendition="#g">macht</hi> nicht die neue Zeit, ſie iſt gemacht von einem<lb/> Geiſte, der ſie und viel Anderes macht und weit über dieſes Gefäß, ein<lb/> Gefäß unter Gefäßen, hinausreicht. Daher eine ſehr ſchwierige Amphibolie<lb/> der Begriffe in jetziger Zeit: Einige nennen die moderne Geiſtesfreiheit<lb/> proteſtantiſch, Andere laſſen der proteſtantiſchen Kirche den Dogmenzwang,<lb/> die Herrſchſucht, die in ihr bald genug eintrat, und ſuchen den freien Geiſt<lb/> außer aller Kirche. Davon nachher. Mit der Reformation, als einem<lb/> ächt deutſchen Werke rückt die Bildung und daher die Geſchichte mehr<lb/> und mehr vom Mittelmeer weg höher gegen Norden. Die Reformation<lb/> iſt weſentlich ein Befreiungswerk von Fremdenherrſchaft, von römiſcher<lb/> Anmaßung und zwar von der ſchlimmſten, der geiſtigen, eine Löſung des<lb/> harten, aber freien Nordens von dem ſinnlichen Süden. Hier hat ſich<lb/> namentlich gezeigt, zu was der grobe Verſtand des deutſchen Naturells,<lb/> die Schwungloſigkeit in Formen gut iſt. Der Schwung der Formen<lb/> täuſcht, wo er nicht aus reiner Abſicht der Kunſt, die nur freien Schein<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [270/0282]
das tiefſte Geiſtige als rein innere, nicht palpable Bewegung zu faſſen,
bleibt das franzöſiſche Volk, aber ſeine fortſchreitende und elaſtiſche Natur
ſchafft ſich, wie ſich zeigen wird, ein Aequivalent für die Reformation.
Spanien und Portugall blüht auf durch die Entdeckung Amerika’s und
des Seewegs nach Oſtindien, Begebenheiten, welche in den Charakteren
und Schickſalen der kühnen Entdecker, des Columbus namentlich, herrliche
Stoffe geben, dann wird Spanien auf kurze Zeit groß als erſtes Land,
worin ſich die abſolute Monarchie ausbildet, Mittelpunkt des Reichs Carls V.
Allein die Blüthe iſt kurz, die Völker arten durch die neuentdeckten Quellen
des Reichthums aus, die abſolute Monarchie iſt untrennbar vom ſtabilen
Prinzip des Katholiciſmus, daher der Fortſchritt unmöglich. In neuerer
Zeit kämpft Spanien mit unglücklichen Kriſen; es macht Verſuche, in
die moderne Welt einzutreten, aber die abſtracten Ideen des Modernen
und das feſtgewurzelte Mittelalter können zu keiner geſunden Bewegung
zuſammentreten. Neben tüchtigen Naturkräften im Volke Frivolität, Ent-
ſittlichung, Treuloſigkeit aller Art, Lumperei überall. Italien blüht noch
einmal, jedoch nur formell, auf in der Reſtauration des Katholiciſmus,
um dann als Leichnam liegen zu bleiben. In der modernen Zeit können
nur Völker geſchichtlich ſein, welche die Autorität wegzuſchleudern ver-
mochten; denn Umbau der Wirklichkeit aus dem freien Gedanken iſt ihr
Weſen. Die Reformation iſt das abſolut kritiſche Symptom, daß dieſe
Kriſis eingetreten iſt. Man kann auch ſagen, ſie ſei die Kriſis ſelbſt,
aber ſie iſt nicht die ganze Kriſis, ſie iſt Durchbruch eines Prinzips auf
einem Punkte, das noch unzählige andere Wege wählt. Die Religion
iſt überhaupt der Hauptort der geſchichtlichen Symptome, der Nilmeſſer
des Geiſtes. In ihr geben ſich neue Weltperioden zuerſt Ausdruck. Aber
die neue Religion macht nicht die neue Zeit, ſie iſt gemacht von einem
Geiſte, der ſie und viel Anderes macht und weit über dieſes Gefäß, ein
Gefäß unter Gefäßen, hinausreicht. Daher eine ſehr ſchwierige Amphibolie
der Begriffe in jetziger Zeit: Einige nennen die moderne Geiſtesfreiheit
proteſtantiſch, Andere laſſen der proteſtantiſchen Kirche den Dogmenzwang,
die Herrſchſucht, die in ihr bald genug eintrat, und ſuchen den freien Geiſt
außer aller Kirche. Davon nachher. Mit der Reformation, als einem
ächt deutſchen Werke rückt die Bildung und daher die Geſchichte mehr
und mehr vom Mittelmeer weg höher gegen Norden. Die Reformation
iſt weſentlich ein Befreiungswerk von Fremdenherrſchaft, von römiſcher
Anmaßung und zwar von der ſchlimmſten, der geiſtigen, eine Löſung des
harten, aber freien Nordens von dem ſinnlichen Süden. Hier hat ſich
namentlich gezeigt, zu was der grobe Verſtand des deutſchen Naturells,
die Schwungloſigkeit in Formen gut iſt. Der Schwung der Formen
täuſcht, wo er nicht aus reiner Abſicht der Kunſt, die nur freien Schein
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