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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Stellenwechsel leuchtet namentlich dann in seiner Bestimmtheit ein, wenn
wir die Lebensalter und die Verhältnisse zu andern Individuen hinzuziehen.
Die zarte Gerte wird ein erhabener Baum, das männliche Kind Jüngling,
Mann, Greis u. s. w. Fast alle höheren Thiere, selbst die häßlichen, sind
im Spiele ihrer ersten Jugend anmuthig. Die Verhältnißstellung durch-
schneidet die Linie, welche durch das Grundgepräge der Gattungen gegeben
ist, mit unzählichen Zwischenlinien. Für eine Fliege ist ein Kolibri, die lieb-
liche Mutter ist für ihr Kind erhaben, ein hoher Verstand einem höheren
komisch u. s. w. Wir haben aber vor Allem die Gattungen im Ganzen
zu betrachten.

2. Eine Blume, ein lieblich gestaltetes Thier, ein Weib wird schwer
erhaben; das Weib wohl als Mutter, als Herrin, als Matrone, und wenn
es ausartet, durch Verwilderung im Sinne des Bösen (Häßlichen), also
Furchtbaren. Allein die Erhabenheit der ersteren Art ist doch schwach gegen
die energischeren Formen des männlich Erhabenen, die Verwilderung eine
dem Geschlechtscharakter grell widersprechende, seltene Erscheinung und dann
freilich durch diesen Widerspruch gespenstisch schauderhaft. Komisch wird
das Thier im Spiel u. dergl., das Kind, das Weib durch die Naivetät, die
ihm immer bleibt. Allein auch dieß sind schwache Uebergriffe, da das Kind,
das Weib zu den tieferen Kämpfen nicht fortgeht, wodurch die Komik in
ihrer Tiefe erst möglich wird. Es wird nun zur Thatsache, was in §. 73
gesagt ist: das einfach Schöne tritt in die Grenze der harmlosen Anmuth zurück,
da sein eines Moment, die Idee, in besonderen Existenzen sich in negativer
Uebermacht hervorthut. Dieß zeigt sich eben nirgends deutlicher als in der
Trennung der Geschlechter: das Weib steht auf der Seite des einfach
Schönen, der Mann des Erhabenen, und ebendaher ist dieser auch allein
der Komik in ihrer Tiefe, ihrem Umfang fähig. Im Ganzen kann man
sagen: Gattungen, deren Grundzug das einfach Schöne ist, werden weniger
durch ihre Entwicklungsformen, Lebensalter u. s. w. als durch Verhältniß-
stellungen in die gegensätzlichen Grundformen des Schönen übertreten.

3. Der Bär ist furchtbar durch Kraft und Wildheit, drollig durch
Schwerfälligkeit bei einigem Nachahmungs- und Spieltrieb, der Elephant
erhaben durch Masse und Kraft, drollig aus demselben Grunde, ähnlich
der Bullenbeißer und andere Thiere. Thiere, die nur komisch aufgefaßt
werden zu können scheinen, wenn sie nicht häßlich sein sollen, werden doch
auch furchtbar, wenn sie in Wuth kommen oder schauderhaft durch verzerrte
Nachahmung des Menschlichen wie der Affe. Wie die bedeutendere Gattung
sich auch durch die verschiedenen Grundformen des Schönen vollkommener
bewegt, zeigt freilich am reinsten der Mensch. Ein Berg, ein Baum kann
nur räumlich erhaben sein, ein Thier zugleich im Sinne der Kraft, und

Stellenwechſel leuchtet namentlich dann in ſeiner Beſtimmtheit ein, wenn
wir die Lebensalter und die Verhältniſſe zu andern Individuen hinzuziehen.
Die zarte Gerte wird ein erhabener Baum, das männliche Kind Jüngling,
Mann, Greis u. ſ. w. Faſt alle höheren Thiere, ſelbſt die häßlichen, ſind
im Spiele ihrer erſten Jugend anmuthig. Die Verhältnißſtellung durch-
ſchneidet die Linie, welche durch das Grundgepräge der Gattungen gegeben
iſt, mit unzählichen Zwiſchenlinien. Für eine Fliege iſt ein Kolibri, die lieb-
liche Mutter iſt für ihr Kind erhaben, ein hoher Verſtand einem höheren
komiſch u. ſ. w. Wir haben aber vor Allem die Gattungen im Ganzen
zu betrachten.

2. Eine Blume, ein lieblich geſtaltetes Thier, ein Weib wird ſchwer
erhaben; das Weib wohl als Mutter, als Herrin, als Matrone, und wenn
es ausartet, durch Verwilderung im Sinne des Böſen (Häßlichen), alſo
Furchtbaren. Allein die Erhabenheit der erſteren Art iſt doch ſchwach gegen
die energiſcheren Formen des männlich Erhabenen, die Verwilderung eine
dem Geſchlechtscharakter grell widerſprechende, ſeltene Erſcheinung und dann
freilich durch dieſen Widerſpruch geſpenſtiſch ſchauderhaft. Komiſch wird
das Thier im Spiel u. dergl., das Kind, das Weib durch die Naivetät, die
ihm immer bleibt. Allein auch dieß ſind ſchwache Uebergriffe, da das Kind,
das Weib zu den tieferen Kämpfen nicht fortgeht, wodurch die Komik in
ihrer Tiefe erſt möglich wird. Es wird nun zur Thatſache, was in §. 73
geſagt iſt: das einfach Schöne tritt in die Grenze der harmloſen Anmuth zurück,
da ſein eines Moment, die Idee, in beſonderen Exiſtenzen ſich in negativer
Uebermacht hervorthut. Dieß zeigt ſich eben nirgends deutlicher als in der
Trennung der Geſchlechter: das Weib ſteht auf der Seite des einfach
Schönen, der Mann des Erhabenen, und ebendaher iſt dieſer auch allein
der Komik in ihrer Tiefe, ihrem Umfang fähig. Im Ganzen kann man
ſagen: Gattungen, deren Grundzug das einfach Schöne iſt, werden weniger
durch ihre Entwicklungsformen, Lebensalter u. ſ. w. als durch Verhältniß-
ſtellungen in die gegenſätzlichen Grundformen des Schönen übertreten.

