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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Weise verwirklicht. Die Pflanze ist an den Boden gefesselt, nur ihre flüssigen
Theile bewegen sich, nicht sie als Ganzes. In dem ununterbrochenen Ge-
schäfte des Ernährungs- und Zeugungsprozesses, welches sie mit strenger
Nothwendigkeit an die unorganische Natur bindet, erübrigt sie nichts, um sich
diese und eine weitere Umgebung noch auf andere Weise zum Objecte zu machen,
und kann in dieser Beschränkung ebensowenig sich selbst Object seyn. Um so2
mehr erscheint sie zwar als ein Bild saftiger und ursprünglicher Gesundheit
und Leben braucht ihr nicht erst geliehen zu werden, aber ihr fehlt die Seele.
Indem ihr nun diese untergelegt wird und doch Gebundenheit an die unorganische
Substanz ohne Gefühl und Bewußtsein ihr Wesen ist, so erscheint sie geheim-
nißvoll und erinnert an dunkle Zustände der menschlichen Seele, an Schlaf
und Traum.

1. "Die Pflanze hat nicht einen Mund, sie ist ganz Mund", sagt
Herder (Ideen z. Philos. d. Gesch. d. Menschheit Th. 1, Buch 3, I.),
"sie saugt mit Wurzeln, Blättern und Röhren; sie liegt noch, wie ein
unentwickeltes Kind, in ihrer Mutter Schooß und an ihren Brüsten." Es
ist richtiger, sie mit dem im Mutterleibe noch zurückgehaltenen Fötus,
als mit dem Säugling zu vergleichen; denn dieser nährt sich durch ein
einzelnes bestimmtes Organ und nicht immer, jener aber ununterbrochen
und ohne Aufnahme der Nahrung durch selbstthätigen Act eines besondern
Organs. Die Pflanze ist daher der unorganischen Natur ebensosehr ganz
verschrieben, als sie dieselbe in ihr Eigenthum umwandelt. Nur auf die
Eine Weise wird ihr jene zum Objecte und nur jene. Der §. spricht
von einer "weiteren Umgebung": dem Thiere wird nicht nur die unor-
ganische Natur, sondern auch die Pflanze, ferner wird ihm seines Gleichen
und in gewissem Sinne der Mensch zum Objecte, und zwar auf mehrfache
Weise. Ein weiterer Hauptprozeß außer der Ernährung und der höchste, zu
dem sie sich erhebt, ist die Fortpflanzung. Die dazu bestimmten Organe
sind die obersten und äußersten, prangen als ihr Höchstes, sie schmückt
ihnen den Blumenkelch "zu einem Salomonischen Brautbett, zu einem
Kelch der Anmuth auch für andere Geschöpfe" (Herder a. a. O. B. 2, II.);
schon bei dem Thiere sind diese Organe, "als schämte sich die Natur ihrer",
durch ihre verborgene Stellung als Werkzeuge eines untergeordneten Prozesses
bezeichnet. Dieser ist nun allerdings höher, als der Ernährungsprozeß,
es ist die bedeutendste Umwandlung und Verwendung des aufgenommenen
Stoffs, die höchste Form eines Anfangs von Emancipation, diese Fähigkeit,
seines Gleichen selbständig zu zeugen, aber bei der Pflanze doch ebenfalls
im engsten Sinne ein Geschäft dunkler Nothwendigkeit. Wie nun die
Pflanze auch hiedurch von der unorganischen Natur nicht zurücktritt, so
vermag sie ebensowenig sich selbst, als Anderes zu vernehmen, sie ist

Vischer's Aesthetik. 2. Band. 6

Weiſe verwirklicht. Die Pflanze iſt an den Boden gefeſſelt, nur ihre flüſſigen
Theile bewegen ſich, nicht ſie als Ganzes. In dem ununterbrochenen Ge-
ſchäfte des Ernährungs- und Zeugungsprozeſſes, welches ſie mit ſtrenger
Nothwendigkeit an die unorganiſche Natur bindet, erübrigt ſie nichts, um ſich
dieſe und eine weitere Umgebung noch auf andere Weiſe zum Objecte zu machen,
und kann in dieſer Beſchränkung ebenſowenig ſich ſelbſt Object ſeyn. Um ſo2
mehr erſcheint ſie zwar als ein Bild ſaftiger und urſprünglicher Geſundheit
und Leben braucht ihr nicht erſt geliehen zu werden, aber ihr fehlt die Seele.
Indem ihr nun dieſe untergelegt wird und doch Gebundenheit an die unorganiſche
Subſtanz ohne Gefühl und Bewußtſein ihr Weſen iſt, ſo erſcheint ſie geheim-
nißvoll und erinnert an dunkle Zuſtände der menſchlichen Seele, an Schlaf
und Traum.

