merte, durch allzuharte Arbeit und schlechte Kost verkrümmte, in der Race gesunkene Bauer, der hungrige, verlumpte, murrende Fabrikarbeiter: wo man sie auf Märkten, in Wirthshäusern beisammen sieht, da findet das Auge nirgends die Formen schönen Volkslebens.
§. 376.
So in seinem Innern eine Welt, nach außen thatlos verzehrt sich das1 Individuum in sich, wird zerrissen und dann blasirt. Völlig naturlos verschließt es sich inmitten der Mittheilung. Gutes und Böses haßt die Fülle der Erscheinung; alle gesellige Bewegung wird flach und unwahr, Sinnlichkeit wird Lüsternheit, der Freude schämt man sich, Absichtlichkeit hebt allen Genuß auf. Den Culturformen hat die Zeit der Revolution auch jene Auswüchse (§. 373)2 abgestreift und völlige Kahlheit, armselige Knappheit, schmutzige Farblosigkeit, unstete Bettelei dagewesener Formen zum Gesetz erhoben, während zugleich eine Menge neuer Erfindungen aus einer Sphäre um die andere die lebendige Bethätigung der Individualität abschneidet.
1. Zerrissenheit ist die vorletzte, Blasirtheit die letzte Form. Die erstere folgte auf die Sentimentalität, welche uns erst in der Lehre von der Phantasie beschäftigen wird, allerdings aber bewegteres Leben auch in die Sitte, also in die Stoffwelt einführte. Die Kritik des enttäuschten Bewußtseins zerstörte sie und schuf die Form der Zerrissenheit. Da klagte das Subject noch, daß ihm in der Ueberladung der inneren Geisteswelt Täuschung um Täuschung hinabsank und wenigstens Selbstmord war noch Stoff. Dem Blasirten aber ist auch die Zerrissenheit noch eine Naivetät, eine Täuschung, ein Inhalt. Es wird nun im geselligen Leben Schande, die Leidenschaft, den Charakter, das Pathos herauszulassen, dieß wäre naiv. Indolenz ist der fashionable Ton, der kaum noch komische Behand- lung zuläßt (Bulwers Pelham). Alle Geselligkeit ist stumpf und eine Lüge geworden. Die Höflichkeit, die Ceremoniosität des vorigen Jahr- hunderts hatte noch Charakter; jetzt ist auch diese zur Naivetät und jeder Duft, jede Phantasie im Umgang, jede vollere Ausladung der Persön- lichkeit lächerlich geworden. Fast das Sprechen ist zu viel, man tafelt stundenlang lautlos wie das Vieh. Kaum kann man einen Fremden anreden, Jeder bleibt einsam in sich. Nicht Auffallen ist Prinzip, nach etwas Bestimmtem Aussehen ist gemein. Am kläglichsten sind die Ver- gnügungen; verschwunden sind die muntern Gesellschaftspiele, die gymna- stischen Unterhaltungen, unter denen wir z. B. das schöne Ballspiel nennen wollen, das noch heute bei den italienischen Balloneschlägern so herrliche Stellungen zeigt; das mercurialische Kartenspiel, das perfid schweigende,
19*
merte, durch allzuharte Arbeit und ſchlechte Koſt verkrümmte, in der Race geſunkene Bauer, der hungrige, verlumpte, murrende Fabrikarbeiter: wo man ſie auf Märkten, in Wirthshäuſern beiſammen ſieht, da findet das Auge nirgends die Formen ſchönen Volkslebens.
§. 376.
So in ſeinem Innern eine Welt, nach außen thatlos verzehrt ſich das1 Individuum in ſich, wird zerriſſen und dann blaſirt. Völlig naturlos verſchließt es ſich inmitten der Mittheilung. Gutes und Böſes haßt die Fülle der Erſcheinung; alle geſellige Bewegung wird flach und unwahr, Sinnlichkeit wird Lüſternheit, der Freude ſchämt man ſich, Abſichtlichkeit hebt allen Genuß auf. Den Culturformen hat die Zeit der Revolution auch jene Auswüchſe (§. 373)2 abgeſtreift und völlige Kahlheit, armſelige Knappheit, ſchmutzige Farbloſigkeit, unſtete Bettelei dageweſener Formen zum Geſetz erhoben, während zugleich eine Menge neuer Erfindungen aus einer Sphäre um die andere die lebendige Bethätigung der Individualität abſchneidet.
