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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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genommen; während sie daher an diesen eckige und harte Formen hervor-
bringt, kann sie dort den schönen Schwung des Umrisses erhöhen. Das
Schwemmland endlich, wo es nicht selbst noch von späteren Revolutionen
mit emporgerissen ist, wird durch seine weichen, thonigen, sandigen Massen,
welche durch Verwitterung sich nur immer mehr abrunden, durchaus die
Stelle einnehmen, die ihm der §. anweist.

§. 264.

1

Dieselben ästhetischen Gegensätze treten im Charakter der Thäler auf.
Sind sie durch sanftere Senkung, allmählige Ausspülung entstanden, so werden
sie heimlich und vertraulich, zeigen die schroffen und zerklüfteten Thalwände
auf Risse und Einstürze, auf gewaltsamen Durchbruch von Wassern hin, so
werden sie, besonders wenn sie sich zum wilden Paß, zur Schlucht verengen,
finster und drohend stimmen. Wilde Bergwasser pflegen noch diesen Charakter
zu erhöhen, wogegen im sanfteren, breiteren Thale die ruhigeren Flüsse ziehen.
Die Windungen schöner Thäler erregen Sehnsucht, hinein und weiter zu wan-
dern, wogegen die Halbkreise reizend geschwungener Becken und Golfe zum
Genuß der Ruhe einzuladen scheinen. In Thalsohlen und Ebenen sind wieder
die Formen der kleineren Vertiefungen, Senkungen, Hohlwege u. drgl. von
2nicht geringer ästhetischer Bedeutung. Uebrigens wirkt in allen diesen Formen
der Gebirge und Thäler die nähere Bestimmtheit der Oberfläche nach der Art
und Farbe des Gefüges, sowie Kahlheit oder Fruchtbarkeit wesentlich mit.

1. Mit dem Charakter der Gebirgsabfälle ist natürlich der Charakter
der Thäler auch schon gegeben, allein obwohl nur der Standpunkt des
Auges ein anderer ist, so bestimmt sich doch bei übrigens gleichem Charakter
eben durch diesen der ästhetische Eindruck ganz verschieden. Mit dem
Berge steigt Auge und Sinn empor; das Thal dagegen scheint uns in
seiner Tiefe empfangen, aufnehmen zu wollen, es lädt zur Ansiedlung,
zum Hineinwandern ein. Dieser Eindruck des Vertraulichen, Wohnlichen,
Hereinziehenden setzt natürlich sanfte Bildung voraus; ist ein Thal wild,
wie insbesondere im Gegensatz der Längenthäler die Queerthäler, welche
die Streichungslinie der Schichten durchbrechen, steile Felsen, zerbrochene
Schichtenköpfe zu Tage legen, so scheint es den Menschen erdrücken und
begraben zu wollen und ihn erhebt nur das Bewußtsein der Kraft, wenn
er sich diesen Schauern in die Arme wirft und diese Gewalten wie seine
eigenen fühlt. Hier stürzen in Reihen von Wasserfällen, zwischen über-
einandergeschleuderten Felsblöcken schäumend, ganze Felsmassen durch-
brechend und wie Kinderspiel umherwerfend die wilden Bergwasser. Bei
Golling hat die Salzach ganze Felsenmassen durchbrochen und stürzt durch

genommen; während ſie daher an dieſen eckige und harte Formen hervor-
bringt, kann ſie dort den ſchönen Schwung des Umriſſes erhöhen. Das
Schwemmland endlich, wo es nicht ſelbſt noch von ſpäteren Revolutionen
mit emporgeriſſen iſt, wird durch ſeine weichen, thonigen, ſandigen Maſſen,
welche durch Verwitterung ſich nur immer mehr abrunden, durchaus die
Stelle einnehmen, die ihm der §. anweist.

§. 264.

1

Dieſelben äſthetiſchen Gegenſätze treten im Charakter der Thäler auf.
Sind ſie durch ſanftere Senkung, allmählige Ausſpülung entſtanden, ſo werden
ſie heimlich und vertraulich, zeigen die ſchroffen und zerklüfteten Thalwände
auf Riſſe und Einſtürze, auf gewaltſamen Durchbruch von Waſſern hin, ſo
werden ſie, beſonders wenn ſie ſich zum wilden Paß, zur Schlucht verengen,
finſter und drohend ſtimmen. Wilde Bergwaſſer pflegen noch dieſen Charakter
zu erhöhen, wogegen im ſanfteren, breiteren Thale die ruhigeren Flüſſe ziehen.
Die Windungen ſchöner Thäler erregen Sehnſucht, hinein und weiter zu wan-
dern, wogegen die Halbkreiſe reizend geſchwungener Becken und Golfe zum
Genuß der Ruhe einzuladen ſcheinen. In Thalſohlen und Ebenen ſind wieder
die Formen der kleineren Vertiefungen, Senkungen, Hohlwege u. drgl. von
2nicht geringer äſthetiſcher Bedeutung. Uebrigens wirkt in allen dieſen Formen
der Gebirge und Thäler die nähere Beſtimmtheit der Oberfläche nach der Art
und Farbe des Gefüges, ſowie Kahlheit oder Fruchtbarkeit weſentlich mit.

