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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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durch das Getümmel der bäurischen Lust, der bürgerlichen Rührigkeit, der
soldatischen Wildheit, der vornehmen Ueppigkeit, der allgemeinen Leidenschaft-
lichkeit und entbundenen Sitte, in welche auch die allmählich stärkeren Ein-
wirkungen der erneuten Kenntniß des Alterthums noch kein Maaß einzuführen
2vermögen. Die Culturformen suchen das Ausgeschwungene, Luftige, Weite,
Bunte, Bewegte und behandeln in diesem Charakter auch das wiederaufgenommene
Antike. Mit steigender Willkühr ändert die Mode das Einzelne in diesem
allgemeinen Typus.

1. Der §. faßt Mehreres zusammen, was im Bisherigen schon
berührt ist, und hebt als weiteren Zug die Verzweiflung, die Angst vor
dem jüngsten Gerichte, die Hexenprozesse hervor. Ebenso stieg in Rom
zur Zeit seiner Fäulniß ein ungeheurer Unfug der Zauberei, gemischt aus
dem Aberglauben aller Völker, auf; es ist der Wahnsinn, der sich erzeugt,
wenn eine Welt versinkt und eine neue in den Geburtswehen liegt. Der
entsesselte Egoismus gab dem Aberglauben den Zweck der Habgier, der
Selbstsucht; Alchymie, Magie, Astrologie kamen an die Tagesordnung.
Die Welt scheint verrückt, alte Einfalt verschwindet, Cynismus, Natura-
lismus und raffinirter Luxus arbeiten in die Wette. Die Genußsucht wird
grenzenlos, der Aufwand der Großen fast unüberschwenglich, fremde
Speisen, "Schleckbißlein," Gewürze, Weine überschwemmen die Tafel,
die Deutschen werden als schreckliche Säufer noch berüchtigter, als vorher;
neue Krankheiten dringen ein und scheinen eine Strafe des Himmels, der
Weltuntergang scheint nahe. Die Hexenprozesse sind ein Stoff voll dunkeln
Wahnsinns und teuflischer Bosheit, die wie ein Gespenst den Unschuldigen,
der im Momente des Verdachts unrettbar verloren ist, erfaßt und ver-
nichtet. Tiecks Hexensabbath.

2. Zu §. 364, 1. ist schon bemerkt, wie das mittelalterliche Oberkleid,
das immer vorn geschlossen war und daher über den Kopf angezogen
werden mußte, vorn geöffnet und so zum bequemeren Rock wurde, in
den man schlüpfen kann. Er floß noch frei, war nicht in die Taille
geschnitten und durch Farbe, Stoff, Besätze, Länge u. s. w. der größten
Mannigfaltigkeit fähig, wodurch man denn auch den Unterschied der Stände
im sechzehnten Jahrhundert sogar schärfer und bestimmter, als in irgend
einem früheren, bezeichnete. Als Talar ist er das allgemeine Kleid der
Amtswürde, das noch heute z. B. im protestantischen Kirchenrock fort-
dauert. Das Wamms wurde zum Unterkleide. War so das Knappe, den
beengten Geist des Mittelalters bei aller Buntheit treu Bezeichnende aus
der Bekleidung des Rumpfes geschwunden, so mußte dieselbe Bewegung
auch das Beinkleid ergreifen. Man schlitzte es, um die Bewegung zu
erleichtern, an den Gelenken auf, ließ Sammt und Seide, bunte Zeuge

durch das Getümmel der bäuriſchen Luſt, der bürgerlichen Rührigkeit, der
ſoldatiſchen Wildheit, der vornehmen Ueppigkeit, der allgemeinen Leidenſchaft-
lichkeit und entbundenen Sitte, in welche auch die allmählich ſtärkeren Ein-
wirkungen der erneuten Kenntniß des Alterthums noch kein Maaß einzuführen
2vermögen. Die Culturformen ſuchen das Ausgeſchwungene, Luftige, Weite,
Bunte, Bewegte und behandeln in dieſem Charakter auch das wiederaufgenommene
Antike. Mit ſteigender Willkühr ändert die Mode das Einzelne in dieſem
allgemeinen Typus.

1. Der §. faßt Mehreres zuſammen, was im Bisherigen ſchon
berührt iſt, und hebt als weiteren Zug die Verzweiflung, die Angſt vor
dem jüngſten Gerichte, die Hexenprozeſſe hervor. Ebenſo ſtieg in Rom
zur Zeit ſeiner Fäulniß ein ungeheurer Unfug der Zauberei, gemiſcht aus
dem Aberglauben aller Völker, auf; es iſt der Wahnſinn, der ſich erzeugt,
wenn eine Welt verſinkt und eine neue in den Geburtswehen liegt. Der
entſeſſelte Egoiſmus gab dem Aberglauben den Zweck der Habgier, der
Selbſtſucht; Alchymie, Magie, Aſtrologie kamen an die Tagesordnung.
Die Welt ſcheint verrückt, alte Einfalt verſchwindet, Cyniſmus, Natura-
liſmus und raffinirter Luxus arbeiten in die Wette. Die Genußſucht wird
grenzenlos, der Aufwand der Großen faſt unüberſchwenglich, fremde
Speiſen, „Schleckbißlein,“ Gewürze, Weine überſchwemmen die Tafel,
die Deutſchen werden als ſchreckliche Säufer noch berüchtigter, als vorher;
neue Krankheiten dringen ein und ſcheinen eine Strafe des Himmels, der
Weltuntergang ſcheint nahe. Die Hexenprozeſſe ſind ein Stoff voll dunkeln
Wahnſinns und teufliſcher Bosheit, die wie ein Geſpenſt den Unſchuldigen,
der im Momente des Verdachts unrettbar verloren iſt, erfaßt und ver-
nichtet. Tiecks Hexenſabbath.

