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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Krystall die Stoffe um einen Mittelpunkt bindet, um das so entstandene
Gebilde todt liegen zu lassen, sondern in einem fortdauernden, durch ein
Ganzes von Organen vermittelten Prozesse das vorher frei Irrende, die
Potenzen der unorganischen Natur, in sich hereinnimmt, zu einem Innern
macht, umwandelt und daraus eben sich selbst und dieselben Organe,
welche fortdauernd den Prozeß erneuern, bildet, in steter Verzehrung stets
neu bildet und aus der reifen Fülle seines Ganzen neue Individuen
selbständig erzeugt: denn mit dem organischen Leben ist auch die innere
Entgegensetzung in Individuen verschiedenen Geschlechts oder in die Organe
der Geschlechtsdifferenz an Einem Individuum da, womit die Erhaltung der
Art durch Zeugung neuer Individuen ihr selbst übergeben ist. Dieß Alles
wäre jedoch noch nicht derselbe unendliche Fortschritt für das ästhetische
Gebiet, wie er es für das naturwissenschaftliche ist, wenn es nicht auch
in die Augen träte. Nun ist zwar die saugende Wurzel dem Auge ver-
borgen (denn von den sogenannten Luftwurzeln kann als einer Seltsamkeit
hier nicht die Rede werden), aber schon dem Stamme sieht man an, daß
er die Krone des ganzen Gebildes dem Lichte und der Luft entgegenzu-
heben bestimmt ist. Seine vermittelnde Bedeutung als Saftleiter verbirgt
zwar bei den baumartigen Pflanzen die Rinde und stellt diesen holzigen
Theil als denjenigen dar, der am meisten noch an Unorganisches erinnert,
aber die strebenden Bildungen der Zweige und Aeste und die saftig durch-
sichtige Färbung der Blätter sagen dem Auge, daß auch dort geheimes
Leben sein muß, dasselbe Saftleben, das dem Ganzen jenen feuchten,
treibenden, frischen, thauigen, dünstenden Charakter der Pflanze gibt.
Zweige und Blätter insbesondere lassen in ihrem zarteren, durchscheinenden
Gewebe schon unmittelbarer das Wesen der Pflanze als eines Zellen- und
Röhrengebildes für circulirende Säfte erkennen. Daß die Blätter wesentlich
athmende Organe sind, erkennt freilich im strengeren Sinne nur der
Botaniker, der ihre Spaltenöffnungen untersucht hat, aber ihr ewig
bewegter Verkehr mit Licht und Luft läßt doch auch bei der unmittelbaren
Anschauung eine solche Bedeutung ahnen. So haben also die bisher
dargestellten Elemente der Landschaft ihren zusammenfassenden Mittelpunkt,
in den sie eingehen, so zu sagen ihr Punktum, ihren letzten Druck gefunden
und daher ist es auch, -- wovon weiter die Rede sein muß --, die
Pflanzenwelt, welche der Landschaft erst ihre ganze Physiognomie gibt.

§. 271.

1

Diese Bedeutung des Organischen als einer selbstthätigen, die unorganische
Natur in ihr Eigenthum verwandelnden und daraus ihr gegliedertes Gebilde
bauenden Einheit ist jedoch in der Pflanze nur auf die erste und dürftigste

Kryſtall die Stoffe um einen Mittelpunkt bindet, um das ſo entſtandene
Gebilde todt liegen zu laſſen, ſondern in einem fortdauernden, durch ein
Ganzes von Organen vermittelten Prozeſſe das vorher frei Irrende, die
Potenzen der unorganiſchen Natur, in ſich hereinnimmt, zu einem Innern
macht, umwandelt und daraus eben ſich ſelbſt und dieſelben Organe,
welche fortdauernd den Prozeß erneuern, bildet, in ſteter Verzehrung ſtets
neu bildet und aus der reifen Fülle ſeines Ganzen neue Individuen
ſelbſtändig erzeugt: denn mit dem organiſchen Leben iſt auch die innere
Entgegenſetzung in Individuen verſchiedenen Geſchlechts oder in die Organe
der Geſchlechtsdifferenz an Einem Individuum da, womit die Erhaltung der
Art durch Zeugung neuer Individuen ihr ſelbſt übergeben iſt. Dieß Alles
wäre jedoch noch nicht derſelbe unendliche Fortſchritt für das äſthetiſche
Gebiet, wie er es für das naturwiſſenſchaftliche iſt, wenn es nicht auch
in die Augen träte. Nun iſt zwar die ſaugende Wurzel dem Auge ver-
borgen (denn von den ſogenannten Luftwurzeln kann als einer Seltſamkeit
hier nicht die Rede werden), aber ſchon dem Stamme ſieht man an, daß
er die Krone des ganzen Gebildes dem Lichte und der Luft entgegenzu-
heben beſtimmt iſt. Seine vermittelnde Bedeutung als Saftleiter verbirgt
zwar bei den baumartigen Pflanzen die Rinde und ſtellt dieſen holzigen
Theil als denjenigen dar, der am meiſten noch an Unorganiſches erinnert,
aber die ſtrebenden Bildungen der Zweige und Aeſte und die ſaftig durch-
ſichtige Färbung der Blätter ſagen dem Auge, daß auch dort geheimes
Leben ſein muß, dasſelbe Saftleben, das dem Ganzen jenen feuchten,
treibenden, friſchen, thauigen, dünſtenden Charakter der Pflanze gibt.
Zweige und Blätter insbeſondere laſſen in ihrem zarteren, durchſcheinenden
Gewebe ſchon unmittelbarer das Weſen der Pflanze als eines Zellen- und
Röhrengebildes für circulirende Säfte erkennen. Daß die Blätter weſentlich
athmende Organe ſind, erkennt freilich im ſtrengeren Sinne nur der
Botaniker, der ihre Spaltenöffnungen unterſucht hat, aber ihr ewig
bewegter Verkehr mit Licht und Luft läßt doch auch bei der unmittelbaren
Anſchauung eine ſolche Bedeutung ahnen. So haben alſo die bisher
dargeſtellten Elemente der Landſchaft ihren zuſammenfaſſenden Mittelpunkt,
in den ſie eingehen, ſo zu ſagen ihr Punktum, ihren letzten Druck gefunden
und daher iſt es auch, — wovon weiter die Rede ſein muß —, die
Pflanzenwelt, welche der Landſchaft erſt ihre ganze Phyſiognomie gibt.

