selbstlos, in der allgemeinen substantiellen Lebensströmung mitbefaßt, nimmt sich nicht in sich zurück, wird nicht sich selbst Object. Dem Blicke stellt sich dieß vor Allem dadurch dar, daß sie in das Unorganische festgewurzelt zwar ihre flüssigen Theile in stetem Kreislaufe erhält, aber nicht ihre festen, nicht sich als Ganzes zu bewegen vermag.
2. Den alten Völkern wurde die der Pflanze geliehene Seele zu einem mythischen Wesen, man denke an ihre Dryaden, an ihre heiligen Bäume. Das gebildete moderne Bewußtsein mag es, wo auf die Freiheit als ein Gut der Nachdruck gelegt wird, wohl als das Verächtlichste aus- sprechen, blos zu vegetiren, aber müde von den Kämpfen des gegen die Welt und sich selbst gespannten Ich sehnt es sich wohl auch nach dem Dunkel kampfloser Gebundenheit und Naturnothwendigkeit. Es muß aber auch für diese Sehnsucht eine Anknüpfung im Objecte haben. Diese gibt die Pflanze, denn sie lebt; aber auch dieß genügt nicht, wünschenswerth kann dem Gemüthe niemals der Zustand eines seelenlos Lebendigen sein, sondern nur der eines beseelten, aber kampflosen Lebens. Es leiht daher der Pflanze eine Seele, trägt aber auf diese wieder den Zustand bewußt- loser Nothwendigkeit über: es leiht ihr eine stille Kinderseele, ein reines, schönes Gemüth, dem das Gute Instinct ist, oder es vergleicht sie dem Schlaf, dem Traume. Kräftiger, weniger sentimental ist der Eindruck, wo der Mensch im Anblick und im Geruch vorherrschend die frische Trieb- kraft und Lebensluft der Pflanzenwelt genießt; da athmet ihm die Pflanze Gesundheit und Energie.
§. 272.
Die Vergleichung mit dem Menschen liegt um so näher durch die Ver- wandlungen, welche die Pflanze theils überhaupt in den Stadien ihres Keimens, Wachsens, Blühens, ihrer höchsten Kraft, ihres Absterbens, theils vorüber- gehend in dem durch die Jahreszeiten bedingten Wechsel ihres Zustands durch- läuft, wogegen in letzterer Hinsicht die immergrünen Pflanzen als Bürgen der unter der allgemeinen winterlichen Erstarrung fortwirkenden Lebenskraft erscheinen. Sowohl durch diese Veränderungen, als auch durch die verschiedenen Schicksale, denen sie durch die besondern Einwirkungen der Elemente, von denen sie abhängt, ausgesetzt ist, kann dieselbe Pflanze abwechselnd unter den Standpunkt ver- schiedener Grundformen des Schönen treten.
Die unorganische Natur hat keine Lebensschicksale; sie keimt nicht, wächst nicht, verwest nicht. Nur die Formen der Erde lassen sich durch ahnenden Rückschluß auf die Revolutionen, durch welche sie entstanden, wie Zeugen einer Lebensgeschichte des Planeten fassen. Auch dieser Rück- schluß fällt bei der Pflanze weg, man zöge denn hieher den ergreifenden
ſelbſtlos, in der allgemeinen ſubſtantiellen Lebensſtrömung mitbefaßt, nimmt ſich nicht in ſich zurück, wird nicht ſich ſelbſt Object. Dem Blicke ſtellt ſich dieß vor Allem dadurch dar, daß ſie in das Unorganiſche feſtgewurzelt zwar ihre flüſſigen Theile in ſtetem Kreislaufe erhält, aber nicht ihre feſten, nicht ſich als Ganzes zu bewegen vermag.
2. Den alten Völkern wurde die der Pflanze geliehene Seele zu einem mythiſchen Weſen, man denke an ihre Dryaden, an ihre heiligen Bäume. Das gebildete moderne Bewußtſein mag es, wo auf die Freiheit als ein Gut der Nachdruck gelegt wird, wohl als das Verächtlichſte aus- ſprechen, blos zu vegetiren, aber müde von den Kämpfen des gegen die Welt und ſich ſelbſt geſpannten Ich ſehnt es ſich wohl auch nach dem Dunkel kampfloſer Gebundenheit und Naturnothwendigkeit. Es muß aber auch für dieſe Sehnſucht eine Anknüpfung im Objecte haben. Dieſe gibt die Pflanze, denn ſie lebt; aber auch dieß genügt nicht, wünſchenswerth kann dem Gemüthe niemals der Zuſtand eines ſeelenlos Lebendigen ſein, ſondern nur der eines beſeelten, aber kampfloſen Lebens. Es leiht daher der Pflanze eine Seele, trägt aber auf dieſe wieder den Zuſtand bewußt- loſer Nothwendigkeit über: es leiht ihr eine ſtille Kinderſeele, ein reines, ſchönes Gemüth, dem das Gute Inſtinct iſt, oder es vergleicht ſie dem Schlaf, dem Traume. Kräftiger, weniger ſentimental iſt der Eindruck, wo der Menſch im Anblick und im Geruch vorherrſchend die friſche Trieb- kraft und Lebensluft der Pflanzenwelt genießt; da athmet ihm die Pflanze Geſundheit und Energie.
