aus den Oeffnungen hervorsehen, trug dieselbe, aus einem Bedürfniß entstandene Zierde auf das Wamms über, das immer noch auch als Ober- kleid ohne Rock, namentlich vom Landsknecht, getragen wurde, und so entstand die neue zerschlitzte und vielfarbig gepuffte "zerflammte, zer- hauene und zerschnittene" Tracht. Der Theil wucherte aber nun über das Ganze her, das Enge verschwand neben dem Aufgebauschten und es bildete sich nach der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts zugleich mit den weiteren Aermeln des Wammses die weite Pluderhose, die bis an das Knie reichte, wo der enganliegende Strumpf begann. Man erkennt in dieser ganzen Veränderung eine völlige, organische, nicht blos decorative Umgestaltung, durch ihren bequemeren, luftigeren Charakter ganz der freieren Regung des Geistes im Reformationszeitalter entsprechend. Sie ist besonders an den deutschen und schweizerischen Landsknechten zu sehen. Die romanischen Völker ergreifen die neue Tracht und benützen sie als Motiv eines vielfachen neuen Luxus, der mit dem Eigensinn der Mode wieder Deutschland beherrscht; der Geist der allgemeinen Entfeßlung der menschlichen Triebe wirft sich phantastisch auf sie und treibt sie in die buntesten Ausschweifungen. Manche verwandten bis 200 Ellen Zeng zu ihren Hosen. Selbst die Lätze nehmen die verschiedensten Formen an, "Ochsenköpf, Hundsfidelbögen, Schneckenhäuslein" (Fischart) u. dergl. Gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts zog sich die phantastische Form der Beinkleider wieder zusammen, so daß sie ohne Zerschlitzung u. dergl. in mäßiger Weite bis zum Knie liefen. Den Kopf schmückte während der Dauer dieser Tracht ein umfangreiches, ebenfalls geschlitztes und gepufftes Barett, das den schon eingedrungenen Filzhut fast ver- drängte. Er tritt in doppelter Form auf, in der abgestutzten Kegelform (ähnlich wie noch heute) bei Vornehmeren, als breitkrempiger Schattenhut beim Landvolk. Das Haar, das man im Mittelalter kurz geschoren hatte, wallte seit dem fünfzehnten Jahrhundert wieder freier, länger, wurde aber in gerader Linie ringsum abgeschnitten; den Bart ließ man wachsen. Im sechzehnten Jahrhundert aber kommt das ganz kurz abgeschnittene Haar auf, eine Tracht, die gewöhnlich von Franz I abgeleitet wird; damit verbindet sich langer und spitzer Bart. Mit dieser Reduction nun und dem hofmäßig diplomatischen Charakter, den sie trägt, harmonirt vollständig eine vorübergehende Beschränkung des Strebens nach dem Weiten, Ausgeschweiften, die in den letzten Decennien des sechzehnten Jahrhunderts von dem autokratisch bigotten und höfischen Geiste der romanischen Völker, Hand in Hand mit der Reaction gegen die neue geistige Bewegung, ausgieng: die sogenannte spanische Tracht, denn Spanien und der Geist Philipps II war es vorzüglich, woher diese Form sich verbreitete. Von der Zerschlitzung und Aufbauschung behält diese Tracht
aus den Oeffnungen hervorſehen, trug dieſelbe, aus einem Bedürfniß entſtandene Zierde auf das Wamms über, das immer noch auch als Ober- kleid ohne Rock, namentlich vom Landsknecht, getragen wurde, und ſo entſtand die neue zerſchlitzte und vielfarbig gepuffte „zerflammte, zer- hauene und zerſchnittene“ Tracht. Der Theil wucherte aber nun über das Ganze her, das Enge verſchwand neben dem Aufgebauſchten und es bildete ſich nach der Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts zugleich mit den weiteren Aermeln des Wammſes die weite Pluderhoſe, die bis an das Knie reichte, wo der enganliegende Strumpf begann. Man erkennt in dieſer ganzen Veränderung eine völlige, organiſche, nicht blos decorative Umgeſtaltung, durch ihren bequemeren, luftigeren Charakter ganz der freieren Regung des Geiſtes im Reformationszeitalter entſprechend. Sie iſt beſonders an den deutſchen und ſchweizeriſchen Landsknechten zu ſehen. Die romaniſchen Völker ergreifen die neue Tracht und benützen ſie als Motiv eines vielfachen neuen Luxus, der mit dem Eigenſinn der Mode wieder Deutſchland beherrſcht; der Geiſt der allgemeinen Entfeßlung der menſchlichen Triebe wirft ſich phantaſtiſch auf ſie und treibt ſie in die bunteſten Ausſchweifungen. Manche verwandten bis 200 Ellen Zeng zu ihren Hoſen. Selbſt die Lätze nehmen die verſchiedenſten Formen an, „Ochſenköpf, Hundsfidelbögen, Schneckenhäuslein“ (Fiſchart) u. dergl. Gegen das Ende des ſechzehnten Jahrhunderts zog ſich die phantaſtiſche Form der Beinkleider wieder zuſammen, ſo