Behandlung darum nicht unwerth, weil sie noch nicht adäquate Erschei- nung ist. Die Naturschönheit erstreckt sich über die ganze Welt und das Ideal ebenfalls.
§. 238.
Die Gebilde der verschiedenen Gattungen im Reiche des Naturschönen ziehen sich in unbestimmter Menge durch Raum und Zeit und finden sich auf einzelnen Räumen häufig in verworrenem Gedränge des Verschiedenartigen gleich- zeitig zusammen. Durch jenes ist die Begrenzung, durch dieses die Einheit der Idee aufgehoben, welche zum Schönen erfordert wird (§. 36.). Allein für die Begren- zung sorgen die Sinne des Betrachtenden, welche je nur einen Ausschnitt des unendlich Ausgedehnten fassen können, und dasselbe Glück des Zufalls, wodurch einzelne Individuen aus allen diesen Sphären als reine Bilder ihrer Gattung erscheinen, kann ebensogut auch auf einem einzelnen Raum in einer über- sehbaren Zeitdauer solche Erscheinungen zusammenführen, welche durch den Mittel- punkt einer bestimmten Idee sich zur Einheit verbinden.
Es geht aus diesem §. hervor, daß auch die Nothwendigkeit der Begren- zung und der Gruppirung um einen geistigen Mittelpunkt keineswegs unmittel- bar zum Ideale führt. Das Planetensystem ist kein Gegenstand der Schön- heit, weil es unübersehlich ist, die unendliche Zeit auch nicht. Uebersehlichkeit nämlich forderte nach §. 87. auch das Erhabene. Aber dafür sorgt, den glücklichen Zufall der Stellung, des Standpunkts natürlich vorausgesetzt, schon der Namen, den unsere Sinne ziehen, daß wir eben nur ein Begrenztes, einen Ausschnitt des unendlich Ergossenen sehen, der uns dasselbe vergegenwärtigt: Sternenhimmel u. dgl. Für die Einheit aber scheint, und auch dieser Schein ist vorerst noch streng festzuhalten, mehr der Zufall sorgen zu müssen. Jetzt zwar sehe ich auf Einem Raume ganz Ungleichartiges beieinander, was in keine Einheit zusammengeht, aber ein andermal treffe ich es besser: die unpassende Staffage hat sich aus der Landschaft entfernt, die Berge, Bäume, Luft, Wasser, Licht sind günstig, passend und vereinigen sich zu einem Ganzen, durch welches Eine Stimmung hindurchgeht. Interessante Schicksale eines Volks, eines Individuums ziehen sich, unterbrochen von langen, bedeutungs- losen Zwischenräumen, in lästige Länge hinaus; aber ein andermal bricht ein Silberblick der Geschichte hervor und drängt das Schicksal eines Volks, eines Einzelnen zu einem Drama von wenigen Tagen, ja Stunden zusammen, in denen ich mit der Gegenwart die ganze Vergangenheit durchschaue. Der Zufall scheint der erste componirende Künstler; er scheint es zu sein, der mir ein Ganzes so hinstellt, daß ein Hauptsubject darin wirkt, das mir in seiner Vollkommenheit die ganze Gattung vertritt, wie dieß zum Schönen erfordert wird. Uebrigens wirkt natürlich auch hier
Behandlung darum nicht unwerth, weil ſie noch nicht adäquate Erſchei- nung iſt. Die Naturſchönheit erſtreckt ſich über die ganze Welt und das Ideal ebenfalls.
§. 238.
Die Gebilde der verſchiedenen Gattungen im Reiche des Naturſchönen ziehen ſich in unbeſtimmter Menge durch Raum und Zeit und finden ſich auf einzelnen Räumen häufig in verworrenem Gedränge des Verſchiedenartigen gleich- zeitig zuſammen. Durch jenes iſt die Begrenzung, durch dieſes die Einheit der Idee aufgehoben, welche zum Schönen erfordert wird (§. 36.). Allein für die Begren- zung ſorgen die Sinne des Betrachtenden, welche je nur einen Ausſchnitt des unendlich Ausgedehnten faſſen können, und daſſelbe Glück des Zufalls, wodurch einzelne Individuen aus allen dieſen Sphären als reine Bilder ihrer Gattung erſcheinen, kann ebenſogut auch auf einem einzelnen Raum in einer über- ſehbaren Zeitdauer ſolche Erſcheinungen zuſammenführen, welche durch den Mittel- punkt einer beſtimmten Idee ſich zur Einheit verbinden.
