Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
ohne jene falsche Linie leistete, zur Weste geworden ist. Reich geblümt
ohne jene falſche Linie leiſtete, zur Weſte geworden iſt. Reich geblümt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0298" n="286"/> ohne jene falſche Linie leiſtete, zur Weſte geworden iſt. Reich geblümt<lb/> ſchneidet dieſe ſcharf in die tiefe Taille und ſchickt dann noch ihre langen<lb/> Schöße nach unten; aus ihrer Oeffnung quillt der Jabot, wie aus den<lb/> Rock- und Frack-Aermeln die Manſchetten, hervor. Selbſt die Hand<lb/> darf nicht mehr nackt erſcheinen, der Anſtand fordert Handſchuhe. Die<lb/> Beinkleider, unter Ludwig <hi rendition="#aq">XIV</hi> noch ziemlich weit, werden knapp<lb/> anliegend und gehen nur bis zum Knie, zeichnen aber immer das<lb/> Bein richtiger und ſchöner, als die jetzigen langen. Der Stiefel, an<lb/> dem das weit abſtehende, franzenbeſetzte Rohr verſchwindet, bleibt nur<lb/> dem Soldaten und Reiſenden; zur anſtändigen Tracht gehört der mit<lb/> Schnallen beſetzte Schuh. Frauen: langer, enger Schnürleib und Reifrock,<lb/> freche Entblößung des Buſens, Schminkpfläſterchen, Stelzſchuh. Die<lb/> Ueberbietung der Natur bäumt ſich aber vorzüglich im Gebirge der<lb/> Perrücke auf, die in der Mitte des ſiebzehnten Jahrhunderts herrſchend<lb/> wird und die feierliche Etikette des Zeitalters Ludwigs <hi rendition="#aq">XIV</hi> beſtimmt<lb/> genug bezeichnet. Der ſpätere Aufwurf des Puders, der anfangs ſilber-<lb/> blonde Haare nachahmen ſollte, gibt allen Köpfen jenen Ausdruck greiſen-<lb/> hafter Jugendlichkeit, den man durch <hi rendition="#aq">„adoucir les traits“</hi> bezeichnete. Der<lb/> Hut ſitzt als Dreimaſter auf dem Lockengebirge. Der Puder verſchwand<lb/> nicht ſo ſchnell, als Friedrich Wilhelm <hi rendition="#aq">I</hi> von Preußen es wagte, die<lb/> Perrücke, zunächſt im Militär, abzuſchaffen und die natürlichen Haare<lb/> hinten in einen Zopf zuſammenzufaſſen, eine Mode, die gegen die Mitte<lb/> des achtzehnten Jahrhunderts durchdrang. Mit dem ſüßlichen Ausſehen,<lb/> das der Puder gab, verſchwand der Bart, der in zwei ſchmalen Tupfen<lb/> noch die Oberlippen der Herren in der Allonge-Perrücke zierte, völlig,<lb/> das weibiſche Milchgeſicht war fertig. Nun ruhte man nicht, bis man<lb/> die einfachere neue Mode wieder in Schnörkel ausgedreht hatte: Tauben-<lb/> flügel, Haarbeutel. Der Zwang war verdoppelt, der eigene Kopf mußte<lb/> täglich ſtundenlang „gemartelt“ und den ganzen Tag peinlich geſchont<lb/> werden. Dennoch bewegten ſich die Köpfe munter auf dem freieren Halſe,<lb/> den zur Perrückenzeit gar kein Rockkragen, zur Haarbeutelzeit nur ein<lb/> ſtehender wenig genirte. Das jetzige Pferdekummet war noch nicht<lb/> erfunden. Gezwängt und tänzeriſch zugleich waren nun alle Formen.<lb/> Der Tanz ſelbſt — Menuett, Ecoſſaiſe u. dergl. — iſt gemeſſen zierlich<lb/> und hüpfend zugleich, in Gärten wird die wirkliche Natur geometriſch<lb/> geſchulmeiſtert, die Glocken tanzen im Glockenſpiel; in allen Formen der<lb/> Architektur, der Bildnerei in Geräthen, Ornamenten, Tapeten u. ſ. w.<lb/> herrſcht der verfaſerte und verblaſene Schnörkel, der ſich auf kein geome-<lb/> triſches und ſtatiſches Geſetz reduzirt, von der Ausbiegung nicht in Symmetrie<lb/> einlenkt, in ungewiſſen Umriſſen zerflattert: die andere Seite derſelben<lb/> Willkühr, welche die Natur ſo tyranniſch einzwängt; hier will ſie durch<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [286/0298]