daß ſie ohne Zerſchlitzung u. dergl. in mäßiger Weite bis zum Knie liefen. Den Kopf ſchmückte während der Dauer dieſer Tracht ein umfangreiches, ebenfalls geſchlitztes und gepufftes Barett, das den ſchon eingedrungenen Filzhut faſt ver- drängte. Er tritt in doppelter Form auf, in der abgeſtutzten Kegelform (ähnlich wie noch heute) bei Vornehmeren, als breitkrempiger Schattenhut beim Landvolk. Das Haar, das man im Mittelalter kurz geſchoren hatte, wallte ſeit dem fünfzehnten Jahrhundert wieder freier, länger, wurde aber in gerader Linie ringsum abgeſchnitten; den Bart ließ man wachſen. Im ſechzehnten Jahrhundert aber kommt das ganz kurz abgeſchnittene Haar auf, eine Tracht, die gewöhnlich von Franz I abgeleitet wird; damit verbindet ſich langer und ſpitzer Bart. Mit dieſer Reduction nun und dem hofmäßig diplomatiſchen Charakter, den ſie trägt, harmonirt vollſtändig eine vorübergehende Beſchränkung des Strebens nach dem Weiten, Ausgeſchweiften, die in den letzten Decennien des ſechzehnten Jahrhunderts von dem autokratiſch bigotten und höfiſchen Geiſte der romaniſchen Völker, Hand in Hand mit der Reaction gegen die neue geiſtige Bewegung, ausgieng: die ſogenannte ſpaniſche Tracht, denn Spanien und der Geiſt Philipps II war es vorzüglich, woher dieſe Form ſich verbreitete. Von der Zerſchlitzung und Aufbauſchung behält dieſe Tracht
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aus den Oeffnungen hervorſehen, trug dieſelbe, aus einem Bedürfniß
entſtandene Zierde auf das Wamms über, das immer noch auch als Ober-
kleid ohne Rock, namentlich vom Landsknecht, getragen wurde, und ſo
entſtand die neue zerſchlitzte und vielfarbig gepuffte „zerflammte, zer-
hauene und zerſchnittene“ Tracht. Der Theil wucherte aber nun über
das Ganze her, das Enge verſchwand neben dem Aufgebauſchten und es
bildete ſich nach der Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts zugleich mit den
weiteren Aermeln des Wammſes die weite Pluderhoſe, die bis an das
Knie reichte, wo der enganliegende Strumpf begann. Man erkennt in
dieſer ganzen Veränderung eine völlige, organiſche, nicht blos decorative
Umgeſtaltung, durch ihren bequemeren, luftigeren Charakter ganz der
freieren Regung des Geiſtes im Reformationszeitalter entſprechend. Sie
iſt beſonders an den deutſchen und ſchweizeriſchen Landsknechten zu ſehen.
Die romaniſchen Völker ergreifen die neue Tracht und benützen ſie als
Motiv eines vielfachen neuen Luxus, der mit dem Eigenſinn der Mode
wieder Deutſchland beherrſcht; der Geiſt der allgemeinen Entfeßlung der
menſchlichen Triebe wirft ſich phantaſtiſch auf ſie und treibt ſie in die
bunteſten Ausſchweifungen. Manche verwandten bis 200 Ellen Zeng zu
ihren Hoſen. Selbſt die Lätze nehmen die verſchiedenſten Formen an,
„Ochſenköpf, Hundsfidelbögen, Schneckenhäuslein“ (Fiſchart) u. dergl.
Gegen das Ende des ſechzehnten Jahrhunderts zog ſich die phantaſtiſche
Form der Beinkleider wieder zuſammen, ſo daß ſie ohne Zerſchlitzung
u. dergl. in mäßiger Weite bis zum Knie liefen. Den Kopf ſchmückte
während der Dauer dieſer Tracht ein umfangreiches, ebenfalls geſchlitztes
und gepufftes Barett, das den ſchon eingedrungenen Filzhut faſt ver-
drängte. Er tritt in doppelter Form auf, in der abgeſtutzten Kegelform
(ähnlich wie noch heute) bei Vornehmeren, als breitkrempiger Schattenhut
beim Landvolk. Das Haar, das man im Mittelalter kurz geſchoren hatte,
wallte ſeit dem fünfzehnten Jahrhundert wieder freier, länger, wurde
aber in gerader Linie ringsum abgeſchnitten; den Bart ließ man wachſen.
Im ſechzehnten Jahrhundert aber kommt das ganz kurz abgeſchnittene
Haar auf, eine Tracht, die gewöhnlich von Franz I abgeleitet wird;
damit verbindet ſich langer und ſpitzer Bart. Mit dieſer Reduction nun
und dem hofmäßig diplomatiſchen Charakter, den ſie trägt, harmonirt
vollſtändig eine vorübergehende Beſchränkung des Strebens nach dem
Weiten, Ausgeſchweiften, die in den letzten Decennien des ſechzehnten
Jahrhunderts von dem autokratiſch bigotten und höfiſchen Geiſte der
romaniſchen Völker, Hand in Hand mit der Reaction gegen die neue
geiſtige Bewegung, ausgieng: die ſogenannte ſpaniſche Tracht, denn
Spanien und der Geiſt Philipps II war es vorzüglich, woher dieſe Form
ſich verbreitete. Von der Zerſchlitzung und Aufbauſchung behält dieſe Tracht
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/289>, abgerufen am 16.07.2024.
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