1. Mit dem Charakter der Gebirgsabfälle iſt natürlich der Charakter
der Thäler auch ſchon gegeben, allein obwohl nur der Standpunkt des
Auges ein anderer iſt, ſo beſtimmt ſich doch bei übrigens gleichem Charakter
eben durch dieſen der äſthetiſche Eindruck ganz verſchieden. Mit dem
Berge ſteigt Auge und Sinn empor; das Thal dagegen ſcheint uns in
ſeiner Tiefe empfangen, aufnehmen zu wollen, es lädt zur Anſiedlung,
zum Hineinwandern ein. Dieſer Eindruck des Vertraulichen, Wohnlichen,
Hereinziehenden ſetzt natürlich ſanfte Bildung voraus; iſt ein Thal wild,
wie insbeſondere im Gegenſatz der Längenthäler die Queerthäler, welche
die Streichungslinie der Schichten durchbrechen, ſteile Felſen, zerbrochene
Schichtenköpfe zu Tage legen, ſo ſcheint es den Menſchen erdrücken und
begraben zu wollen und ihn erhebt nur das Bewußtſein der Kraft, wenn
er ſich dieſen Schauern in die Arme wirft und dieſe Gewalten wie ſeine
eigenen fühlt. Hier ſtürzen in Reihen von Waſſerfällen, zwiſchen über-
einandergeſchleuderten Felsblöcken ſchäumend, ganze Felsmaſſen durch-
brechend und wie Kinderſpiel umherwerfend die wilden Bergwaſſer. Bei
Golling hat die Salzach ganze Felſenmaſſen durchbrochen und ſtürzt durch

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[70/0082] genommen; während ſie daher an dieſen eckige und harte Formen hervor- bringt, kann ſie dort den ſchönen Schwung des Umriſſes erhöhen. Das Schwemmland endlich, wo es nicht ſelbſt noch von ſpäteren Revolutionen mit emporgeriſſen iſt, wird durch ſeine weichen, thonigen, ſandigen Maſſen, welche durch Verwitterung ſich nur immer mehr abrunden, durchaus die Stelle einnehmen, die ihm der §. anweist. §. 264. Dieſelben äſthetiſchen Gegenſätze treten im Charakter der Thäler auf. Sind ſie durch ſanftere Senkung, allmählige Ausſpülung entſtanden, ſo werden ſie heimlich und vertraulich, zeigen die ſchroffen und zerklüfteten Thalwände auf Riſſe und Einſtürze, auf gewaltſamen Durchbruch von Waſſern hin, ſo werden ſie, beſonders wenn ſie ſich zum wilden Paß, zur Schlucht verengen, finſter und drohend ſtimmen. Wilde Bergwaſſer pflegen noch dieſen Charakter zu erhöhen, wogegen im ſanfteren, breiteren Thale die ruhigeren Flüſſe ziehen. Die Windungen ſchöner Thäler erregen Sehnſucht, hinein und weiter zu wan- dern, wogegen die Halbkreiſe reizend geſchwungener Becken und Golfe zum Genuß der Ruhe einzuladen ſcheinen. In Thalſohlen und Ebenen ſind wieder die Formen der kleineren Vertiefungen, Senkungen, Hohlwege u. drgl. von nicht geringer äſthetiſcher Bedeutung. Uebrigens wirkt in allen dieſen Formen der Gebirge und Thäler die nähere Beſtimmtheit der Oberfläche nach der Art und Farbe des Gefüges, ſowie Kahlheit oder Fruchtbarkeit weſentlich mit. 1. Mit dem Charakter der Gebirgsabfälle iſt natürlich der Charakter der Thäler auch ſchon gegeben, allein obwohl nur der Standpunkt des Auges ein anderer iſt, ſo beſtimmt ſich doch bei übrigens gleichem Charakter eben durch dieſen der äſthetiſche Eindruck ganz verſchieden. Mit dem Berge ſteigt Auge und Sinn empor; das Thal dagegen ſcheint uns in ſeiner Tiefe empfangen, aufnehmen zu wollen, es lädt zur Anſiedlung, zum Hineinwandern ein. Dieſer Eindruck des Vertraulichen, Wohnlichen, Hereinziehenden ſetzt natürlich ſanfte Bildung voraus; iſt ein Thal wild, wie insbeſondere im Gegenſatz der Längenthäler die Queerthäler, welche die Streichungslinie der Schichten durchbrechen, ſteile Felſen, zerbrochene Schichtenköpfe zu Tage legen, ſo ſcheint es den Menſchen erdrücken und begraben zu wollen und ihn erhebt nur das Bewußtſein der Kraft, wenn er ſich dieſen Schauern in die Arme wirft und dieſe Gewalten wie ſeine eigenen fühlt. Hier ſtürzen in Reihen von Waſſerfällen, zwiſchen über- einandergeſchleuderten Felsblöcken ſchäumend, ganze Felsmaſſen durch- brechend und wie Kinderſpiel umherwerfend die wilden Bergwaſſer. Bei Golling hat die Salzach ganze Felſenmaſſen durchbrochen und ſtürzt durch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/82>, abgerufen am 21.11.2024.