3. Der Bär iſt furchtbar durch Kraft und Wildheit, drollig durch
Schwerfälligkeit bei einigem Nachahmungs- und Spieltrieb, der Elephant
erhaben durch Maſſe und Kraft, drollig aus demſelben Grunde, ähnlich
der Bullenbeißer und andere Thiere. Thiere, die nur komiſch aufgefaßt
werden zu können ſcheinen, wenn ſie nicht häßlich ſein ſollen, werden doch
auch furchtbar, wenn ſie in Wuth kommen oder ſchauderhaft durch verzerrte
Nachahmung des Menſchlichen wie der Affe. Wie die bedeutendere Gattung
ſich auch durch die verſchiedenen Grundformen des Schönen vollkommener
bewegt, zeigt freilich am reinſten der Menſch. Ein Berg, ein Baum kann
nur räumlich erhaben ſein, ein Thier zugleich im Sinne der Kraft, und

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[23/0035] Stellenwechſel leuchtet namentlich dann in ſeiner Beſtimmtheit ein, wenn wir die Lebensalter und die Verhältniſſe zu andern Individuen hinzuziehen. Die zarte Gerte wird ein erhabener Baum, das männliche Kind Jüngling, Mann, Greis u. ſ. w. Faſt alle höheren Thiere, ſelbſt die häßlichen, ſind im Spiele ihrer erſten Jugend anmuthig. Die Verhältnißſtellung durch- ſchneidet die Linie, welche durch das Grundgepräge der Gattungen gegeben iſt, mit unzählichen Zwiſchenlinien. Für eine Fliege iſt ein Kolibri, die lieb- liche Mutter iſt für ihr Kind erhaben, ein hoher Verſtand einem höheren komiſch u. ſ. w. Wir haben aber vor Allem die Gattungen im Ganzen zu betrachten. 2. Eine Blume, ein lieblich geſtaltetes Thier, ein Weib wird ſchwer erhaben; das Weib wohl als Mutter, als Herrin, als Matrone, und wenn es ausartet, durch Verwilderung im Sinne des Böſen (Häßlichen), alſo Furchtbaren. Allein die Erhabenheit der erſteren Art iſt doch ſchwach gegen die energiſcheren Formen des männlich Erhabenen, die Verwilderung eine dem Geſchlechtscharakter grell widerſprechende, ſeltene Erſcheinung und dann freilich durch dieſen Widerſpruch geſpenſtiſch ſchauderhaft. Komiſch wird das Thier im Spiel u. dergl., das Kind, das Weib durch die Naivetät, die ihm immer bleibt. Allein auch dieß ſind ſchwache Uebergriffe, da das Kind, das Weib zu den tieferen Kämpfen nicht fortgeht, wodurch die Komik in ihrer Tiefe erſt möglich wird. Es wird nun zur Thatſache, was in §. 73 geſagt iſt: das einfach Schöne tritt in die Grenze der harmloſen Anmuth zurück, da ſein eines Moment, die Idee, in beſonderen Exiſtenzen ſich in negativer Uebermacht hervorthut. Dieß zeigt ſich eben nirgends deutlicher als in der Trennung der Geſchlechter: das Weib ſteht auf der Seite des einfach Schönen, der Mann des Erhabenen, und ebendaher iſt dieſer auch allein der Komik in ihrer Tiefe, ihrem Umfang fähig. Im Ganzen kann man ſagen: Gattungen, deren Grundzug das einfach Schöne iſt, werden weniger durch ihre Entwicklungsformen, Lebensalter u. ſ. w. als durch Verhältniß- ſtellungen in die gegenſätzlichen Grundformen des Schönen übertreten. 3. Der Bär iſt furchtbar durch Kraft und Wildheit, drollig durch Schwerfälligkeit bei einigem Nachahmungs- und Spieltrieb, der Elephant erhaben durch Maſſe und Kraft, drollig aus demſelben Grunde, ähnlich der Bullenbeißer und andere Thiere. Thiere, die nur komiſch aufgefaßt werden zu können ſcheinen, wenn ſie nicht häßlich ſein ſollen, werden doch auch furchtbar, wenn ſie in Wuth kommen oder ſchauderhaft durch verzerrte Nachahmung des Menſchlichen wie der Affe. Wie die bedeutendere Gattung ſich auch durch die verſchiedenen Grundformen des Schönen vollkommener bewegt, zeigt freilich am reinſten der Menſch. Ein Berg, ein Baum kann nur räumlich erhaben ſein, ein Thier zugleich im Sinne der Kraft, und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/35>, abgerufen am 23.11.2024.