Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
galanten Herrn unter ihren Perücken hervor. Gewiß ist auch nicht zu
galanten Herrn unter ihren Perücken hervor. Gewiß iſt auch nicht zu <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0297" n="285"/> galanten Herrn unter ihren Perücken hervor. Gewiß iſt auch nicht zu<lb/> überſehen, daß die Spiegel immer allgemeiner in Gebrauch kamen. Wer<lb/> ſich oft im Spiegel ſieht, muß einen völlig anderen Ausdruck annehmen,<lb/> als der, dem dieſer Reflex des ſich ſelbſt Sehens nicht zur Gewohnheit<lb/> geworden. Die Formen gehen nun in den bekannten Charakter des Rokoko<lb/> über. So lächerlich uns dieſer jetzt erſcheint, ſo iſt doch vorauszuſchicken,<lb/> daß er keineswegs alles Naturkräftige und Objective bis zu dem Grade<lb/> abgeſtreift hat, wie die jetzige Welt. In der Tracht z. B. herrſchen noch<lb/> volle Farben, Treſſen von Gold und Silber, dadurch unterſcheiden ſich<lb/> Stände, Rangſtufen, wie es das äſthetiſche Intereſſe fordert. Alle gebildeten<lb/> Stände tragen noch die Wehre, die freilich zum zierlichen Degen ein-<lb/> geſchrumpft iſt. Die Umgangsformen ſind ſehr ceremoniös, lauter Titel,<lb/> Etikette, abgemeſſene Grazie, Compliment und Handkuß, aber das<lb/> Ceremoniöſe ſelbſt gibt noch den Unterſchieden der Geſellſchaft, der<lb/> Charaktere und Stimmungen weit beſtimmteren Ausdruck, als die jetzt all-<lb/> gemein verbreitete Kürze und Sparſamkeit aller äußeren Formen. Der Krieg<lb/> ſchleppt noch einen Ballaſt von Gepäcke, ſchweren Waffen, Gezelten, zum<lb/> Theil ſelbſt Stücken der Ritterrüſtung nach, der zwar unzweckmäßig, aber<lb/> darum eben nicht unäſthetiſch iſt. Als Prunkkleidung der Großen erſcheint<lb/> ſogar noch volle Rüſtung. So hart mechaniſch auch die preußiſche Dreſſur,<lb/> der Zopf- und Kamaſchen-Dienſt ſein mochte, es war in dieſen Soldaten<lb/> doch noch mehr von dem derben und ſchweren Kaliber der alten Lands-<lb/> knechte, das dem Künſtler ungleich günſtiger iſt, als die jetzigen Formen.<lb/> Uebrigens iſt der Kriegsdienſt bereits zum Zwangsdienſte geworden, nicht<lb/> mehr allgemeine Wehrpflicht, nicht mehr Vaſallendienſt, nicht mehr Gewerbe,<lb/> ſondern Verdammniß geworbener, dann conſcribirter Maſchinen, die für<lb/> die Qualen barbariſcher Dreſſur den Vortheil der Ehre eines ſogenannten<lb/> exceptionellen <hi rendition="#g">Standes</hi> genießen. — In Wald und Feld iſt noch Wild,<lb/> man ſieht noch, wie ein Hirſch, ein Eber ausſieht. — Uebrigens iſt der<lb/> allgemeine Charakter des Rokoko: Verbindung von Einzwängung und<lb/> Schnörkel, beides dem Prinzip der Wohlweisheit entſprungen, welche die<lb/> Natur verbeſſern will. Der Hut wird zum Dreimaſter, der Rock wird<lb/> in die Taille geſchnitten, mit Taſchen verſehen, mit Knöpfen, mit Treſſen<lb/> beſetzt und aus ihm geht nach den Zeiten Ludwigs <hi rendition="#aq">XIV</hi> durch Ein-<lb/> ſchlagung der Schöße der Frack hervor. Dieſes Spottgebilde, das durch<lb/> eine ſchief über die Schenkel laufende Linie die organiſche Körperform<lb/> verwirrend zerſchneidet und deſſen Schwänze nur für die proſaiſchen<lb/><hi rendition="#g">Taſchen</hi> dazuſein ſcheinen, die das Mittelalter ſo viel ſchöner als beſonderes<lb/> Anhängſel an zierlichen Riemchen oder Kettchen führte, hält ſich noch<lb/> heute dadurch, daß man außer dem Rock noch ein leichteres Kleid will,<lb/> das die männliche Taille offen zeigt, das Wamms aber, das dieſen Dienſt<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [285/0297]