§. 272.
Die Vergleichung mit dem Menſchen liegt um ſo näher durch die Ver- wandlungen, welche die Pflanze theils überhaupt in den Stadien ihres Keimens, Wachſens, Blühens, ihrer höchſten Kraft, ihres Abſterbens, theils vorüber- gehend in dem durch die Jahreszeiten bedingten Wechſel ihres Zuſtands durch- läuft, wogegen in letzterer Hinſicht die immergrünen Pflanzen als Bürgen der unter der allgemeinen winterlichen Erſtarrung fortwirkenden Lebenskraft erſcheinen. Sowohl durch dieſe Veränderungen, als auch durch die verſchiedenen Schickſale, denen ſie durch die beſondern Einwirkungen der Elemente, von denen ſie abhängt, ausgeſetzt iſt, kann dieſelbe Pflanze abwechſelnd unter den Standpunkt ver- ſchiedener Grundformen des Schönen treten.
Die unorganiſche Natur hat keine Lebensſchickſale; ſie keimt nicht, wächst nicht, verwest nicht. Nur die Formen der Erde laſſen ſich durch ahnenden Rückſchluß auf die Revolutionen, durch welche ſie entſtanden, wie Zeugen einer Lebensgeſchichte des Planeten faſſen. Auch dieſer Rück- ſchluß fällt bei der Pflanze weg, man zöge denn hieher den ergreifenden
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ſelbſtlos, in der allgemeinen ſubſtantiellen Lebensſtrömung mitbefaßt, nimmt
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ſich dieß vor Allem dadurch dar, daß ſie in das Unorganiſche feſtgewurzelt
zwar ihre flüſſigen Theile in ſtetem Kreislaufe erhält, aber nicht ihre
feſten, nicht ſich als Ganzes zu bewegen vermag.
2. Den alten Völkern wurde die der Pflanze geliehene Seele zu
einem mythiſchen Weſen, man denke an ihre Dryaden, an ihre heiligen
Bäume. Das gebildete moderne Bewußtſein mag es, wo auf die Freiheit
als ein Gut der Nachdruck gelegt wird, wohl als das Verächtlichſte aus-
ſprechen, blos zu vegetiren, aber müde von den Kämpfen des gegen die
Welt und ſich ſelbſt geſpannten Ich ſehnt es ſich wohl auch nach dem
Dunkel kampfloſer Gebundenheit und Naturnothwendigkeit. Es muß aber
auch für dieſe Sehnſucht eine Anknüpfung im Objecte haben. Dieſe gibt
die Pflanze, denn ſie lebt; aber auch dieß genügt nicht, wünſchenswerth
kann dem Gemüthe niemals der Zuſtand eines ſeelenlos Lebendigen ſein,
ſondern nur der eines beſeelten, aber kampfloſen Lebens. Es leiht daher
der Pflanze eine Seele, trägt aber auf dieſe wieder den Zuſtand bewußt-
loſer Nothwendigkeit über: es leiht ihr eine ſtille Kinderſeele, ein reines,
ſchönes Gemüth, dem das Gute Inſtinct iſt, oder es vergleicht ſie dem
Schlaf, dem Traume. Kräftiger, weniger ſentimental iſt der Eindruck,
wo der Menſch im Anblick und im Geruch vorherrſchend die friſche Trieb-
kraft und Lebensluft der Pflanzenwelt genießt; da athmet ihm die Pflanze
Geſundheit und Energie.
§. 272.
Die Vergleichung mit dem Menſchen liegt um ſo näher durch die Ver-
wandlungen, welche die Pflanze theils überhaupt in den Stadien ihres Keimens,
Wachſens, Blühens, ihrer höchſten Kraft, ihres Abſterbens, theils vorüber-
gehend in dem durch die Jahreszeiten bedingten Wechſel ihres Zuſtands durch-
läuft, wogegen in letzterer Hinſicht die immergrünen Pflanzen als Bürgen der
unter der allgemeinen winterlichen Erſtarrung fortwirkenden Lebenskraft erſcheinen.
Sowohl durch dieſe Veränderungen, als auch durch die verſchiedenen Schickſale,
denen ſie durch die beſondern Einwirkungen der Elemente, von denen ſie abhängt,
ausgeſetzt iſt, kann dieſelbe Pflanze abwechſelnd unter den Standpunkt ver-
ſchiedener Grundformen des Schönen treten.
Die unorganiſche Natur hat keine Lebensſchickſale; ſie keimt nicht,
wächst nicht, verwest nicht. Nur die Formen der Erde laſſen ſich durch
ahnenden Rückſchluß auf die Revolutionen, durch welche ſie entſtanden,
wie Zeugen einer Lebensgeſchichte des Planeten faſſen. Auch dieſer Rück-
ſchluß fällt bei der Pflanze weg, man zöge denn hieher den ergreifenden
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/94>, abgerufen am 16.02.2025.
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