1. Zerriſſenheit iſt die vorletzte, Blaſirtheit die letzte Form. Die erſtere folgte auf die Sentimentalität, welche uns erſt in der Lehre von der Phantaſie beſchäftigen wird, allerdings aber bewegteres Leben auch in die Sitte, alſo in die Stoffwelt einführte. Die Kritik des enttäuſchten Bewußtſeins zerſtörte ſie und ſchuf die Form der Zerriſſenheit. Da klagte das Subject noch, daß ihm in der Ueberladung der inneren Geiſteswelt Täuſchung um Täuſchung hinabſank und wenigſtens Selbſtmord war noch Stoff. Dem Blaſirten aber iſt auch die Zerriſſenheit noch eine Naivetät, eine Täuſchung, ein Inhalt. Es wird nun im geſelligen Leben Schande, die Leidenſchaft, den Charakter, das Pathos herauszulaſſen, dieß wäre naiv. Indolenz iſt der faſhionable Ton, der kaum noch komiſche Behand- lung zuläßt (Bulwers Pelham). Alle Geſelligkeit iſt ſtumpf und eine Lüge geworden. Die Höflichkeit, die Ceremonioſität des vorigen Jahr- hunderts hatte noch Charakter; jetzt iſt auch dieſe zur Naivetät und jeder Duft, jede Phantaſie im Umgang, jede vollere Ausladung der Perſön- lichkeit lächerlich geworden. Faſt das Sprechen iſt zu viel, man tafelt ſtundenlang lautlos wie das Vieh. Kaum kann man einen Fremden anreden, Jeder bleibt einſam in ſich. Nicht Auffallen iſt Prinzip, nach etwas Beſtimmtem Ausſehen iſt gemein. Am kläglichſten ſind die Ver- gnügungen; verſchwunden ſind die muntern Geſellſchaftſpiele, die gymna- ſtiſchen Unterhaltungen, unter denen wir z. B. das ſchöne Ballſpiel nennen wollen, das noch heute bei den italieniſchen Balloneſchlägern ſo herrliche Stellungen zeigt; das mercurialiſche Kartenſpiel, das perfid ſchweigende,
19*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0303"n="291"/>
merte, durch allzuharte Arbeit und ſchlechte Koſt verkrümmte, in der<lb/>
Race geſunkene Bauer, der hungrige, verlumpte, murrende Fabrikarbeiter:<lb/>
wo man ſie auf Märkten, in Wirthshäuſern beiſammen ſieht, da findet<lb/>
das Auge nirgends die Formen ſchönen Volkslebens.</hi></p></div><lb/><divn="7"><head>§. 376.</head><lb/><p><hirendition="#fr">So in ſeinem Innern eine Welt, nach außen thatlos verzehrt ſich das<noteplace="right">1</note><lb/>
Individuum in ſich, wird zerriſſen und dann blaſirt. Völlig naturlos verſchließt<lb/>
es ſich inmitten der Mittheilung. Gutes und Böſes haßt die Fülle der<lb/>
Erſcheinung; alle geſellige Bewegung wird flach und unwahr, Sinnlichkeit wird<lb/>
Lüſternheit, der Freude ſchämt man ſich, Abſichtlichkeit hebt allen Genuß auf.<lb/>
Den Culturformen hat die Zeit der Revolution auch jene Auswüchſe (§. 373)<noteplace="right">2</note><lb/>
abgeſtreift und völlige Kahlheit, armſelige Knappheit, ſchmutzige Farbloſigkeit,<lb/>
unſtete Bettelei dageweſener Formen zum Geſetz erhoben, während zugleich<lb/>
eine Menge neuer Erfindungen aus einer Sphäre um die andere die lebendige<lb/>
Bethätigung der Individualität abſchneidet.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">1. Zerriſſenheit iſt die vorletzte, Blaſirtheit die letzte Form. Die<lb/>
erſtere folgte auf die Sentimentalität, welche uns erſt in der Lehre von<lb/>
der Phantaſie beſchäftigen wird, allerdings aber bewegteres Leben auch<lb/>
in die Sitte, alſo in die Stoffwelt einführte. Die Kritik des enttäuſchten<lb/>
Bewußtſeins zerſtörte ſie und ſchuf die Form der Zerriſſenheit. Da klagte<lb/>
das Subject noch, daß ihm in der Ueberladung der inneren Geiſteswelt<lb/>
Täuſchung um Täuſchung hinabſank und wenigſtens Selbſtmord war noch<lb/>
Stoff. Dem Blaſirten aber iſt auch die Zerriſſenheit noch eine Naivetät,<lb/>
eine Täuſchung, ein Inhalt. Es wird nun im geſelligen Leben Schande,<lb/>
die Leidenſchaft, den Charakter, das Pathos herauszulaſſen, dieß wäre<lb/>
naiv. Indolenz iſt der faſhionable Ton, der kaum noch komiſche Behand-<lb/>