galanten Herrn unter ihren Perücken hervor. Gewiß iſt auch nicht zu
überſehen, daß die Spiegel immer allgemeiner in Gebrauch kamen. Wer
ſich oft im Spiegel ſieht, muß einen völlig anderen Ausdruck annehmen,
als der, dem dieſer Reflex des ſich ſelbſt Sehens nicht zur Gewohnheit
geworden. Die Formen gehen nun in den bekannten Charakter des Rokoko
über. So lächerlich uns dieſer jetzt erſcheint, ſo iſt doch vorauszuſchicken,
daß er keineswegs alles Naturkräftige und Objective bis zu dem Grade
abgeſtreift hat, wie die jetzige Welt. In der Tracht z. B. herrſchen noch
volle Farben, Treſſen von Gold und Silber, dadurch unterſcheiden ſich
Stände, Rangſtufen, wie es das äſthetiſche Intereſſe fordert. Alle gebildeten
Stände tragen noch die Wehre, die freilich zum zierlichen Degen ein-
geſchrumpft iſt. Die Umgangsformen ſind ſehr ceremoniös, lauter Titel,
Etikette, abgemeſſene Grazie, Compliment und Handkuß, aber das
Ceremoniöſe ſelbſt gibt noch den Unterſchieden der Geſellſchaft, der
Charaktere und Stimmungen weit beſtimmteren Ausdruck, als die jetzt all-
gemein verbreitete Kürze und Sparſamkeit aller äußeren Formen. Der Krieg
ſchleppt noch einen Ballaſt von Gepäcke, ſchweren Waffen, Gezelten, zum
Theil ſelbſt Stücken der Ritterrüſtung nach, der zwar unzweckmäßig, aber
darum eben nicht unäſthetiſch iſt. Als Prunkkleidung der Großen erſcheint
ſogar noch volle Rüſtung. So hart mechaniſch auch die preußiſche Dreſſur,
der Zopf- und Kamaſchen-Dienſt ſein mochte, es war in dieſen Soldaten
doch noch mehr von dem derben und ſchweren Kaliber der alten Lands-
knechte, das dem Künſtler ungleich günſtiger iſt, als die jetzigen Formen.
Uebrigens iſt der Kriegsdienſt bereits zum Zwangsdienſte geworden, nicht
mehr allgemeine Wehrpflicht, nicht mehr Vaſallendienſt, nicht mehr Gewerbe,
ſondern Verdammniß geworbener, dann conſcribirter Maſchinen, die für
die Qualen barbariſcher Dreſſur den Vortheil der Ehre eines ſogenannten
exceptionellen Standes genießen. — In Wald und Feld iſt noch Wild,
man ſieht noch, wie ein Hirſch, ein Eber ausſieht. — Uebrigens iſt der
allgemeine Charakter des Rokoko: Verbindung von Einzwängung und
Schnörkel, beides dem Prinzip der Wohlweisheit entſprungen, welche die
Natur verbeſſern will. Der Hut wird zum Dreimaſter, der Rock wird
in die Taille geſchnitten, mit Taſchen verſehen, mit Knöpfen, mit Treſſen
beſetzt und aus ihm geht nach den Zeiten Ludwigs XIV durch Ein-
ſchlagung der Schöße der Frack hervor. Dieſes Spottgebilde, das durch
eine ſchief über die Schenkel laufende Linie die organiſche Körperform
verwirrend zerſchneidet und deſſen Schwänze nur für die proſaiſchen
Taſchen dazuſein ſcheinen, die das Mittelalter ſo viel ſchöner als beſonderes
Anhängſel an zierlichen Riemchen oder Kettchen führte, hält ſich noch
heute dadurch, daß man außer dem Rock noch ein leichteres Kleid will,
das die männliche Taille offen zeigt, das Wamms aber, das dieſen Dienſt
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