1. „Die Pflanze hat nicht einen Mund, ſie iſt ganz Mund“, ſagt
Herder (Ideen z. Philoſ. d. Geſch. d. Menſchheit Th. 1, Buch 3, I.),
„ſie ſaugt mit Wurzeln, Blättern und Röhren; ſie liegt noch, wie ein
unentwickeltes Kind, in ihrer Mutter Schooß und an ihren Brüſten.“ Es
iſt richtiger, ſie mit dem im Mutterleibe noch zurückgehaltenen Fötus,
als mit dem Säugling zu vergleichen; denn dieſer nährt ſich durch ein
einzelnes beſtimmtes Organ und nicht immer, jener aber ununterbrochen
und ohne Aufnahme der Nahrung durch ſelbſtthätigen Act eines beſondern
Organs. Die Pflanze iſt daher der unorganiſchen Natur ebenſoſehr ganz
verſchrieben, als ſie dieſelbe in ihr Eigenthum umwandelt. Nur auf die
Eine Weiſe wird ihr jene zum Objecte und nur jene. Der §. ſpricht
von einer „weiteren Umgebung“: dem Thiere wird nicht nur die unor-
ganiſche Natur, ſondern auch die Pflanze, ferner wird ihm ſeines Gleichen
und in gewiſſem Sinne der Menſch zum Objecte, und zwar auf mehrfache
Weiſe. Ein weiterer Hauptprozeß außer der Ernährung und der höchſte, zu
dem ſie ſich erhebt, iſt die Fortpflanzung. Die dazu beſtimmten Organe
ſind die oberſten und äußerſten, prangen als ihr Höchſtes, ſie ſchmückt
ihnen den Blumenkelch „zu einem Salomoniſchen Brautbett, zu einem
Kelch der Anmuth auch für andere Geſchöpfe“ (Herder a. a. O. B. 2, II.);
ſchon bei dem Thiere ſind dieſe Organe, „als ſchämte ſich die Natur ihrer“,
durch ihre verborgene Stellung als Werkzeuge eines untergeordneten Prozeſſes
bezeichnet. Dieſer iſt nun allerdings höher, als der Ernährungsprozeß,
es iſt die bedeutendſte Umwandlung und Verwendung des aufgenommenen
Stoffs, die höchſte Form eines Anfangs von Emancipation, dieſe Fähigkeit,
ſeines Gleichen ſelbſtändig zu zeugen, aber bei der Pflanze doch ebenfalls
im engſten Sinne ein Geſchäft dunkler Nothwendigkeit. Wie nun die
Pflanze auch hiedurch von der unorganiſchen Natur nicht zurücktritt, ſo
vermag ſie ebenſowenig ſich ſelbſt, als Anderes zu vernehmen, ſie iſt

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 6
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[81/0093] Weiſe verwirklicht. Die Pflanze iſt an den Boden gefeſſelt, nur ihre flüſſigen Theile bewegen ſich, nicht ſie als Ganzes. In dem ununterbrochenen Ge- ſchäfte des Ernährungs- und Zeugungsprozeſſes, welches ſie mit ſtrenger Nothwendigkeit an die unorganiſche Natur bindet, erübrigt ſie nichts, um ſich dieſe und eine weitere Umgebung noch auf andere Weiſe zum Objecte zu machen, und kann in dieſer Beſchränkung ebenſowenig ſich ſelbſt Object ſeyn. Um ſo mehr erſcheint ſie zwar als ein Bild ſaftiger und urſprünglicher Geſundheit und Leben braucht ihr nicht erſt geliehen zu werden, aber ihr fehlt die Seele. Indem ihr nun dieſe untergelegt wird und doch Gebundenheit an die unorganiſche Subſtanz ohne Gefühl und Bewußtſein ihr Weſen iſt, ſo erſcheint ſie geheim- nißvoll und erinnert an dunkle Zuſtände der menſchlichen Seele, an Schlaf und Traum. 1. „Die Pflanze hat nicht einen Mund, ſie iſt ganz Mund“, ſagt Herder (Ideen z. Philoſ. d. Geſch. d. Menſchheit Th. 1, Buch 3, I.), „ſie ſaugt mit Wurzeln, Blättern und Röhren; ſie liegt noch, wie ein unentwickeltes Kind, in ihrer Mutter Schooß und an ihren Brüſten.“ Es iſt richtiger, ſie mit dem im Mutterleibe noch zurückgehaltenen Fötus, als mit dem Säugling zu vergleichen; denn dieſer nährt ſich durch ein einzelnes beſtimmtes Organ und nicht immer, jener aber ununterbrochen und ohne Aufnahme der Nahrung durch ſelbſtthätigen Act eines beſondern Organs. Die Pflanze iſt daher der unorganiſchen Natur ebenſoſehr ganz verſchrieben, als ſie dieſelbe in ihr Eigenthum umwandelt. Nur auf die Eine Weiſe wird ihr jene zum Objecte und nur jene. Der §. ſpricht von einer „weiteren Umgebung“: dem Thiere wird nicht nur die unor- ganiſche Natur, ſondern auch die Pflanze, ferner wird ihm ſeines Gleichen und in gewiſſem Sinne der Menſch zum Objecte, und zwar auf mehrfache Weiſe. Ein weiterer Hauptprozeß außer der Ernährung und der höchſte, zu dem ſie ſich erhebt, iſt die Fortpflanzung. Die dazu beſtimmten Organe ſind die oberſten und äußerſten, prangen als ihr Höchſtes, ſie ſchmückt ihnen den Blumenkelch „zu einem Salomoniſchen Brautbett, zu einem Kelch der Anmuth auch für andere Geſchöpfe“ (Herder a. a. O. B. 2, II.); ſchon bei dem Thiere ſind dieſe Organe, „als ſchämte ſich die Natur ihrer“, durch ihre verborgene Stellung als Werkzeuge eines untergeordneten Prozeſſes bezeichnet. Dieſer iſt nun allerdings höher, als der Ernährungsprozeß, es iſt die bedeutendſte Umwandlung und Verwendung des aufgenommenen Stoffs, die höchſte Form eines Anfangs von Emancipation, dieſe Fähigkeit, ſeines Gleichen ſelbſtändig zu zeugen, aber bei der Pflanze doch ebenfalls im engſten Sinne ein Geſchäft dunkler Nothwendigkeit. Wie nun die Pflanze auch hiedurch von der unorganiſchen Natur nicht zurücktritt, ſo vermag ſie ebenſowenig ſich ſelbſt, als Anderes zu vernehmen, ſie iſt Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 6

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/93>, abgerufen am 21.11.2024.