Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
aus den Oeffnungen hervorsehen, trug dieselbe, aus einem Bedürfniß
aus den Oeffnungen hervorſehen, trug dieſelbe, aus einem Bedürfniß <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0289" n="277"/> aus den Oeffnungen hervorſehen, trug dieſelbe, aus einem Bedürfniß<lb/> entſtandene Zierde auf das Wamms über, das immer noch auch als Ober-<lb/> kleid ohne Rock, namentlich vom Landsknecht, getragen wurde, und ſo<lb/> entſtand die neue zerſchlitzte und vielfarbig gepuffte „zerflammte, zer-<lb/> hauene und zerſchnittene“ Tracht. Der Theil wucherte aber nun über<lb/> das Ganze her, das Enge verſchwand neben dem Aufgebauſchten und es<lb/> bildete ſich nach der Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts zugleich mit den<lb/> weiteren Aermeln des Wammſes die weite Pluderhoſe, die bis an das<lb/> Knie reichte, wo der enganliegende Strumpf begann. Man erkennt in<lb/> dieſer ganzen Veränderung eine völlige, organiſche, nicht blos decorative<lb/> Umgeſtaltung, durch ihren bequemeren, luftigeren Charakter ganz der<lb/> freieren Regung des Geiſtes im Reformationszeitalter entſprechend. Sie<lb/> iſt beſonders an den deutſchen und ſchweizeriſchen Landsknechten zu ſehen.<lb/> Die romaniſchen Völker ergreifen die neue Tracht und benützen ſie als<lb/> Motiv eines vielfachen neuen Luxus, der mit dem Eigenſinn der Mode<lb/> wieder Deutſchland beherrſcht; der Geiſt der allgemeinen Entfeßlung der<lb/> menſchlichen Triebe wirft ſich phantaſtiſch auf ſie und treibt ſie in die<lb/> bunteſten Ausſchweifungen. Manche verwandten bis 200 Ellen Zeng zu<lb/> ihren Hoſen. Selbſt die Lätze nehmen die verſchiedenſten Formen an,<lb/> „Ochſenköpf, Hundsfidelbögen, Schneckenhäuslein“ (Fiſchart) u. dergl.<lb/> Gegen das Ende des ſechzehnten Jahrhunderts zog ſich die phantaſtiſche<lb/> Form der Beinkleider wieder zuſammen, ſo daß ſie ohne Zerſchlitzung<lb/> u. dergl. in mäßiger Weite bis zum Knie liefen. Den Kopf ſchmückte<lb/> während der Dauer dieſer Tracht ein umfangreiches, ebenfalls geſchlitztes<lb/> und gepufftes Barett, das den ſchon eingedrungenen Filzhut faſt ver-<lb/> drängte. Er tritt in doppelter Form auf, in der abgeſtutzten Kegelform<lb/> (ähnlich wie noch heute) bei Vornehmeren, als breitkrempiger Schattenhut<lb/> beim Landvolk. Das Haar, das man im Mittelalter kurz geſchoren hatte,<lb/> wallte ſeit dem fünfzehnten Jahrhundert wieder freier, länger, wurde<lb/> aber in gerader Linie ringsum abgeſchnitten; den Bart ließ man wachſen.<lb/> Im ſechzehnten Jahrhundert aber kommt das ganz kurz abgeſchnittene<lb/> Haar auf, eine Tracht, die gewöhnlich von Franz <hi rendition="#aq">I</hi> abgeleitet wird;<lb/> damit verbindet ſich langer und ſpitzer Bart. Mit dieſer Reduction nun<lb/> und dem hofmäßig diplomatiſchen Charakter, den ſie trägt, harmonirt<lb/> vollſtändig eine vorübergehende Beſchränkung des Strebens nach dem<lb/> Weiten, Ausgeſchweiften, die in den letzten Decennien des ſechzehnten<lb/> Jahrhunderts von dem autokratiſch bigotten und höfiſchen Geiſte der<lb/> romaniſchen Völker, Hand in Hand mit der Reaction gegen die neue<lb/> geiſtige Bewegung, ausgieng: die ſogenannte ſpaniſche Tracht, denn<lb/> Spanien und der Geiſt Philipps <hi rendition="#aq">II</hi> war es vorzüglich, woher dieſe Form<lb/> ſich verbreitete. Von der Zerſchlitzung und Aufbauſchung behält dieſe Tracht<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [277/0289]
