Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
aber er tritt viel zu wenig auf die Oberfläche, namentlich eben weil die §. 378. Das Bewußtsein aller dieser Uebel ist da und wächst. Der Drang der
aber er tritt viel zu wenig auf die Oberfläche, namentlich eben weil die §. 378. Das Bewußtſein aller dieſer Uebel iſt da und wächst. Der Drang der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0308" n="296"/> aber er tritt viel zu wenig auf die Oberfläche, namentlich eben weil die<lb/> Nationaltrachten ſchwinden. Es iſt aber überhaupt ſchon ſchlimm, wenn<lb/> die Schönheit auf Reiſen gehen muß; und hier tritt noch ein beſonderes<lb/> Uebel ein: was noch von ſchönen Formen beſteht, das ſind Formen eines<lb/> überlebten Gehalts. Alſo: die ſchönen Formen ſind nicht zeitgemäß, und<lb/> die zeitgemäßen ſind nicht ſchön. In der Heimath nun gibt bei aller<lb/> Schlechtigkeit der Form, ja durch ſie der entgötterte Zuſtand einigen<lb/> komiſchen Stoff, das Intrikenſpiel der Geſellſchaft u. ſ. w.; aber dieſe<lb/> Komik iſt dann ein Sublimat, ohne Saft und Fülle. Etwas Landleben<lb/> iſt noch übrig, dem aber wieder das Intereſſe der Zeitbewegung fehlt.<lb/> In der Noth greift man, da die polizeiwidrigen Figuren der Landſtreicher,<lb/> Räuber, Seiltänzer u. ſ. w. ausgebeutet ſind, nach dem Stoffe, den das<lb/> Leben der eigenen Kunſt-Collegen gibt: den Schickſalen der Dichter,<lb/> Maler u. ſ. w. Es iſt aber eine ſehr verdächtige Erſcheinung, wenn die<lb/> Kunſt ſich mit ſich ſelbſt beſchäftigt, eine Eitelkeit, Weichlichkeit, Selbſt-<lb/> beſpieglung. Weichlichkeit, weil in dieſen Stoffen zu wenig <hi rendition="#g">That</hi> iſt,<lb/> wie im Leben der Denker, vergl. §. 103. Alſo geht man in die Ver-<lb/> gangenheit. Das iſt an ſich ganz gut, denn der Stoff muß eine gewiſſe<lb/> Reife haben, er muß fertig, vergangen ſein; aber nicht gut iſt es, wenn<lb/> man um der ſchlechten Formen der Gegenwart willen genöthigt iſt, um<lb/> mehrere Jahrhunderte zurückzugreifen. Die Gegenwart nämlich hat nicht<lb/> nur für ihren eigenen Gehalt ſchlechte Formen, ſondern ſie entzieht uns<lb/> eben dadurch auch das Mittel, uns die lebendigeren Formen dieſer Ver-<lb/> gangenheit vorſtellig zu machen. Aus Trachtenbüchern, Zeughäuſern,<lb/> Rumpelkammern muß man ſich die Vorſtellung zuſammenſuchen, da ſieht<lb/> man aber jene Formen nur im todten Zuſtande wie ein anatomiſches<lb/> Präparat, und darnach ſchmeckt auch das Bild, das man zu Stande<lb/> bringt. Es iſt übel beſtellt, wenn man die Schönheit nicht zu Hauſe,<lb/> auf der Straße zur lebendigen Umgebung hat, nur vermittelſt der<lb/> unmittelbaren Anſchauung kann man ſich auch von der vergangenen<lb/> Schönheit ein Bild machen, die Gegenwart ſoll der Ort der fortwähren-<lb/> den, ungeſuchten Studien für den Künſtler ſein.</hi> </p> </div><lb/> <div n="7"> <head>§. 378.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Das Bewußtſein aller dieſer Uebel iſt da und wächst. Der Drang der<lb/> Zeit geht auf wahre Freiheit. Die eine Seite derſelben, die politiſche<lb/> Reform ſoll auch eine ſociale ſein; eine Haupturſache der Zerſtörung<lb/> aller Formen iſt die Armuth des Volks. Die andere Seite derſelben muß<lb/> Wiedereinführung des Subjects in objective Lebensform, Wiederherſtellung<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [296/0308]
aber er tritt viel zu wenig auf die Oberfläche, namentlich eben weil die
Nationaltrachten ſchwinden. Es iſt aber überhaupt ſchon ſchlimm, wenn
die Schönheit auf Reiſen gehen muß; und hier tritt noch ein beſonderes
Uebel ein: was noch von ſchönen Formen beſteht, das ſind Formen eines
überlebten Gehalts. Alſo: die ſchönen Formen ſind nicht zeitgemäß, und
die zeitgemäßen ſind nicht ſchön. In der Heimath nun gibt bei aller
Schlechtigkeit der Form, ja durch ſie der entgötterte Zuſtand einigen
komiſchen Stoff, das Intrikenſpiel der Geſellſchaft u. ſ. w.; aber dieſe
Komik iſt dann ein Sublimat, ohne Saft und Fülle. Etwas Landleben
iſt noch übrig, dem aber wieder das Intereſſe der Zeitbewegung fehlt.
In der Noth greift man, da die polizeiwidrigen Figuren der Landſtreicher,
Räuber, Seiltänzer u. ſ. w. ausgebeutet ſind, nach dem Stoffe, den das
Leben der eigenen Kunſt-Collegen gibt: den Schickſalen der Dichter,
Maler u. ſ. w. Es iſt aber eine ſehr verdächtige Erſcheinung, wenn die
Kunſt ſich mit ſich ſelbſt beſchäftigt, eine Eitelkeit, Weichlichkeit, Selbſt-
beſpieglung. Weichlichkeit, weil in dieſen Stoffen zu wenig That iſt,
wie im Leben der Denker, vergl. §. 103. Alſo geht man in die Ver-
gangenheit. Das iſt an ſich ganz gut, denn der Stoff muß eine gewiſſe
Reife haben, er muß fertig, vergangen ſein; aber nicht gut iſt es, wenn
man um der ſchlechten Formen der Gegenwart willen genöthigt iſt, um
mehrere Jahrhunderte zurückzugreifen. Die Gegenwart nämlich hat nicht
nur für ihren eigenen Gehalt ſchlechte Formen, ſondern ſie entzieht uns
eben dadurch auch das Mittel, uns die lebendigeren Formen dieſer Ver-
gangenheit vorſtellig zu machen. Aus Trachtenbüchern, Zeughäuſern,
Rumpelkammern muß man ſich die Vorſtellung zuſammenſuchen, da ſieht
man aber jene Formen nur im todten Zuſtande wie ein anatomiſches
Präparat, und darnach ſchmeckt auch das Bild, das man zu Stande
bringt. Es iſt übel beſtellt, wenn man die Schönheit nicht zu Hauſe,
auf der Straße zur lebendigen Umgebung hat, nur vermittelſt der
unmittelbaren Anſchauung kann man ſich auch von der vergangenen
Schönheit ein Bild machen, die Gegenwart ſoll der Ort der fortwähren-
den, ungeſuchten Studien für den Künſtler ſein.
§. 378.
Das Bewußtſein aller dieſer Uebel iſt da und wächst. Der Drang der
Zeit geht auf wahre Freiheit. Die eine Seite derſelben, die politiſche
Reform ſoll auch eine ſociale ſein; eine Haupturſache der Zerſtörung
aller Formen iſt die Armuth des Volks. Die andere Seite derſelben muß
Wiedereinführung des Subjects in objective Lebensform, Wiederherſtellung
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