lung zuläßt (Bulwers Pelham). Alle Geſelligkeit iſt ſtumpf und eine<lb/>
Lüge geworden. Die Höflichkeit, die Ceremonioſität des vorigen Jahr-<lb/>
hunderts hatte noch Charakter; jetzt iſt auch dieſe zur Naivetät und jeder<lb/>
Duft, jede Phantaſie im Umgang, jede vollere Ausladung der Perſön-<lb/>
lichkeit lächerlich geworden. Faſt das Sprechen iſt zu viel, man tafelt<lb/>ſtundenlang lautlos wie das Vieh. Kaum kann man einen Fremden<lb/>
anreden, Jeder bleibt einſam in ſich. Nicht Auffallen iſt Prinzip, nach<lb/>
etwas Beſtimmtem Ausſehen iſt gemein. Am kläglichſten ſind die Ver-<lb/>
gnügungen; verſchwunden ſind die muntern Geſellſchaftſpiele, die gymna-<lb/>ſtiſchen Unterhaltungen, unter denen wir z. B. das ſchöne Ballſpiel nennen<lb/>
wollen, das noch heute bei den italieniſchen Balloneſchlägern ſo herrliche<lb/>
Stellungen zeigt; das mercurialiſche Kartenſpiel, das perfid ſchweigende,</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig">19*</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[291/0303]
merte, durch allzuharte Arbeit und ſchlechte Koſt verkrümmte, in der
Race geſunkene Bauer, der hungrige, verlumpte, murrende Fabrikarbeiter:
wo man ſie auf Märkten, in Wirthshäuſern beiſammen ſieht, da findet
das Auge nirgends die Formen ſchönen Volkslebens.
§. 376.
So in ſeinem Innern eine Welt, nach außen thatlos verzehrt ſich das
Individuum in ſich, wird zerriſſen und dann blaſirt. Völlig naturlos verſchließt
es ſich inmitten der Mittheilung. Gutes und Böſes haßt die Fülle der
Erſcheinung; alle geſellige Bewegung wird flach und unwahr, Sinnlichkeit wird
Lüſternheit, der Freude ſchämt man ſich, Abſichtlichkeit hebt allen Genuß auf.
Den Culturformen hat die Zeit der Revolution auch jene Auswüchſe (§. 373)
abgeſtreift und völlige Kahlheit, armſelige Knappheit, ſchmutzige Farbloſigkeit,
unſtete Bettelei dageweſener Formen zum Geſetz erhoben, während zugleich
eine Menge neuer Erfindungen aus einer Sphäre um die andere die lebendige
Bethätigung der Individualität abſchneidet.
1. Zerriſſenheit iſt die vorletzte, Blaſirtheit die letzte Form. Die
erſtere folgte auf die Sentimentalität, welche uns erſt in der Lehre von
der Phantaſie beſchäftigen wird, allerdings aber bewegteres Leben auch
in die Sitte, alſo in die Stoffwelt einführte. Die Kritik des enttäuſchten
Bewußtſeins zerſtörte ſie und ſchuf die Form der Zerriſſenheit. Da klagte
das Subject noch, daß ihm in der Ueberladung der inneren Geiſteswelt
Täuſchung um Täuſchung hinabſank und wenigſtens Selbſtmord war noch
Stoff. Dem Blaſirten aber iſt auch die Zerriſſenheit noch eine Naivetät,
eine Täuſchung, ein Inhalt. Es wird nun im geſelligen Leben Schande,
die Leidenſchaft, den Charakter, das Pathos herauszulaſſen, dieß wäre
naiv. Indolenz iſt der faſhionable Ton, der kaum noch komiſche Behand-
lung zuläßt (Bulwers Pelham). Alle Geſelligkeit iſt ſtumpf und eine
Lüge geworden. Die Höflichkeit, die Ceremonioſität des vorigen Jahr-
hunderts hatte noch Charakter; jetzt iſt auch dieſe zur Naivetät und jeder
Duft, jede Phantaſie im Umgang, jede vollere Ausladung der Perſön-
lichkeit lächerlich geworden. Faſt das Sprechen iſt zu viel, man tafelt
ſtundenlang lautlos wie das Vieh. Kaum kann man einen Fremden
anreden, Jeder bleibt einſam in ſich. Nicht Auffallen iſt Prinzip, nach
etwas Beſtimmtem Ausſehen iſt gemein. Am kläglichſten ſind die Ver-
gnügungen; verſchwunden ſind die muntern Geſellſchaftſpiele, die gymna-
ſtiſchen Unterhaltungen, unter denen wir z. B. das ſchöne Ballſpiel nennen
wollen, das noch heute bei den italieniſchen Balloneſchlägern ſo herrliche
Stellungen zeigt; das mercurialiſche Kartenſpiel, das perfid ſchweigende,
19*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/303>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.