2. Zu §. 364, 1. iſt ſchon bemerkt, wie das mittelalterliche Oberkleid,
das immer vorn geſchloſſen war und daher über den Kopf angezogen
werden mußte, vorn geöffnet und ſo zum bequemeren Rock wurde, in
den man ſchlüpfen kann. Er floß noch frei, war nicht in die Taille
geſchnitten und durch Farbe, Stoff, Beſätze, Länge u. ſ. w. der größten
Mannigfaltigkeit fähig, wodurch man denn auch den Unterſchied der Stände
im ſechzehnten Jahrhundert ſogar ſchärfer und beſtimmter, als in irgend
einem früheren, bezeichnete. Als Talar iſt er das allgemeine Kleid der
Amtswürde, das noch heute z. B. im proteſtantiſchen Kirchenrock fort-
dauert. Das Wamms wurde zum Unterkleide. War ſo das Knappe, den
beengten Geiſt des Mittelalters bei aller Buntheit treu Bezeichnende aus
der Bekleidung des Rumpfes geſchwunden, ſo mußte dieſelbe Bewegung
auch das Beinkleid ergreifen. Man ſchlitzte es, um die Bewegung zu
erleichtern, an den Gelenken auf, ließ Sammt und Seide, bunte Zeuge

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[276/0288] durch das Getümmel der bäuriſchen Luſt, der bürgerlichen Rührigkeit, der ſoldatiſchen Wildheit, der vornehmen Ueppigkeit, der allgemeinen Leidenſchaft- lichkeit und entbundenen Sitte, in welche auch die allmählich ſtärkeren Ein- wirkungen der erneuten Kenntniß des Alterthums noch kein Maaß einzuführen vermögen. Die Culturformen ſuchen das Ausgeſchwungene, Luftige, Weite, Bunte, Bewegte und behandeln in dieſem Charakter auch das wiederaufgenommene Antike. Mit ſteigender Willkühr ändert die Mode das Einzelne in dieſem allgemeinen Typus. 1. Der §. faßt Mehreres zuſammen, was im Bisherigen ſchon berührt iſt, und hebt als weiteren Zug die Verzweiflung, die Angſt vor dem jüngſten Gerichte, die Hexenprozeſſe hervor. Ebenſo ſtieg in Rom zur Zeit ſeiner Fäulniß ein ungeheurer Unfug der Zauberei, gemiſcht aus dem Aberglauben aller Völker, auf; es iſt der Wahnſinn, der ſich erzeugt, wenn eine Welt verſinkt und eine neue in den Geburtswehen liegt. Der entſeſſelte Egoiſmus gab dem Aberglauben den Zweck der Habgier, der Selbſtſucht; Alchymie, Magie, Aſtrologie kamen an die Tagesordnung. Die Welt ſcheint verrückt, alte Einfalt verſchwindet, Cyniſmus, Natura- liſmus und raffinirter Luxus arbeiten in die Wette. Die Genußſucht wird grenzenlos, der Aufwand der Großen faſt unüberſchwenglich, fremde Speiſen, „Schleckbißlein,“ Gewürze, Weine überſchwemmen die Tafel, die Deutſchen werden als ſchreckliche Säufer noch berüchtigter, als vorher; neue Krankheiten dringen ein und ſcheinen eine Strafe des Himmels, der Weltuntergang ſcheint nahe. Die Hexenprozeſſe ſind ein Stoff voll dunkeln Wahnſinns und teufliſcher Bosheit, die wie ein Geſpenſt den Unſchuldigen, der im Momente des Verdachts unrettbar verloren iſt, erfaßt und ver- nichtet. Tiecks Hexenſabbath. 2. Zu §. 364, 1. iſt ſchon bemerkt, wie das mittelalterliche Oberkleid, das immer vorn geſchloſſen war und daher über den Kopf angezogen werden mußte, vorn geöffnet und ſo zum bequemeren Rock wurde, in den man ſchlüpfen kann. Er floß noch frei, war nicht in die Taille geſchnitten und durch Farbe, Stoff, Beſätze, Länge u. ſ. w. der größten Mannigfaltigkeit fähig, wodurch man denn auch den Unterſchied der Stände im ſechzehnten Jahrhundert ſogar ſchärfer und beſtimmter, als in irgend einem früheren, bezeichnete. Als Talar iſt er das allgemeine Kleid der Amtswürde, das noch heute z. B. im proteſtantiſchen Kirchenrock fort- dauert. Das Wamms wurde zum Unterkleide. War ſo das Knappe, den beengten Geiſt des Mittelalters bei aller Buntheit treu Bezeichnende aus der Bekleidung des Rumpfes geſchwunden, ſo mußte dieſelbe Bewegung auch das Beinkleid ergreifen. Man ſchlitzte es, um die Bewegung zu erleichtern, an den Gelenken auf, ließ Sammt und Seide, bunte Zeuge

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/288>, abgerufen am 22.11.2024.