§. 271.

1

Dieſe Bedeutung des Organiſchen als einer ſelbſtthätigen, die unorganiſche
Natur in ihr Eigenthum verwandelnden und daraus ihr gegliedertes Gebilde
bauenden Einheit iſt jedoch in der Pflanze nur auf die erſte und dürftigſte

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[80/0092] Kryſtall die Stoffe um einen Mittelpunkt bindet, um das ſo entſtandene Gebilde todt liegen zu laſſen, ſondern in einem fortdauernden, durch ein Ganzes von Organen vermittelten Prozeſſe das vorher frei Irrende, die Potenzen der unorganiſchen Natur, in ſich hereinnimmt, zu einem Innern macht, umwandelt und daraus eben ſich ſelbſt und dieſelben Organe, welche fortdauernd den Prozeß erneuern, bildet, in ſteter Verzehrung ſtets neu bildet und aus der reifen Fülle ſeines Ganzen neue Individuen ſelbſtändig erzeugt: denn mit dem organiſchen Leben iſt auch die innere Entgegenſetzung in Individuen verſchiedenen Geſchlechts oder in die Organe der Geſchlechtsdifferenz an Einem Individuum da, womit die Erhaltung der Art durch Zeugung neuer Individuen ihr ſelbſt übergeben iſt. Dieß Alles wäre jedoch noch nicht derſelbe unendliche Fortſchritt für das äſthetiſche Gebiet, wie er es für das naturwiſſenſchaftliche iſt, wenn es nicht auch in die Augen träte. Nun iſt zwar die ſaugende Wurzel dem Auge ver- borgen (denn von den ſogenannten Luftwurzeln kann als einer Seltſamkeit hier nicht die Rede werden), aber ſchon dem Stamme ſieht man an, daß er die Krone des ganzen Gebildes dem Lichte und der Luft entgegenzu- heben beſtimmt iſt. Seine vermittelnde Bedeutung als Saftleiter verbirgt zwar bei den baumartigen Pflanzen die Rinde und ſtellt dieſen holzigen Theil als denjenigen dar, der am meiſten noch an Unorganiſches erinnert, aber die ſtrebenden Bildungen der Zweige und Aeſte und die ſaftig durch- ſichtige Färbung der Blätter ſagen dem Auge, daß auch dort geheimes Leben ſein muß, dasſelbe Saftleben, das dem Ganzen jenen feuchten, treibenden, friſchen, thauigen, dünſtenden Charakter der Pflanze gibt. Zweige und Blätter insbeſondere laſſen in ihrem zarteren, durchſcheinenden Gewebe ſchon unmittelbarer das Weſen der Pflanze als eines Zellen- und Röhrengebildes für circulirende Säfte erkennen. Daß die Blätter weſentlich athmende Organe ſind, erkennt freilich im ſtrengeren Sinne nur der Botaniker, der ihre Spaltenöffnungen unterſucht hat, aber ihr ewig bewegter Verkehr mit Licht und Luft läßt doch auch bei der unmittelbaren Anſchauung eine ſolche Bedeutung ahnen. So haben alſo die bisher dargeſtellten Elemente der Landſchaft ihren zuſammenfaſſenden Mittelpunkt, in den ſie eingehen, ſo zu ſagen ihr Punktum, ihren letzten Druck gefunden und daher iſt es auch, — wovon weiter die Rede ſein muß —, die Pflanzenwelt, welche der Landſchaft erſt ihre ganze Phyſiognomie gibt. §. 271. Dieſe Bedeutung des Organiſchen als einer ſelbſtthätigen, die unorganiſche Natur in ihr Eigenthum verwandelnden und daraus ihr gegliedertes Gebilde bauenden Einheit iſt jedoch in der Pflanze nur auf die erſte und dürftigſte

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/92>, abgerufen am 21.11.2024.