Es geht aus dieſem §. hervor, daß auch die Nothwendigkeit der Begren- zung und der Gruppirung um einen geiſtigen Mittelpunkt keineswegs unmittel- bar zum Ideale führt. Das Planetenſyſtem iſt kein Gegenſtand der Schön- heit, weil es unüberſehlich iſt, die unendliche Zeit auch nicht. Ueberſehlichkeit nämlich forderte nach §. 87. auch das Erhabene. Aber dafür ſorgt, den glücklichen Zufall der Stellung, des Standpunkts natürlich vorausgeſetzt, ſchon der Namen, den unſere Sinne ziehen, daß wir eben nur ein Begrenztes, einen Ausſchnitt des unendlich Ergoſſenen ſehen, der uns dasſelbe vergegenwärtigt: Sternenhimmel u. dgl. Für die Einheit aber ſcheint, und auch dieſer Schein iſt vorerſt noch ſtreng feſtzuhalten, mehr der Zufall ſorgen zu müſſen. Jetzt zwar ſehe ich auf Einem Raume ganz Ungleichartiges beieinander, was in keine Einheit zuſammengeht, aber ein andermal treffe ich es beſſer: die unpaſſende Staffage hat ſich aus der Landſchaft entfernt, die Berge, Bäume, Luft, Waſſer, Licht ſind günſtig, paſſend und vereinigen ſich zu einem Ganzen, durch welches Eine Stimmung hindurchgeht. Intereſſante Schickſale eines Volks, eines Individuums ziehen ſich, unterbrochen von langen, bedeutungs- loſen Zwiſchenräumen, in läſtige Länge hinaus; aber ein andermal bricht ein Silberblick der Geſchichte hervor und drängt das Schickſal eines Volks, eines Einzelnen zu einem Drama von wenigen Tagen, ja Stunden zuſammen, in denen ich mit der Gegenwart die ganze Vergangenheit durchſchaue. Der Zufall ſcheint der erſte componirende Künſtler; er ſcheint es zu ſein, der mir ein Ganzes ſo hinſtellt, daß ein Hauptſubject darin wirkt, das mir in ſeiner Vollkommenheit die ganze Gattung vertritt, wie dieß zum Schönen erfordert wird. Uebrigens wirkt natürlich auch hier
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[21/0033]
Behandlung darum nicht unwerth, weil ſie noch nicht adäquate Erſchei-
nung iſt. Die Naturſchönheit erſtreckt ſich über die ganze Welt und das
Ideal ebenfalls.
§. 238.
Die Gebilde der verſchiedenen Gattungen im Reiche des Naturſchönen
ziehen ſich in unbeſtimmter Menge durch Raum und Zeit und finden ſich auf
einzelnen Räumen häufig in verworrenem Gedränge des Verſchiedenartigen gleich-
zeitig zuſammen. Durch jenes iſt die Begrenzung, durch dieſes die Einheit der
Idee aufgehoben, welche zum Schönen erfordert wird (§. 36.). Allein für die Begren-
zung ſorgen die Sinne des Betrachtenden, welche je nur einen Ausſchnitt des
unendlich Ausgedehnten faſſen können, und daſſelbe Glück des Zufalls, wodurch
einzelne Individuen aus allen dieſen Sphären als reine Bilder ihrer Gattung
erſcheinen, kann ebenſogut auch auf einem einzelnen Raum in einer über-
ſehbaren Zeitdauer ſolche Erſcheinungen zuſammenführen, welche durch den Mittel-
punkt einer beſtimmten Idee ſich zur Einheit verbinden.
Es geht aus dieſem §. hervor, daß auch die Nothwendigkeit der Begren-
zung und der Gruppirung um einen geiſtigen Mittelpunkt keineswegs unmittel-
bar zum Ideale führt. Das Planetenſyſtem iſt kein Gegenſtand der Schön-
heit, weil es unüberſehlich iſt, die unendliche Zeit auch nicht. Ueberſehlichkeit
nämlich forderte nach §. 87. auch das Erhabene. Aber dafür ſorgt, den
glücklichen Zufall der Stellung, des Standpunkts natürlich vorausgeſetzt, ſchon
der Namen, den unſere Sinne ziehen, daß wir eben nur ein Begrenztes, einen
Ausſchnitt des unendlich Ergoſſenen ſehen, der uns dasſelbe vergegenwärtigt:
Sternenhimmel u. dgl. Für die Einheit aber ſcheint, und auch dieſer Schein
iſt vorerſt noch ſtreng feſtzuhalten, mehr der Zufall ſorgen zu müſſen. Jetzt
zwar ſehe ich auf Einem Raume ganz Ungleichartiges beieinander, was in
keine Einheit zuſammengeht, aber ein andermal treffe ich es beſſer: die unpaſſende
Staffage hat ſich aus der Landſchaft entfernt, die Berge, Bäume, Luft,
Waſſer, Licht ſind günſtig, paſſend und vereinigen ſich zu einem Ganzen,
durch welches Eine Stimmung hindurchgeht. Intereſſante Schickſale eines
Volks, eines Individuums ziehen ſich, unterbrochen von langen, bedeutungs-
loſen Zwiſchenräumen, in läſtige Länge hinaus; aber ein andermal bricht
ein Silberblick der Geſchichte hervor und drängt das Schickſal eines Volks,
eines Einzelnen zu einem Drama von wenigen Tagen, ja Stunden
zuſammen, in denen ich mit der Gegenwart die ganze Vergangenheit
durchſchaue. Der Zufall ſcheint der erſte componirende Künſtler; er ſcheint
es zu ſein, der mir ein Ganzes ſo hinſtellt, daß ein Hauptſubject darin
wirkt, das mir in ſeiner Vollkommenheit die ganze Gattung vertritt, wie
dieß zum Schönen erfordert wird. Uebrigens wirkt natürlich auch hier
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/33>, abgerufen am 16.07.2024.
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