ohne jene falſche Linie leiſtete, zur Weſte geworden iſt. Reich geblümt
ſchneidet dieſe ſcharf in die tiefe Taille und ſchickt dann noch ihre langen
Schöße nach unten; aus ihrer Oeffnung quillt der Jabot, wie aus den
Rock- und Frack-Aermeln die Manſchetten, hervor. Selbſt die Hand
darf nicht mehr nackt erſcheinen, der Anſtand fordert Handſchuhe. Die
Beinkleider, unter Ludwig XIV noch ziemlich weit, werden knapp
anliegend und gehen nur bis zum Knie, zeichnen aber immer das
Bein richtiger und ſchöner, als die jetzigen langen. Der Stiefel, an
dem das weit abſtehende, franzenbeſetzte Rohr verſchwindet, bleibt nur
dem Soldaten und Reiſenden; zur anſtändigen Tracht gehört der mit
Schnallen beſetzte Schuh. Frauen: langer, enger Schnürleib und Reifrock,
freche Entblößung des Buſens, Schminkpfläſterchen, Stelzſchuh. Die
Ueberbietung der Natur bäumt ſich aber vorzüglich im Gebirge der
Perrücke auf, die in der Mitte des ſiebzehnten Jahrhunderts herrſchend
wird und die feierliche Etikette des Zeitalters Ludwigs XIV beſtimmt
genug bezeichnet. Der ſpätere Aufwurf des Puders, der anfangs ſilber-
blonde Haare nachahmen ſollte, gibt allen Köpfen jenen Ausdruck greiſen-
hafter Jugendlichkeit, den man durch „adoucir les traits“ bezeichnete. Der
Hut ſitzt als Dreimaſter auf dem Lockengebirge. Der Puder verſchwand
nicht ſo ſchnell, als Friedrich Wilhelm I von Preußen es wagte, die
Perrücke, zunächſt im Militär, abzuſchaffen und die natürlichen Haare
hinten in einen Zopf zuſammenzufaſſen, eine Mode, die gegen die Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts durchdrang. Mit dem ſüßlichen Ausſehen,
das der Puder gab, verſchwand der Bart, der in zwei ſchmalen Tupfen
noch die Oberlippen der Herren in der Allonge-Perrücke zierte, völlig,
das weibiſche Milchgeſicht war fertig. Nun ruhte man nicht, bis man
die einfachere neue Mode wieder in Schnörkel ausgedreht hatte: Tauben-
flügel, Haarbeutel. Der Zwang war verdoppelt, der eigene Kopf mußte
täglich ſtundenlang „gemartelt“ und den ganzen Tag peinlich geſchont
werden. Dennoch bewegten ſich die Köpfe munter auf dem freieren Halſe,
den zur Perrückenzeit gar kein Rockkragen, zur Haarbeutelzeit nur ein
ſtehender wenig genirte. Das jetzige Pferdekummet war noch nicht
erfunden. Gezwängt und tänzeriſch zugleich waren nun alle Formen.
Der Tanz ſelbſt — Menuett, Ecoſſaiſe u. dergl. — iſt gemeſſen zierlich
und hüpfend zugleich, in Gärten wird die wirkliche Natur geometriſch
geſchulmeiſtert, die Glocken tanzen im Glockenſpiel; in allen Formen der
Architektur, der Bildnerei in Geräthen, Ornamenten, Tapeten u. ſ. w.
herrſcht der verfaſerte und verblaſene Schnörkel, der ſich auf kein geome-
triſches und ſtatiſches Geſetz reduzirt, von der Ausbiegung nicht in Symmetrie
einlenkt, in ungewiſſen Umriſſen zerflattert: die andere Seite derſelben
Willkühr, welche die Natur ſo tyranniſch einzwängt; hier will ſie durch
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