aus den Oeffnungen hervorſehen, trug dieſelbe, aus einem Bedürfniß
entſtandene Zierde auf das Wamms über, das immer noch auch als Ober-
kleid ohne Rock, namentlich vom Landsknecht, getragen wurde, und ſo
entſtand die neue zerſchlitzte und vielfarbig gepuffte „zerflammte, zer-
hauene und zerſchnittene“ Tracht. Der Theil wucherte aber nun über
das Ganze her, das Enge verſchwand neben dem Aufgebauſchten und es
bildete ſich nach der Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts zugleich mit den
weiteren Aermeln des Wammſes die weite Pluderhoſe, die bis an das
Knie reichte, wo der enganliegende Strumpf begann. Man erkennt in
dieſer ganzen Veränderung eine völlige, organiſche, nicht blos decorative
Umgeſtaltung, durch ihren bequemeren, luftigeren Charakter ganz der
freieren Regung des Geiſtes im Reformationszeitalter entſprechend. Sie
iſt beſonders an den deutſchen und ſchweizeriſchen Landsknechten zu ſehen.
Die romaniſchen Völker ergreifen die neue Tracht und benützen ſie als
Motiv eines vielfachen neuen Luxus, der mit dem Eigenſinn der Mode
wieder Deutſchland beherrſcht; der Geiſt der allgemeinen Entfeßlung der
menſchlichen Triebe wirft ſich phantaſtiſch auf ſie und treibt ſie in die
bunteſten Ausſchweifungen. Manche verwandten bis 200 Ellen Zeng zu
ihren Hoſen. Selbſt die Lätze nehmen die verſchiedenſten Formen an,
„Ochſenköpf, Hundsfidelbögen, Schneckenhäuslein“ (Fiſchart) u. dergl.
Gegen das Ende des ſechzehnten Jahrhunderts zog ſich die phantaſtiſche
Form der Beinkleider wieder zuſammen, ſo daß ſie ohne Zerſchlitzung
u. dergl. in mäßiger Weite bis zum Knie liefen. Den Kopf ſchmückte
während der Dauer dieſer Tracht ein umfangreiches, ebenfalls geſchlitztes
und gepufftes Barett, das den ſchon eingedrungenen Filzhut faſt ver-
drängte. Er tritt in doppelter Form auf, in der abgeſtutzten Kegelform
(ähnlich wie noch heute) bei Vornehmeren, als breitkrempiger Schattenhut
beim Landvolk. Das Haar, das man im Mittelalter kurz geſchoren hatte,
wallte ſeit dem fünfzehnten Jahrhundert wieder freier, länger, wurde
aber in gerader Linie ringsum abgeſchnitten; den Bart ließ man wachſen.
Im ſechzehnten Jahrhundert aber kommt das ganz kurz abgeſchnittene
Haar auf, eine Tracht, die gewöhnlich von Franz I abgeleitet wird;
damit verbindet ſich langer und ſpitzer Bart. Mit dieſer Reduction nun
und dem hofmäßig diplomatiſchen Charakter, den ſie trägt, harmonirt
vollſtändig eine vorübergehende Beſchränkung des Strebens nach dem
Weiten, Ausgeſchweiften, die in den letzten Decennien des ſechzehnten
Jahrhunderts von dem autokratiſch bigotten und höfiſchen Geiſte der
romaniſchen Völker, Hand in Hand mit der Reaction gegen die neue
geiſtige Bewegung, ausgieng: die ſogenannte ſpaniſche Tracht, denn
Spanien und der Geiſt Philipps II war es vorzüglich, woher dieſe Form
ſich verbreitete. Von der Zerſchlitzung und Aufbauſchung behält dieſe Tracht
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